Die sieben Leben eines Stubentigers

Fiona McFarlane über die vermeintlichen Erlebnisse einer Missionarstochter

Von Kevin BerzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kevin Berz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Als wäre ein Leben eine Episode, in der Dinge passieren, dachte Ruth. Wahrscheinlich ist es das auch. Und Dinge passieren tatsächlich, aber dann, in meinem Alter, (…) hören sie auf zu passieren (…).“ Das denkt sich zumindest die Protagonistin aus Fiona McFarlanes Roman Nachts, wenn der Tiger kommt (im englischen Original: The Night Guest) sobald sie auf ihr Leben zurückblickt.

Im Zentrum der Handlungen steht Ruth, eine 75-jährige Witwe, die zu Beginn der Erzählungen alleine in einem Haus am Meer, irgendwo an der Küste Australiens wohnt. Ihre Söhne leben weit entfernt und rufen sie nur sporadisch alle paar Wochen an, um sich über ihr Befinden zu erkundigen. Ganz allein ist sie jedoch dennoch nicht. Sie hat zwei Katzen und ganz unvermittelt nimmt sie eines Nachts die Geräusche und den Geruch eines Tigers in ihrem Haus wahr. Und genau damit fängt alles an. Denn kurz darauf tritt Frida, nach eigener Aussage eine vom Staat geschickte Betreuerin, in Ruths Leben und kümmert sich um sie. Nach anfänglichem Misstrauen, das jedoch nicht lange anhält, genießt Ruth Fridas Anwesenheit und freut sich darüber, jemanden zum Reden zu haben. Immer mehr jedoch nimmt Frida Besitz von dem Haus ein und bevormundet die gutmütige und etwas naive Rentnerin. Ruth steht am Anfang einer Demenz, die zunehmend stärker wird, je länger ihre Betreuerin sich um sie kümmert.

Nachts, wenn der Tiger kommt ist McFarlanes erster Roman, der in mehr als zwölf Sprachen übersetzt wurde. Zuvor veröffentlichte sie bereits Kurzgeschichten in Zeitschriften wie The New Yorker oder Best Australian Stories. Sie lebte und studierte in Australien, promovierte jedoch später an der University of Cambridge in England und war Stipendiatin im Fine Arts Work Center in Provincetown, Massachusetts und im St. John´s College, Cambridge. Sie selbst sagt über ihr Werk, dass es ein sehr privates Projekt war, da beide ihrer Großmütter unter Demenz litten. Sie wollte auf keinen Fall einen Roman schreiben, der auf zu sentimentale Weise auf das Thema Demenz eingeht. Vielmehr hat sie versucht sich in eine Person mit dieser Krankheit hineinzuversetzen und ein Leben aus dieser Perspektive zu schildern.

Der Leser soll verwirrt werden; soll Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden können und somit immer weiter in einen Sog der Irritation hineingezogen werden. Was entspricht der Wahrheit und was findet nur in Ruths Phantasie statt? In alltäglichen Situationen, wie beispielsweise dem Duschen, driftet die Protagonistin immer wieder in ihre Vergangenheit ab. Damals lebte sie mit ihren Eltern auf den Fidschis, da diese als Missionare tätig waren und dort eine Klinik eröffneten. Schlüsselmomente wie der Ball der englischen Königin oder Tage zusammen mit ihren Eltern in der Klinik auf den Fidschis durchlebt Ruth immer wieder. Auch Einblicke in Ruths Leben als Ehefrau und Mutter bleiben dem Leser nicht verwehrt. Auf dem Gipfel ihrer Erkrankung fährt sie ohne einen besonderen Grund mit dem Bus in die nächste Stadt und weiß im ersten Moment gar nicht, wie sie dort hingekommen ist. Sie trifft auf alte Bekannte, deren Namen sie vergessen hat und die sie nach ihren erwachsenen Söhnen fragen, während sie immer darauf antwortet, dass sie „mal sehr groß werden.“

Zum Ende des Buches hin verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart zu einer Einheit und Ruth glaubt sogar, dass sie das, was andere Leute ihr erzählt haben, selbst durchlebt hat.

Natürlich spielt der Tiger auch eine besondere Rolle, da er immer dann in Erscheinung tritt, wenn sich eine schwerwiegende Veränderung ankündigt, begonnen mit dem Erscheinen der mysteriösen Frida.

Doch das ist nur ein Aspekt des Buches. Auch der Prozess des Alterns und die Vereinsamung bilden zentrale Schwerpunkte. So stellt die Ruth eines Tages fest, dass sie „nie wirklich etwas riskiert“ hat und durchlebt Augenblicke des Bedauerns. Sie stellt immer wieder fest, dass sie ihr Leben in vielen Punkten anders leben wollte, sich jedoch nicht getraut hat. „Ich habe immer gedacht, ich würde eine dieser alten Damen werden, die immer von morgens bis abends beschäftigt sind. (…) Ich kam hierher und habe irgendwie – einfach aufgehört.“

Um sich die Zeit zu vertreiben, entwickelt sie häufig kleine Gedankenspiele. „Wenn ich es (ihr Adressbuch) finde, bevor die Wanne überläuft, dachte sie, wird Richards Adresse drinstehen.“ Tabuthemen wie Sex im Alter werden keinesfalls ausgelassen. So lädt Ruth einen alten Freund von Fidschi zu sich ein und kann Fridas Gedanken dabei völlig klar lesen, nämlich, „dass sie alt waren, älter als alt, und dass sie vielleicht noch zu einer süßen, drolligen Romanze fähig waren, jeder körperliche Aspekt aber für sie beide vorüber war.“ Auch Ruth ist sich in diesem Punkt unsicher.

Doch leider bietet McFarlanes Debutwerk einige Angriffspunkte. So ist es schwer nachzuvollziehen, dass Frida, die aus dem Nichts aufzutauchen vermag, von allen ohne größeres Misstrauen akzeptiert wird. Daneben ist der Handlungsverlauf immer sehr vorhersehbar und zieht sich an einigen Punkten etwas in die Länge. Manche Formulierungen der Autorin wirken geradezu plump und fantasielos oder sind schlicht und ergreifend unlogisch. So trocknet Frida Ruths Füße mit einem „gründlichen Handtuch“ ab oder Ruth lässt sich Wasser in eine „laute Badewanne“ ein. Auch die Beschreibung der wütenden Frida verleitet den Leser eher dazu zu schmunzeln. „Sie war riesig. Sie schien aus dem Ozean aufgetaucht zu sein, aufgebläht von Strömungen und Gezeiten, zornig und blau. Sie schien kein Ende zu nehmen. Ihre Haare hatten sich irgendeiner chaotischen Kraft unterworfen und standen nun wild, ungekämmt, von ihrem Kopf ab (…). Sie trugen zum Eindruck göttlichen Zorns bei.“

Diese Textstelle wirkt eher, als wäre sie von Disney´s Ariel entnommen worden und Ursula die Riesenkrake steht nun kurz davor die königliche Schiffsflotte zu zerstören. Ihr armen Seelen in Not!

Abgesehen von diesen literarischen Fehlpässen, von denen die meisten hier bereits aufgezählt sind, ist dieses Werk prinzipiell nicht von vornherein abzulehnen. Wenn man sich für dieses Thema interessiert, bietet der Roman eine alternative Herangehensweise und Perspektive. McFarlane beweist ihre schriftstellerischen Fähigkeiten bei der Beschreibung der Schauplätze und der Charakterisierung ihrer Figuren und legt dabei sehr großen Wert auf Details. Themen wie Demenz, Vereinsamung, Entmündigung und das Altern generell werden von der Autorin mit emphatischem Geschick aufgegriffen und dem Leser auf eine Art und Weise nähergebracht, die man so vorher selten gelesen hat. Gerade Lesern in Deutschland, vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Gesellschaft, werden Einblicke gewährt, die zum Nachdenken veranlassen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Fiona McFarlane: Nachts, wenn der Tiger kommt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen Brigitte Walitzek.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014.
336 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046079

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