Die Vorstellungswelt des Mittelalters wird transparent

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz vor der Wende zum 14. Jahrhundert entsteht im mitteldeutschen Sprachraum mit dem sog. „Passional“ das bedeutendste volkssprachige Verslegendar des Mittelalters. Der anonyme Verfasser wertet für seine Grundlagenarbeit vor allem die „Legenda aurea“ aus und überträgt die Heiligengeschichten in eine überaus lebendige, stilistisch höchst anspruchsvolle mittelhochdeutsche Reimsprache. Gegliedert ist sein Monumentalwerk in drei Bücher: Marienleben (I), Heilige des Neuen Testaments (II) und die nachbiblischen Heiligen (III), wobei hier nur die Teile I und II als Neuedition vorliegen, d.h. der Kernbestand einer wohl ersten Arbeitsphase.

Der Erfolg dieses Werkes war überragend. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden unzählige Handschriftenkopien oft in herausragender Qualität angefertigt. Im volkssprachigen Milieu avancierten die Heiligengeschichten zu allgegenwärtigem Basiswissen. Doch so schnell sich sein Ruhm in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbreitete, so schnell war es auch mit den Überlieferungserfolgen wieder vorbei. Nachdem das Monumentalwerk wohl in jeder besseren Büchersammlung und nicht zuletzt in den Bibliotheken des Deutschen Ordens seinen Platz gefunden hatte, brach die Tradierung um 1350/60 völlig unvermittelt ein. Nur noch in sekundärer Form – als Teil umfangreicher Weltchronikkompilationen, Mariensammlungen und als Quelle für „Der Heiligen Leben“, dem erfolgreichsten Prosalegendar des Spätmittelalters, da aber wiederum unglaublich wirkmächtig, – schaffte das „Passional“ den Sprung ins 15. Jahrhundert, ehe es im Zuge der Reformation in Vergessenheit geriet.

So gewaltig Überlieferungsdichte und Wirkung des Werks im Mittelalter war, so bescheiden stellte sich die Editions- und Forschungslage dar. Gearbeitet werden musste bis dato mit der völlig veralteten und unzulänglichen Ausgabe von Hahn (1845). Mit der vorgelegten, in bewährter DTM-Qualität erstellten Neuausgabe liegt nun ein hervorragendes Fundament für die zukünftige Erforschung dieses mittelalterlichen Grundlagenwerks vor. Zumal die Neuausgabe nicht nur einen Editionstext auf Basis aller bekannten Handschriften und Fragmente, sondern zugleich Basisinformationen zu allen Handschriften, zu sprachlichen Spezifika, zu Quellen, zur Rezeption, zur Entstehungsgeschichte und zur die Forschung lange Zeit bestimmenden Deutschordensthese bietet. Diese Deutschordensthese war es denn auch, die dem „Passional“ lange eine größere, aber eben höchst zweifelhafte Aufmerksamkeit garantierte. So wurde das Werk gleichsam als Krönung der literarischen Ambitionen des Ordens gehandelt, doch die neue Ausgabe kann nicht nur keinen einzigen Beleg für eine solche These beibringen, sondern ganz im Gegenteil die Entstehung des „Passionals“ im Deutschen Orden mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen. Was die Herausgeber allerdings plausibel nachweisen konnten ist, dass der Deutsche Orden das Werk sehr früh wahrnahm, für sich vereinnahmte und ein Stückweit den überragenden Publikumserfolg mitprägte.

Mit der neuen „Passional“-Ausgabe ist nun ein Einstieg in die Geisteswelt des mittelalterlichen Menschen kein Problem mehr. Die lebhaft erzählten Heiligengeschichten lassen eine christliche Aura auferstehen, die man sich mit dem waltenden Gott in der Welt als allgegenwärtig vorstellen muss. Die vielfach beigegeben Hilfsmittel rund um Text, Autor und Rezipienten erlauben es darüber hinaus, diese Erkenntnisse in einen – uns heute fernen – christlich-abendländischen Gesamtzusammenhang zu verorten.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeitern der Zeitschrift sowie Angehörigen der eigenen Universität. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Annegret Haase / Martin Schubert / Jürgen Wolf (Hg.): Passional. Buch I: Marienleben.
Deutsche Texte des Mittelalters. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Akademie Verlag, Berlin 2013.
668 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783050050720

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Titelbild

Annegret Haase / Martin Schubert / Jürgen Wolf (Hg.): Passional. Buch II: Apostellegenden.
Deutsche Texte des Mittelalters. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Akademie Verlag, Berlin 2013.
782 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783050052137

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