Von Esskaas und Exlepäng

In Lutz Seilers erstem Roman „Kruso“ wird die kleine Insel Hiddensee zum utopischen Ort verwirklichter innerer Freiheit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lutz Seiler kennt man bisher vor allem als Lyriker. Jetzt hat der in Gera geborene Autor seinen ersten Roman geschrieben. Er spielt auf Hiddensee in den letzten Monaten der DDR. Randvoll mit literarischen Verweisen, erzählt „Kruso“ die Geschichte einer Gruppe von Aussteigern auf der Suche nach der großen Freiheit und dem richtigen Leben jenseits des vom Staatssozialismus Verordneten.

In der Ausflugsgaststätte „Zum Klausner“, in der Seiler selbst als Abwäscher gearbeitet hat, haben die zwölf Männer und Frauen eine neue Heimat gefunden. Angeführt werden sie von Alexander Krusowitsch, kurz „Kruso“ genannt. Nicht unähnlich dem fernab der Heimat auf einer menschenleeren Insel gestrandeten Helden Daniel Defoes hat der Mann begonnen, hier eine utopische Gemeinschaft aufzubauen. Die lebt nach anderen Regeln und besitzt andere Ideale als die auf dem Festland ihr letztes DDR-Jahr absolvierenden Männer und Frauen, die nach Hiddensee nur als Tagestouristen kommen und nicht ahnen, dass sie sich hier praktisch an einem aus allen konkret-historischen Bezügen herausgelösten Ort befinden. Für Kruso und die Seinen stellt die kleine Insel nämlich eine Art freie Zone dar, in der die üblichen Spielregeln außer Kraft gesetzt sind. Ein Territorium mit ganz eigenen Gesetzen, weit entfernt vom Festland und seinen Problemen.

Sobald in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur jene Zeit thematisiert wird, in der nach gut vierzig Jahren der staatlichen Trennung die friedliche Revolution im Osten des Landes das Ende des durch Mauern und Stacheldraht nach innen und außen gesicherten Sozialismus-Experiments einläutete, taucht der Begriff des „Wenderomans“ auf. Es ist zu erwarten, dass er auch jetzt wieder in Bezug auf das vorliegende Buch strapaziert werden wird. Dabei ist „Kruso“ genauso wenig ein „Wenderoman“ wie die vorher dazu ausgerufenen Romane „Der Turm“ von Uwe Tellkamp und „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge.

Letztgenannte Bücher verbleiben mit ihrer Handlung nämlich beide bis zum letzten Punkt – bei Tellkamp ist es ein Doppelpunkt, den der Autor zwischen das alte und das neue Leben gestellt hat – in der Zeit vor der so genannten Wende. Hier vollzieht sich der Abstieg von Ruges Familie Umnitzer über drei Generationen von überzeugten Sozialisten zu desillusionierten Realisten. Und hier ticken auch die Uhren im Dresdner Intellektuellenmilieu des Uwe Tellkamp. Vielleicht darf man in dieser Beschränkung auf eine – bei Tellkamp fast archäologisch anmutende – Suche nach den Ursachen für das Scheitern nicht nur eines Landes, sondern eines ganzen Weltentwurfs samt seiner dilettantischen Umsetzung, sogar den Grund vermuten, der sowohl den einen als auch den anderen Roman letztlich bis ganz hinauf aufs Siegerpodest im Rennen um den Deutschen Buchpreis 2008 und 2011 führte. Für Seilers „Kruso“ wäre das in diesem Jahr jedenfalls kein schlechtes Omen.

Denn die Aussteiger rund um den Sohn eines russischen Generals und seiner im Zirkus verunglückten Frau stehen dem Land, zu dem die Insel, auf der sie Unterschlupf gefunden haben, geografisch-politisch gehört, genauso distanziert gegenüber wie dem langsam heraufdämmernden Neuen. Ihre Utopie ist von anderer Art. Flucht schließt sie eher aus statt ein, Freiheit sieht sie weit jenseits derjenigen, die ein uneingeschränkter Konsum anzubieten hat. Kruso hat an die Ostsee bereits einen geliebten Menschen, seine Schwester Sonja, verloren. Um der DDR zu entkommen, hat die den jüngeren Bruder, auf den sie eigentlich aufpassen sollte, einst am Strand zurückgelassen und ist hinausgeschwommen ins Ungewisse – ein ebenso traumatisierendes Erlebnis für den Zurückgebliebenen wie der Unfalltod der Freundin Edgar Bendlers, jenes Mannes, den Alexander Krusowitsch sich zu seinem Freitag erkoren hat.

Bendler, von Seiler mit einigen autobiografischen Zügen ausgestattet, ist auch der Erzähler, mit dessen Sinnen der Leser die Geschehnisse um die „Freie Republik Hiddensee“ aufnimmt. Vom „Land ausgespuckt“, landet er unter den „Esskaas“, den Saisonkräften (SK), die von den Inselgastwirtschaften jeweils über den Sommer beschäftigt werden. Im „Klausner“ nimmt ihn eine Gesellschaft auf, die sich wie die Jünger Jesu um den Guru Kruso geschart zu haben scheint. Indem die Mannschaft dieser „Arche“ während des Aufnahmezeremoniells in Edgar Bendler aber schon Assoziationen an Leonardos Abendmahl – ein Tableau des Abschieds also – weckt, liegt von Anfang an über dem hier gelebten Entwurf einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten etwas Tragisch-Vergebliches.

Und so beginnen sich, je weiter das historische Jahr 1989 fortschreitet, die Reihen der Männer und Frauen zu lichten. Von einem nie schweigenden Kofferradio zunächst sparsam, später dann immer häufiger mit Informationen aus einer Welt versorgt, in der sich Botschaften mit Flüchtlingen füllen, das „Ungarische-Grenze-Rätsel“ immer häufiger kommentiert wird und verschlossene Züge ihre Passagiere über das DDR-Territorium Richtung Westen transportieren, wird ein Getreuer Krusos nach dem anderen fahnenflüchtig. Über Nacht verschwindet man aus dem „Klausner“, nimmt am nächsten Morgen die erste Fähre in ein sich bietendes neues Leben voller Verlockungen. Bis nur noch der delirierende Kruso und sein getreuer Ed übrig sind, als eines Tages ein Panzerkreuzer vor der Insel auftaucht und der russische General seinen verlorenen Sohn endlich heimholt, eine Auferstehungsgeschichte, in der symbolisch auch das Ende einer ganzen Epoche anklingt.

„Kruso“ balanciert äußerst gekonnt auf der Grenze zwischen Fantastik und Realismus. Der Roman erzählt – bis hin zu der Heimholungsszene, mit der der Text endet, bevor ein Epilog die Suche nach den vielen thematisiert, die auf ihrer Flucht in die Freiheit von der Ostsee verschluckt wurden – eine ganze Reihe von unglaublichen Geschichten, gibt jeder einzelnen davon aber mittels vieler kleiner, nachprüfbarer Fakten eine reale Basis. Da ist das Haarwasser „Exlepäng“, nach dem der Direktor des Betriebsferienheims „Zum Klausner“ beständig riecht. Da sind die Stapel von Ausgaben der Geraer SED-Bezirkszeitung „Volkswacht“, die man einst zum Altstoffhandel brachte, um mit dem Erlös seine Solidarität mit Angela Davis oder Luis Corvalán zu bekunden. Da sind die Apfelsinen, die nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker plötzlich in den DDR-Läden auftauchten, ehe sie ebenso schnell wieder daraus verschwanden. Da sind die Helden von Dynamo Dresden aus der fußballverrückten Kindheit des Edgar Bendler oder „Lippi“ (der Showmaster Wolfgang Lippert) und „Quaster“ (Puhdys-Gitarrist Dieter Hertrampf), die plötzlich in den wilden Nächten auf Hiddensee erscheinen.

Aber hat man wirklich Fluchtwillige aus der ganzen DDR aufgenommen und versteckt, nachdem sie an einem regelmäßig stattfindenden, so genannten „Vergabeabend“ unter den Saisonkräften aufgeteilt wurden und zum Teil sogar im Gerhart-Hauptmann-Haus im Bett des großen Dichters schlafen durften? Hat sie existiert, die grässliche „ewige Suppe“, die jeder schlucken musste, der Unterschlupf und Schutz bei den Esskaas suchte? Haben die auf der Insel stationierten Grenzschützer tatsächlich auf in Familienformation schwimmende Wildschweine geschossen in der Annahme, es hier mit besonders abgebrühten Flüchtlingen zu tun zu haben? Und durften die erschossenen Tiere nicht auf den Speisekarten der Insel-Gastwirte landen, weil Flüchtlinge in der DDR eben wie Flüchtlinge zu behandeln waren?

Liest man den Roman als das, was er ist – eine Fantasmagorie auf die späte DDR – stellen sich solche Fragen gar nicht erst. Dann besitzt die „Essenz aus Gastronomie und Poesie“, wie sie unter Krusos Getreuen und den sich ihnen Anvertrauenden gelebt wird, nämlich ihre ganz eigene Wahrheit. Und die geht nicht auf in der Historie der letzten 25 Jahre, sondern lebt aus einem bis heute unerfüllt gebliebenen Freiheitswunsch. Die „Aufgabe des Ostens“ sieht ein angeschlagener, weil von allen verlassener Kruso am Ende des Romans deshalb darin, allen, „die so weit gekommen sind mit ihren Autobahnen, Taktstraßen und Bundestagen, den Weg zur Freiheit zu weisen, diese verlorene Seite ihrer… ihres Daseins.“

Es ist eine Art Vermächtnis der Männer und Frauen von Hiddensee, die ihre Unabhängigkeit leben, das Kruso damit hinterlässt. Doch während es Edgar Bendler im Epilog des Buches – seinem realistischsten Teil – gelingt, die Spuren all jener von der Ostsee verschluckten Freiheitssüchtigen aufzunehmen und sie aus der Vergessenheit zurückzuholen ins Gedächtnis der Lebenden, bleibt Krusos Hoffnung wohl für immer eine Utopie.

Titelbild

Lutz Seiler: Kruso. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
484 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424476

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