Nach dem Krieg

Alfred Anderschs „Die Inseln über dem Winde“ präsentiert Erzählungen aus vier Jahrzehnten

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „A) Du musst nicht schreiben. B) Du darfst nichts anderes tun. – Das Übrige ergibt sich von selbst.“ Dieses Motto Raymond Chandlers begleitete den Wahlschweizer Alfred Andersch ein schriftstellerisches Leben lang. Seit er im Tessin lebte, setzte er sich den Vormittag über an seinen Schreibtisch, die Zeit war fest reserviert – aber einem Zwang zur Produktion wollte er sich nicht unterwerfen.

Statt passiv auf Inspiration zu warten, war Andersch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Organisator des literarischen Lebens pragmatisch und initiativ. Gemeinsam mit Hans Werner Richter gab er 1946/1947 die politisch-literarische Zeitschrift „Der Ruf“ heraus. Nachdem die amerikanische Besatzungsmacht das Erscheinen verboten hatte, orientierten sich die beiden anders, richteten ihr Interesse auf die junge deutsche Nachkriegsliteratur und initiierten das erste Treffen der Gruppe 47. Besonders als Rundfunkautor verfolgte Andersch Ziele eines aufklärerischen literarischen Journalismus.

Doch auch von den Ergebnissen einer eher abwartenden Schreibhaltung, bekommt der Leser in dem Erzählband „Die Inseln unter dem Winde“ einen exemplarischen Eindruck. In 20 Kurzgeschichten und autobiografischen Erzählungen zeichnet der Band das literarische Leben des Autors über vier Jahrzehnte nach. Meist entwickelt Andersch eine Erzählung in eher bedächtigem Tempo, lässt den Leser die Figuren in Szenen beobachten, die den Kern ihres Charakters erfassen. Die Erzählung „Liebhaber des Halbschattens“ zeigt einen Mann mittleren Alters beim Warten auf seine alte Mutter, allein in einem Wagen. Es geschieht nichts, die Zeit des Wartens fließt für Lothar Witte dahin, als habe nichts Bedeutung – doch gerade im Rückblick kündet eben dies den unheilvollen Verlauf der Story an. Eine andere Geschichte, „Ein Vormittag am Meer“, verfährt ebenfalls nach dem Modell der unaufgeregten Entwicklung einer Handlung, die für einen der Beteiligten unerwartet tragisch endet. Hier spinnt Andersch seine Geschichte um einen Protagonisten, dem er weit weniger Tiefe als Lothar Witte gönnt, der im Gegenteil in seiner Durchschnittlichkeit unerträglich farblos und langweilig bleibt. Parabelhaft zeichnet der Autor eine Skizze menschlichen Strebens und menschlicher Vergeblichkeit. Das Erzählen fließt dahin, im Vorbeiziehen werden immer wieder gewichtige Themen berührt, um sie wie in der Endlosigkeit des Meeres zu verlieren.

Typisch für Anderschs Geschichten, ob autobiografisch angelegt oder rein fiktiv, ist, dass die Hauptfiguren vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Gelegentlich berühren andere Menschen deren Lebensbahnen. Sie stoßen dabei existenzielle Fragen an, und gelegentlich werden sie zu Lotsen für den späteren Lebensweg. Trotzdem scheint es, als sei jeder so sehr in sich selbst gefangen, dass er sich in der Begegnung mit seinen Mitmenschen nie wahrhaft öffnen kann.

Die Geschichte, die dem Sammelband ihren Namen gegeben hat, stammt aus dem Jahr 1971. Franz Kien, Alter ego des Autors, begleitet einen britischen Kolonialbeamten als Stadtführer durch das München der 1930er-Jahre. Seine Heimatstadt ist fest in der Hand der Nationalsozialisten. Franz, kommunistischer Sympathisant, dessen Freunde teils von den Nazis inhaftiert sind, der Hunger leidet, weil er seit drei Jahren keine Arbeit findet, versucht nicht aufzufallen. Die beiden augenscheinlich ungleichen Männer finden im Gegenüber einen anregenden Gesprächspartner. Nur das Wichtigste kann Franz Kien nicht zur Sprache bringen: den Schrecken der Konzentrationslager und die Angst vor SA und SS. Sir Thomas Wilkins dagegen scheint keine besondere Notiz von den Uniformierten auf der Straße zu nehmen. Vielleicht, so mutmaßt Franz, sympathisiere er sogar mit den deutschen Machthabern; vielleicht hätte Sir Thomas kein Verständnis für ihn, wenn er etwa von seinen Erlebnissen im Dachauer KZ erzählte. Franz erkennt zwar die winzige Chance, in den Lauf der Geschichte einzugreifen und einem einflussreichen Ausländer die Wahrheit über die bedrohliche politische Entwicklung Deutschlands zu berichten. Doch er ergreift sie nicht. Aus lauter Unentschlossenheit hält er den Mund.

Zwischen der erzählten Begegnung und dem Schluss der Geschichte liegt die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Den Mut zur Offenheit findet Franz erst danach. „Die Inseln unter dem Winde“ ist damit die Schlüsselerzählung der Sammlung. In ihr setzt sich Andersch mit seiner eigenen Unfähigkeit auseinander, nach der Dachauer Internierung gegen die politische Entwicklung in Deutschland aufzubegehren. Statt offen die Missstände zu benennen, verstrickt sich der Protagonist in verworrene Was-wäre-wenn-Überlegungen, die ihm den Blick trüben auf da, was eigentlich notwendig wäre und ihn unfähig machen zu handeln. Allerdings schieben sich am Ende der Geschichte die beiden Figuren übereinander, Franz Kien und Sir Thomas Wilkins verschmelzen: Beide erkannten das Unheil, das der Nationalsozialismus über die Welt bringen würde. Beide waren wie gelähmt von der Allgegenwart des sich entfaltenden braunen Terrors. Die politische Lage umfing sie wie die Hitze jener Windward Islands, die Sir Thomas einst verwaltete, und die jegliche Bewegung lähmte.

„Die Inseln unter dem Winde“ gehören ins letzte Jahrzehnt der literarischen Produktivität von Alfred Andersch. Bis ins Alter trieb den Autor die Erinnerung an das „Dritte Reich“ und sein Verhalten als politisch denkender Mensch, Sohn, Bruder, Liebhaber und Schriftsteller, aber auch als Soldat der Wehrmacht um. Wenig überraschend geht es im jüngsten Text des Sammelbands, „Vollkommene Reue“ von 1948, um die Gegenwart im verwüsteten Deutschland. Er erzählt davon, dass nicht nur der Krieg die Humanität bedroht, sondern auch die Not danach. Sogar noch in „Lin aus den Baracken“ von 1979, also ein Jahr vor Anderschs Tod veröffentlicht, geht es um die Zeit des Nationalsozialismus.

Der Band „Die Inseln unter dem Winde“ gewährt dem Leser einen Einblick in die Themen und die literarischen Eigenarten eines der wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegsautoren. Im Spiegel der Sammlung zeigt sich ein Schriftsteller, dessen Leben von frühester Kindheit an durch die Bedrohungen des Nationalsozialismus geprägt wurde. Und es wird ersichtlich, wie diese Erfahrungen den Menschen Alfred Andersch zeit seines Lebens nicht losgelassen haben, wie er den Krieg selbst und seine Auswirkungen auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft und -mentalität aus immer neuen Blickwinkeln beleuchtet. Mit seinen Texten hält er die Erinnerung wach, er legt Rechenschaft über die Unzulänglichkeit des Einzelnen ab und offenbart, wie schwierig es ist, angesichts einer existenziellen Bedrohung seine Würde zu wahren, geschweige denn menschliche Größe zu zeigen. Retter und Helden gibt es in Anderschs Werk nicht.

Der bei Diogenes als Hardcover im Schuber erschienen Erzählband „Die Inseln unter dem Winde und andere Erzählungen“ entstand anlässlich des 100. Geburtstags, den Alfred Andersch am 4. Februar 2014 gefeiert hätte. Zu diesem Jubiläum hat Winfried Stephan, einer der Leiter des Zürcher Verlagshauses, die Anthologie des gebürtigen Münchner Autors zusammengestellt. Der Herausgeber folgt keiner chronologischen Struktur, sondern ordnet die Kurzgeschichten und Erzählungen nach motivischen und thematischen Gesichtspunkten an. Die Texte dokumentieren die gesamte Zeit, in der Andersch als Schriftsteller aktiv war. Exemplarisch zeigen sie Varianten des literarischen Stils, vom Parforce-Stil der „Weltreise auf deutsche Art“ (1949) hin zum träge fließenden „Vormittag am Meer“ (1970). Und sie geben Aufschluss über das experimentelle Interesse des Autors, etwa in der fantastischen Geschichte „Ein Auftrag für Lord Glouster“ (1951) oder dem inhaltlich und formal höchst spannenden Roman-Entwurf „Mein Verschwinden in Providence“ (1971). Herausgeber Winfried Stephan hat freilich auch die Gelegenheit genutzt, dem Publikum Einblick in Anderschs „Die Kirschen der Freiheit“ zu geben. Diese literarische Autobiografie, veröffentlicht 1952, hat vor allem wegen Anderschs Schilderung seiner Desertion aus der deutschen Wehrmacht ein Jahr vor Kriegsende in der Kritik für Aufregung gesorgt. Denn Recherchen in den Archiven haben gezeigt, dass die Fiktion den Erinnerungstext stärker bestimmt als lange angenommen.

Alfred Anderschs allgemeine Bekanntheit verdankt sich seinem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957), der zum Kanon der Schullektüre gehört. Sie begründet einen guten Teil der Aufmerksamkeit, die der Autor anlässlich des aktuellen Geburtstagsjubiläums erhielt. Besonders oft war dabei vom Verhältnis Anderschs zu Max Frisch zu lesen. Die Freundschaft der beiden trübten die Einlassungen, die Frisch in „Tagebuch 1966-1971“ über Andersch machte. Andersch war zutiefst enttäuscht und schrieb: „Jeder Deiner ach so höflichen Sätze enthält eine falsche Nachricht“. Den beiden gelang es nie wieder, ihr Verhältnis zu kitten. Die Neugier des Publikums auf Persönliches und auf das Wagnis, das Frisch mit seiner Veröffentlichung einging, erregt die Aufmerksamkeit. Aber diese Perspektive lenkt ab vom literarischen Ertrag, den Anderschs Werk bereitet – und den auch Frisch nicht in Zweifel zog. Wer also Alfred Anderschs Qualität als Schriftsteller einschätzen will, der lasse Frisch beiseite und greife zu dem kleinen Sammelbändchen „Die Inseln unter dem Winde“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alfred Andersch: Die Inseln unter dem Winde. Erzählungen.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
352 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068658

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