Früher NS-Terror in der Hauptstadt des „Dritten Reiches“. Hinweise auf einige Publikationen zum Thema

Mit der Ernennung des Vorsitzenden der NSDAP Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler begann eine brutale Terrorwelle, deren Ausmaße und dessen Opfer bis heute nahezu unbekannt geblieben sind. 80 Jahre später ist in Berlin in Ausstellungen und Publikationen daran erinnert worden. Bemerkenswert erscheint die weitgehend auf die Berliner Ereignisse beschränkte Aufmerksamkeit. Der frühe NS-Terror ist in mehreren Sonder- beziehungsweise Wechselausstellungen im Rahmen des 2013 von der Stadt Berlin organisierten Themenjahres „Zerstörte Vielfalt – Berlin 1933-1938-1945“ dargestellt worden.

Von Januar bis Oktober 2013 ist die Sonderausstellung der Topographie des Terrors „Berlin 1933. Der Weg in die Diktatur“ zu sehen gewesen. Der Katalog enthält neben den Reden zur Eröffnung der Ausstellung am geschichtsträchtigen 30. Januar 2013 (der Bundeskanzlerin Angela Merkel, des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit und des Historikers Peter Steinbach) mehrere Essays zur nationalsozialistischen Machteroberung und politischen Polizei. Auf fast zweihundert Seiten wird anschließend die Ausstellung präsentiert, die mit zahlreichen Fotografien und Dokumenten die Geschichte der NS-„Machtergreifung“ erzählt. Im – nicht nur optischen – Zentrum der Ausstellung befinden sich die „Opfer des NS-Terrors in Berlin“ mit 29 biografischen Porträts: von „A“ wie Max Alsberg (Strafverteidiger) bis „W“ wie Emil Winkler (Polizeigewerkschaftsfunktionär). Insgesamt werden die Namen von fast einhundert NS-Opfern mit den wenigen noch auffindbaren Daten aufgelistet.[1]

Das andere Beispiel ist die am 19. Juli 2013 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin eröffnete Wanderausstellung „Warum schweigt die Welt?!“ Häftlinge im Berliner Konzentrationslager Columbia-Haus 1933 bis 1936. Einer der Häftlinge ist Berthold Jacob, der in der von ihm im Pariser Exil 1936 herausgegebenen gleichnamigen Schrift seine Haft im Columbia-Haus detailliert beschreibt und fragt: „Warum schweigt die Welt?“ Kuratiert wurde die Ausstellung von der Politologin Karoline Georg, dem Historiker Kurt Schilde und dem Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Johannes Tuchel.[2]

Ausstellung und Begleitpublikation informieren über die immer noch weitgehend unbekannt gebliebene Geschichte des Gestapo-Gefängnisses und späteren Berliner Konzentrationslagers. Die im Sommer 1933 installierte Haftanstalt Columbia-Haus stand unter Aufsicht der SS. Ab 1935 diente sie als Konzentrationslager und Ausbildungszentrum für viele spätere KZ-Kommandanten. Nach der Schließung im November 1936 ist der Gebäudekomplex im Zuge der Neubauarbeiten für den – inzwischen geschlossenen – Flughafen Tempelhof 1938 abgerissen worden. Es gibt keine auffindbaren Spuren mehr. Ein Denkmal am Columbiadamm weist auf die dort verübten Verbrechen hin.

Neben Informationen zur Entstehung des Lagers, zu den Wachmannschaften, den Haftbedingungen und dem Häftlingsalltag werden etwa dreißig ausgewählte Biografien vorgestellt. Von den dort inhaftierten etwa 8.000 Personen – Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Juden, Geistliche, Andersdenkende und Homosexuelle – werden etwa dreißig Lebenswege beispielhaft portraitiert. Darunter befinden sich Prominente wie der spätere Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Hans Böckler oder John Schehr, der Nachfolger des verhafteten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, aber auch viele bis heute unbekannt gebliebene Männer. Dazu gehören drei im November 1933 ermordete Kommunisten: Erich Tornseifer (politischer Leiter der KPD in Berlin-Moabit) und Karl Vesper (Bezirksvorsitzender des kommunistischen Bundes der Opfer des Krieges und der Arbeit). Mit dem am 20. November umgebrachten Michael Kazmierczak (Reichskurierleiter der KPD) und vier weiteren Parteifunktionären am 1. Februar 1934 hat der kommunistische Widerstand eine wichtige personelle Basis verloren: Der erwähnte John Schehr ist seit der Festnahme von Ernst Thälmann dessen Nachfolger als Vorsitzender der in den Untergrund gedrängten KPD gewesen. Sein Mitarbeiter Eugen Schönhaar gehörte der illegalen Reichsleitung der KPD an. Rudolf Schwarz war Mitarbeiter des Zentralkomitees und Leiter des Abwehrapparates der KPD und Erich Steinfurth langjähriger Bezirksvorsitzender der Roten Hilfe Berlin-Brandenburg und Mitglied des Zentralvorstandes der Roten Hilfe Deutschlands.

Die Wanderausstellung und die Begleitpublikation ermöglichen einen individuellen Zugang zu Leben und Leiden der jeweiligen Verfolgtengruppe und stellen das Columbia-Haus als wichtiges Instrument der frühen politischen Verfolgung in der Reichshauptstadt Berlin heraus. Daneben ist in Berlin an zwei weiteren Orten des frühen NS-Terrors die Erinnerungsarbeit fortgesetzt worden. Zwischen März und Dezember 1933 hat in Berlin-Tempelhof ein SA-Gefängnis existiert. Hier sind noch viele authentische Spuren wie Wandinschriften von Häftlingen aufzufinden. Die neu konzipierte Dauerausstellung ist ebenfalls im Rahmen des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt – Berlin 1933-1938-1945“ eröffnet worden.[3]

In diesem Zusammenhang steht auch eine Ausstellung zur Erinnerung an die am 21. Juni 1933 von SA-Männern veranstalteten Gewaltexzesse in Berlin-Köpenick, die unter dem Namen „Köpenicker Blutwoche“ in die Geschichte des NS-Terrors eingegangen sind. Als Begleitpublikation ist ein von Stefan Hördler herausgegebener Band erschienen.[4]

Den aktuell wohl besten Überblick über den frühen NS-Terror geben die „Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA)“ – so der Untertitel des von Yves Müller und Reiner Zilkenat 2013 herausgegebenen Sammelbandes „Bürgerkriegsarmee“[5]. In sechs Kapiteln informieren 22 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – das Fachgebiet der meisten ist die deutsche Zeitgeschichte – über die Entwicklung der SA von den frühen Anfängen nach dem Ersten Weltkrieg bis zur „SA-Nostalgie“ in neonazistischen Kameradschaften. Die fundierte Einführung der Herausgeber gibt einen ersten Überblick über das Thema „SA und politische Gewalt“ zwischen 1923 – als die SA „ein bedeutendes Kontingent beim missglückten Hitler-Ludendorff-Putsch“ bildete – bis zur NS-Machtübernahme 1933. Nach dieser „Kampfzeit“ haben sich Inhalt und Habitus der Parteiarmee gewandelt: „An die Stelle von Straßenkämpfen und Saalschlachten trat nunmehr der nach festen Regeln zu vollziehende ‚Dienst’ innerhalb der Stürme.“ Die Unterordnung der Parteiarmee unter die Parteistrukturen lief nicht ohne Friktionen ab. Nach den Morden – nicht nur – an ihren Führern 1934 ist die SA, abgesehen von der Beteiligung an den antijüdischen Pogromen im November 1938, nahezu bedeutungslos gewesen.

Die Geschichte dieser Bürgerkriegsarmee vor 1933 in Berlin wird unter verschiedenen Aspekten behandelt. Johannes Fülberth beschreibt, „wie stark die SA-Männer den Ersten Weltkrieg als Bürgerkrieg nachinszenierten“ und der Mitherausgeber Reiner Zilkenat geht auf Vorgeschichte, Ablauf und Folgen der „Kurfürstendammkrawalle“ am 12. September 1931 ein. Wie sich die Jugend 1932 auf den „Kampfplätzen des untergehenden Berlin“ ‚tummelte’, beschreibt Andreas Petersen. Abschließend werden von Jan Kunicki und Oliver Reschke der SA-Totenkult und die soziale Zusammensetzung von SA und Rotem Frontkämpferbund vergleichend thematisiert.

Der NS-Terror in der „Machtsicherungsphase“ ist zunächst das Thema von Irene von Götz, die auf frühe Konzentrationslager in Berlin eingeht. Die Studie von Kurt Schilde über „Todesopfer des NS-Terrors 1933/34 in Berlin im Spiegel der Braun-Bücher“ basiert wesentlich auf Publikationen von aus Deutschland geflohenen NS-Gegnern. Als Ergänzung dazu hat Matthias Heisig am Beispiel der SA-Feldpolizei und ihres Berliner Gefängnisses den historischen Ort und die geschichtliche Aufarbeitung behandelt. Von Iris Helbing und dem Mit-Herausgeber Yves Müller wird auf die Opfer und Täter der bereits erwähnten „Köpenicker Blutwoche“ eingegangen.

Wie gering die Ergebnisse der bisherigen Forschungen sind, zeigen auch drei weitere Studien, in denen die SA in Bezug zum deutschnationalen „Stahlhelm“ („Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“), der staatlichen Polizei und der SS am Beispiel der „Stennes-Revolten“ 1930/31 gesetzt wird.

Die Geschichte von Männlichkeit bildet die Klammer zwischen vier Studien über die Selbstdarstellungen früher SA-Männer, den männlichen Habitus im Männerbund SA, Wehrsport und abschließend Homosexualität in der SA. Hier hat sich Alexander Zinn mit der Genese des Stereotyps vom schwulen Nazi auseinandergesetzt. Abschließend geht es um die Rolle der „Blutzeugen der Bewegung“ und die SA-Nostalgie der postmodernen Nazis „Autonome Nationalisten“. Eine umfangreiche Bibliografie – ergänzend zu den Literaturangaben am Ende jedes Beitrages – schließt den Band ab.

Die hier beschriebene Erinnerung an die Opfer des frühen NS-Terrors hat sich auf Berlin konzentriert. Aber natürlich fand politische Gewalt auch in anderen Regionen des Deutschen Reiches statt. So wurde der Leiter der militärpolitischen Abteilung des Bezirks Wasserkante (Hamburg) der KPD Friedrich Lux durch schwere Misshandlungen am 6. November 1933 im Konzentrationslager Fuhlsbüttel ermordet. Der KPD-Reichstagsabgeordnete Albert Funk hat sich am 27. April 1933 in Recklinghausen aus dem 3. Stock des Polizeipräsidiums gestürzt und der bayerische Kommunist und Mitglied des Reichstags Franz Stenzer ist am 22. August 1933 in Dachau angeblich „auf der Flucht erschossen“ worden.[6] In Hamburg bildete die Trauerfeier für den am 11. Mai 1933 ums Leben gekommenen Reichstagsabgeordneten der SPD Adolf Biedermann eine stille Demonstration gegen die NS-Herrschaft.[7] Nach der Ermordung des Staßfurter Bürgermeisters und Abgeordneten des Preußischen Landtags Hermann Kasten im Februar 1933 entwickelt sich die Beisetzung am 8. Februar in Schönebeck (Regierungsbezirk Magdeburg, Provinz Sachsen) zu einer stummen Widerstandsdemonstration.[8] Auch die Beisetzung des in Offenbach am 5. März 1933 an Schussverletzungen verstorbenen Reichsbannerangehörigen Christian Pleß auf dem Alten Friedhof ist zu einer großen Protestkundgebung geworden.[9]

Das Fazit ist trotz dieser verdienstvollen Publikationen leider wenig positiv: Wenn der frühe NS-Terror zu „runden“ Jahrestagen so wenig Interesse findet, besteht die Gefahr, dass er bald völlig vergessen wird.

Anmerkungen:

[1] Berlin 1933. Der Weg in die Diktatur / The Path to Dictatorship. Ausstellung zum Themenjahr „Zerstörte Vielfalt, 31. Januar – 13 Oktober 2013 / Exhibition for the themeyear „Diversity Distroyed“, January 31 – October 13, 2013. Hgg. von der Stiftung Topographie des Terrors / Published by Topography of Terror Foundation. Berlin 2013

[2] Karoline Georg/Kurt Schilde/Johannes Tuchel: „Warum schweigt die Welt?“ / „Why ist the world still silent?“. Häftlinge im Berliner Konzentrationslager Columbia-Haus 1933 bis 1936 / Prisoners in Berlin’s Columbia-Haus Concentration Camp, 1933 to 1936. Eine Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand / An exhibition by the German Resistance Memorial Center. Berlin 2013

[3] Irene von Götz/Petra Zwaka (Hg.): SA-Gefängnis Papestraße. Ein frühes Konzentrationslager in Berlin. Berlin 2013.

[4] Stefan Hördler (Hg.): SA-Terror als Herrschaftssicherung. „Köpenicker Blutwoche“ und öffentliche Gewalt im Nationalsozialismus. Metropol Verlag, Berlin 2013. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19080 (Zugriff am 4.4.2014)

[5] Yves Müller/Reiner Zilkenat (Hg.): Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA). Frankfurt am Main 2013.

[6] Die Kurzbiografien der Genannten sind enthalten in Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. Überarbeitete und stark erweiterte Auflage. Berlin 2008, S. 276 f. (Funk), S. 563 f. (Lux) und S. 899 f. (Stenzer). Ich danke Andreas Herbst herzlich für die Hinweise.

[7] Christel Oldenburg/Holger Martens/Walter Tormin/Meik Woyke (Redaktion): Für Freiheit und Demokratie. Hamburger Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Verfolgung und Widerstand 1933 – 1945. Hgg. von der SPD Landesorganisation Hamburg, Arbeitskreis Geschichte und Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten. Hamburg 2003, S. 27 f.

[8] Petra Grimm-Benne: Hermann Kasten – Erster Bürgermeister der Stadt Staßfurt und Mitglied des Preußischen Landtages, in: SPD-Geschichte in Sachsen-Anhalt: Anfänge, Widerstand, Neuaufbau. (= Beiträge zur Geschichte der Sozialdemokratie in Sachsen-Anhalt, Heft 4). Magdeburg 2008, S. 18-31.

[9] Jürgen W. Fritz: Die beginnende Nazi-Diktatur und der Mord an Christian Pleß in Offenbach am Main. Hgg. von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Ortsverein Offenbach-Mitte. Frankfurt am Main 1984.

Kurt Schilde