Ein neuer Wenderoman?

Madeleine Prahs erzählt in ihrem Debüt-Roman „Nachbarn“ vom Untergang der DDR

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nachbarn“ ist das literarische Debüt der gebürtigen Karl-Marx-Städterin (Chemnitz) Madeleine Prahs, die heute in Leipzig lebt und arbeitet. In ihrem Roman schildert sie die Lebenswege von sechs Protagonisten, deren Schicksal von der deutschen Geschichte vor und nach dem Mauerfall von 1989 geprägt wird.

Da ist erstens die Dreiecksgeschichte, die im geteilten Deutschland beginnt und dann ihre Fortsetzung im wiedervereinigten Land hat. Hans (später Kunsthistoriker) und Matthias (später Architekt) sind Studienfreunde in der DDR – beide lieben sie die Bibliothekarin Hanna. Hans hat jedoch bei ihr mit seinem Charme die größeren Chancen. Doch das genügt dem Charmeur nicht: Die DDR engt ihn in seiner beruflichen und persönlichen Entfaltung ein, und so nutzt er einen Rom-Besuch, um sich in die BRD abzusetzen. Nun leben Hanna und Matthias für ihn unerreichbar hinter der Mauer. Jetzt sieht Matthias seine Chancen gestiegen, doch dann fällt im November 1989 die Mauer und würfelt die Beziehungen und die Rivalität wieder neu durcheinander. Die Erinnerungen an das Land, in dem sie einst gelebt hatten und von dem sie glaubten, dass es das ihre werden könnte, werden nun auch durch das Auftauchen von Stasi-Akten relativiert.

Der andere Handlungsstrang erzählt von Anne, die sich schon als Kind nach dem Westen sehnte. Kurz vor dem Mauerfall gelingt ihr auch die Flucht. Sie will zu ihrem Vater nach Westberlin. Doch es wird eine Enttäuschung. Inzwischen ist Anne erwachsen, hat selbst eine Tochter, die kleine Marie, und schlägt sich als Altenpflegerin und alleinerziehende Mutter durch das Leben. Dabei lernt sie den Rentner Karl kennen, den sie betreut. Nach dem Tod seiner Frau ist er immer halsstarriger geworden und versteht die Welt nicht mehr. Ausgerechnet bei diesem Dickschädel muss die überforderte Anne notgedrungen ihre kleine Marie für einige Nachmittage lassen. Diese Stunden ändern nicht nur den alten Querkopf sondern auch das Mädchen.

Die Autorin verknüpft die einzelnen Lebensepisoden ihrer Figuren, ihre Erlebnisse, Träume und Enttäuschungen, zu einem bemerkenswerten Panorama deutscher Alltagsgeschichte. „Sie alle hatten ihre Geschichte gehabt, Siege und Niederlagen.“ Die zahlreichen kurzen Kapitel tragen mitunter kuriose Titel wie „Das sind doch alles kleine Schlampen“, „Blitzkrieg“ oder „Winterschlussverkauf I und II“. Dabei sind die Jahre 1989 und 1994 sowie 2001 und 2006 die historischen Eckpfeiler ihres Romans, sozusagen jeweils ein Fünfjahresschritt. Über das zukünftige Schicksal der Protagonisten kann man am Ende nur spekulieren. Ob es ein weiterer Wende-Roman ist, muss jeder Leser selbst entscheiden. Auf jeden Fall ist es ein beachtenswertes Gegenwartsbuch und eine empfehlenswerte Lektüre.

Titelbild

Madeleine Prahs: Nachbarn. Roman.
dtv Verlag, München 2014.
352 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783423280365

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