Die Aufklärung als Herausforderung der Moderne

Olaf Asbach gibt einen Sammelband über „Europa und die Moderne im langen 18. Jahrhundert“ heraus

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reinhart Koselleck definierte die Aufklärung einst als Begriff, „der ohne jenen geschichtlichen Wandel gar nicht denkbar ist, der durch Aufklärung erst herbeigeführt werden soll.“ In diesem Sinne sei Aufklärung ein „Epochenbegriff und zugleich repetitiv – als dauerhafte Herausforderung.“ Diese Doppelbedeutung trägt nicht zuletzt zur Selbstreflexivität bei, die ein konstitutives Merkmal der Aufklärung ist. Auch die Autoren des von Olaf Asbach herausgegebenen Sammelbandes „Europa und die Moderne im langen 18. Jahrhundert“ begreifen Aufklärung offensichtlich als andauernde Herausforderung.

Sie untersuchen auf unterschiedlichen Feldern, was Europa und die Moderne verbindet – und situieren diese komplexe Frage im 18. Jahrhundert. Was war „europäisch“ an dieser frühen Moderne, und was bedeutete „modern“ im Europa der Aufklärung? Lange Zeit war es eine Selbstverständlichkeit, „Europa“ und „Moderne“ – jeweils im Singular – in eins zu setzen: Der Kontinent verkörperte die Moderne, ebenso wie letztere ihre paradigmatische Ausbildung in Europa fand. Es ist insbesondere den akademischen Vertretern des Postkolonialismus und – jüngeren Datums noch – der Globalgeschichte zu verdanken, dass diese Gleichung hinterfragt und ihre zwei Hauptbestandteile grundlegend problematisiert wurden.

Dass eine Untersuchung beider Begriffe, „Europa“ und „Moderne“, von einer Fokussierung auf das 18. Jahrhundert profitiert, legt Asbach in der Einleitung zum Band überzeugend dar. Nicht nur setzt sich „Europa“ in dieser Zeit als „Kategorie der Selbst- und Fremdwahrnehmung“ durch, auch das Bewusstsein von Modernität gewinnt – etwa durch die lange nachklingende Querelle des anciens et des modernes – in verschiedenen Regionen des Kontinents eine neue Intensität. Es entsteht ein europäisches Staatensystem, das durch ein Ius Publicum Europaeum auch juristisch greifbar wird. Darüber hinaus setzen sich parallel zum Aufstieg der kapitalistischen Ordnung soziale Institutionen und Praktiken durch, die laut Asbach von den Zeitgenossen als spezifisch europäisch aufgefasst wurden und auch das Verhältnis zur außereuropäischen Welt bestimmten. Zwar seien diese Entwicklungen im 18. Jahrhundert nicht gänzlich neuartig, doch erkennt der Historiker sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht eine neue Dimension in den Bestrebungen der Aufklärung, Prinzipien durchzusetzen, die wir noch heute mit der „Moderne“ identifizieren. Von beiden wird heute auch im Plural gesprochen – von Aufklärungen ebenso wie von multiplen Modernen.

Der Band lotet in zwölf Beiträgen das Verhältnis zwischen den drei Variablen Europa, Moderne und Aufklärung aus: Die erste und konzeptuell stärkste Sektion widmet sich in erster Linie begriffsgeschichtlichen Fragestellungen. Christoph Dipper und Sonja Asal distanzieren sich hier jeweils von den emphatischen Zuschreibungen der Aufklärung als Moderne. Ersterer argumentiert, dass die Aufklärer in ihrer Epoche noch nicht die grundsätzliche historische Zäsur erkennen konnten, die im 19. Jahrhundert als Moment radikaler Diskontinuität typisch für das Moderne-Bewusstsein werden sollte.

Asal untersucht anhand von Zeitzeugnissen, was die Zeitgenossen der Aufklärung selbst unter „modern“ verstanden und kommt zu dem Schluss, dass sie – entgegen weitläufiger Annahmen – den Begriff selten auf sich selbst anwendeten. Ihr ebenso ertragreicher wie konziser Beitrag arbeitet heraus, dass „Modernität“ in aller Regel von aufklärungskritischen Zeitgenossen als „disqualifizierende Fremdbeschreibung“ benutzt wurde und keineswegs positiv konnotiert war.

Wolfgang Schmale wiederum zeigt, wie im 18. Jahrhundert Europa als Kulturbegriff entstand, der nicht nur in Abgrenzung von den Alten, sondern auch von den außereuropäischen „Barbaren“ gefasst wird. Daran gewissermaßen anknüpfend plädiert Günther Lottes für die Betrachtung autochthoner Modernen und trägt auf diese Weise zu einer „Ent-Europäisierung des Modernisierungsbegriffs“ bei  – interessanterweise jedoch nicht aus postkolonialer Perspektive, sondern im Einfordern eines interkulturellen Vergleichs.

Die zweite Sektion untersucht an konkreten Figuren und Texten der Aufklärung, inwiefern die Moderne als „ein philosophisches Projekt Europas“ gelten kann. Fania Oz-Salzberger unternimmt dies am Beispiel der intellektuellen Entwürfe des Scottish Enlightenment, während Luc Foisneau den religiösen Aberglauben als das Böse der modernen Gesellschaft bei Pierre Bayle und Thomas Hobbes in Augenschein nimmt. Simone Zurbuchen schließlich widmet sich dem Verhältnis zwischen Europa und der nicht-europäischen Welt anhand der einflussreichen universalistischen Skizzierung einer société générale du genre humain in Emer von Vattels Völkerrecht.

Die dritte Sektion, „Europa und die Moderne zwischen Repräsentation und Konstruktion“, akzentuiert noch einmal die Dialektik von Selbst- und Fremdwahrnehmung und nimmt eine dezidiert interkulturelle Perspektive auf den Bandgegenstand ein: Suraiya Faroqhi schreibt über die Rolle und Wahrnehmung osmanischer Botschafter in Wien, Andrej Doronin über Russlands Selbstkonstruktion als Teil Europas am Beispiel des Reformers Michail Lomonossow und seines Versuchs einer neuen Geschichtsschreibung, und Walter Demel deckt die Ambivalenzen des modernen Denkens auf anhand von Überlegungen zum Phänomen und Begriff des Rassismus in der Schottischen Aufklärung. Michael Wintles Beitrag über visuelle Repräsentationen europäischer Werte anhand von Gemälden, Karten und Fresken – unter ihnen Tiepolos meisterhafte Deckengemälde in der Würzburger Residenz – fällt aufgrund seines Gegenstandes und seiner Methode etwas aus dieser Reihe heraus; aufschlussreich ist jedoch seine Argumentation einer starken Kontinuität bei der ikonographischen Darstellung Europas zwischen 1600 und 1800. Ein modernespezifischer Bruch lässt sich hier für die Aufklärung nicht ausmachen – ebenso wenig wie ihn z.B. Dipper im Denken des 18. Jahrhundert findet. Es ist das Verdienst insbesondere seines Beitrags, den Lesern den normativen Gehalt unseres Aufklärungsbegriffs vor Augen zu führen: Die Einordnung der Aufklärung in die Moderne ist eine im Rückblick vorgenommene Handlung. Dadurch sei das 18. Jahrhundert immer näher an die Gegenwart heran gerückt. Dipper plädiert im Gegenzug dafür, die zeitliche Distanz zur Aufklärung nicht zu unterlaufen.

Fraglos trägt dieser aus einer Hamburger Konferenz hervorgegangene Band zur notwendigen – und seit einigen Jahren verstärkt betriebenen – Dekonstruktion der selbstverständlichen Verknüpfung von „Europa“ und „Moderne“ bei – es ist jedoch eine Dekonstruktion mit Maß, die das Band zwischen beiden lockert, aber nicht zerreißt, es vielmehr auf seine Art und Konsistenz prüft. Methodologisch beweisen die Autoren, dass ein solches Vorhaben auch ohne dezidiert postkoloniale oder globalgeschichtliche Ansätze gelingen kann – was aber nicht heißt, dass eine stärkere Einbindung dieser Strömungen nicht von Gewinn gewesen wäre und insbesondere den theoretischen Zugang zu dem Themenkomplex schärfer konturiert hätte. So ist Jürgen Habermas wohl noch immer darin zustimmen, dass die Moderne als unvollendetes Projekt zu betrachten ist. Was sie für das Europa der Aufklärung bedeutete, verhandelt dieses Buch neu, aber keineswegs abschließend.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Olaf Asbach (Hg.): Europa und die Moderne im langen 18. Jahrhundert.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2014.
291 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783865253590

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch