Deutscher Kommunist und nicht-jüdischer Jude

Mirjam Zadoff schreibt in „Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem“ über dessen familiäre und außerfamiliäre Netzwerke

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende November 1937, als Werner Scholem bereits sechseinhalb Jahre aus der deutschen Öffentlichkeit verschwunden war, gewährte ihm das Regime noch einmal einen Auftritt – keinen freiwilligen, zudem in einer Umgebung, gegen die er sich unter anderen Verhältnissen energisch verwahrt hätte. Im Deutschen Museum zu München nämlich wurde ein rassenantisemitisches Spektakel inszeniert: „Der ewige Jude“. Es war der Versuch, verbreitete Vorurteile zu visualisieren und so das nationalsozialistische Phantasma einer unauflöslichen Verquickung von Judentum und Bolschewismus zu bekräftigen. In einer Nische war Scholems Kopf zu sehen, eine Gesichtsmaske, die man ihm im Konzentrationslager Dachau abgenommen hatte. Sie wies jene Merkmale auf, die den Nazis als typisch jüdisch galten: Große Nase, hohe Stirn, abstehende Ohren – Urbild eines Intellektuellen, wie es auch sonst kolportiert wurde. Eine entfernte Verwandte von Scholems Frau entdeckte ihn unter den Exponaten, war allerdings über sein Aussehen erschrocken, denn die Gesichtszüge waren ausgemergelt, verrieten erfahrenes Leid, Ausweglosigkeit und Melancholie.

Werner Scholem ist heute ein weithin Unbekannter. In den ansonsten intensiv gewässerten Gärten der deutschen Erinnerungskultur hat er den ihm gebührenden Platz nicht gefunden oder, wie Mirjam Zadoffs eindringliches Buch nahelegt, ist ihm ein solcher verweigert worden, sei es aus Gedankenlosigkeit, sei es aus ideologischer Verblendung, sei es, dass Scholem in die Narrative der Nachkriegsepochen nicht hineinpasste. Denn er war ein struktureller Dissident, einer, der um seiner Überzeugungen willen aneckte, opponierte, ein Jude, der keiner sein wollte und doch dem Jüdischen auf verwunschene Weise verhaftet blieb, ein Revolutionär, der in der Formation des revolutionären Proletariats – in der kommunistischen Partei – nur eine knapp bemessene Spanne Zeit heimisch werden konnte. Als jene seit Mitte der 1920er-Jahre bolschewisiert und in Moskau vorgestanzten Direktiven unterworfen wurde beziehungsweise sich selbst unterwarf, drängte man ihn als ultralinken Abweichler hinaus. Aus seiner Abneigung gegen Josef Stalin machte er ebenso wenig einen Hehl wie aus seiner Zuneigung für Leo Trotzki. So fand er sich gegen Ende der 1920er-Jahre zwischen allen Stühlen und Fronten, zugehörig weder hier noch dort, isoliert, seine Freunde und Gesinnungsgenossen reduziert auf nur mehr wenige, was wiederum zur Konsequenz hatte, dass er in Phasen existentieller Krisen, sieht man ab von seiner Familie, mehr oder minder auf sich allein gestellt war.

Mirjam Zadoffs Studie beginnt nicht wie andere, die den akademischen Gefilden entspringen, mit länglichen szientifisch aufgeputzten Erörterungen, begrifflichen Absicherungen und Rechtfertigungen. Mit derlei Usancen aus den Setzbaukästen des Doktorandenkolloquiums verschont sie uns. Kein Wort verliert sie über Theorien im allgemeinen, über Sinn und Unsinn der Gattung Biografie, worüber man sich in der Zunft sonst bisweilen die Köpfe schwindelig zu reden pflegt. Nein, sie schreibt einfach eine, vertraut auf die Faszination, die der Protagonist ausstrahlt, auf die Schicksalsschläge, die ihn zu einer modernen Variante des Hiob stempeln, auch auf die Kraft der eigenen Erzählung. Deren Duktus freilich ist keineswegs naiv, und der Leser wird schnell gewahr, dass die Vergegenwärtigung eines fremden Lebens so einfach nicht ist. Denn die Autorin gibt zu bedenken: „Das Schreiben einer Biographie ist, wie jedes historiographische Unterfangen, Mutmaßung und Konstruktion.“ Was mit dieser Einsicht im Hintergrund präsentiert wird, überzeugt mit behutsamer Interpretation, mit Expertise, anregender Kontextualisierung und validen Ergebnissen.

Schon die Abschnitte, die sich als „Vorwort“ ausgeben, wecken unsere Neugier. Betitelt mit „Liebespolitik“ berichten sie von der Hochzeit eines jungen Paares. Ort ist die Industriestadt Linden, unmittelbar benachbart der Bezirks- und Provinzmetropole Hannover. Das Ereignis trägt sich zu am Silvesterabend des Jahres 1917. Da geht der Krieg bereits in das vierte Jahr, die Opfer und Entbehrungen, die er den Menschen auferlegt, sind ins Unermessliche gestiegen, die Januarstreiks von 1918, in denen sich reichsweit Unzufriedenheit und Friedenssehnsucht artikulieren, sind nur noch einen historisch kurzen Hauch entfernt. Die Braut, Emmy Wiechelt, eine Kontoristin, ist kleiner Leute Kind, von Haus aus protestantisch, ein Schlosser und ein Tischler fungieren als Trauzeugen. Der Bräutigam, Werner Scholem, ist der zweiundzwanzigjährige Spross eines wohlsituierten Druckereibesitzers in Berlin, der über die als nicht standesgemäß empfundene Heirat vor Zorn schäumt, unverzüglich sein Testament ändert und den aufmüpfigen Sohn auf den unvermeidlichen Pflichtteil beschränkt. Die Szene, in knappen Linien gestrichelt, stößt uns mitten hinein in die Problematik jüdischer Existenz in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts.

Obwohl der Vater Arthur Scholem ein assimilierter Jude von deutschnationalem Zuschnitt ist, hegt er eine unüberwindbare Abneigung gegen ‚Mischehen‘. Seine Frau Betty urteilt weniger streng, fügt sich zunächst seinem Bannstrahl, ist später aber diejenige, die sich fortwährend bemüht, zerrissene Fäden wieder zu knüpfen und die Familie selbst unter schwierigsten Bedingungen irgendwie beieinander zu halten. 1917 jedoch ist niemand von den Scholems nach Hannover gekommen, Glückwünsche lassen auf sich warten, der jüngere Bruder Gerhard, der mit seiner 1923 erfolgten Auswanderung nach Palästina seinen Vornamen in Gershom verwandeln und an der Hebräischen Universität Jerusalem ein bedeutender Religionshistoriker werden sollte, meldet sich erst Wochen später. Für Werner Scholem war der Entschluss, seine Freundin Emmy zu heiraten, nur ein weiteres Glied in der Kette eines heillosen Streits mit dem Vater. Zugleich bekräftigte er damit unwiderruflich seinen Willen, „alle Schiffe zum Bürgertum“ hinter sich „zu verbrennen“. Mit seiner Frau war er vereint nicht nur durch die Liebe, sondern auch und mindestens ebenso sehr durch gemeinsame linkssozialistische Überzeugungen

Bis zum Ende des Krieges im November 1918 ist Mirjam Zadoffs Buch eine Art Doppelbiografie der Brüder Werner und Gerhard. Das ist zum einen dem Material geschuldet, auf dem die Darstellung fußt: Tagebucheinträge und Briefe aus dem Nachlass Gershom Scholem in der Israelischen Nationalbibliothek sowie denen von Emmy und Werner Scholem im Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover. Zum anderen ist dies Ausdruck einer außerordentlich engen Beziehung, geprägt von intensivem Austausch über ihre Bewegungen bei der Suche nach dem ‚richtigen‘ Weg. Nahe waren sie sich, weil jeder vom anderen glaubte, ihn von den eigenen Visionen überzeugen zu können: Umso heftiger die Enttäuschung, als sie einsehen mussten, dass dies nicht möglich war. Ihre Beziehung war geprägt von Anziehung und Abstoßung. Beide sahen sich als Revolutionäre. Gerhard/Gershom entschied sich für einen in den Tiefen der jüdischen Tradition verankerten Zionismus, Werner für den Sozialismus. In beidem steckte die Utopie einer besseren Ordnung der Welt, die Erwartung, diese mit Wort und Tat antizipieren zu können und Realität werden zu lassen.

Selbst- und Fremdwahrnehmung sind selten identisch. Das zeigte sich besonders deutlich nach der Novemberrevolution, mit der Werner Scholems politische Karriere nicht eigentlich begann, ihn aber doch schnell über Hannover-Linden hinaus- und in die deutsche Öffentlichkeit hineintrug. Er selber sah sich in erster Linie als deutscher Kommunist, der im Einklang mit seiner Partei überzeugt war, dass sich die ‚Judenfrage‘ im Sozialismus, da nur ein ‚Nebenwiderspruch‘, endgültig in Luft auflösen würde. Antisemitische Anwürfe, mit denen er immer wieder konfrontiert war, ignorierte er. Für die Außenwelt, hier und da bis in die Reihen der Arbeiterbewegung hinein, war und blieb er der Jude, für die radikale Rechte der ‚jüdische Schädling‘ und Bolschewist par excellence.

Feindbild und Projektionsfigur war er für viele seiner Zeitgenossen. Der Sozialdemokratie, wo er sein politisches Engagement begonnen hatte, galt er als Abtrünniger, dem Bürgertum, nicht zuletzt dem jüdischen Bürgertum, als Agitator und Fantast. Tatsächlich hatte er ein Talent zu lärmender Attitüde und lärmendem Auftritt. Die Sprache, die er als Abgeordneter im Parlament und als Redakteur in den Parteizeitungen führte, verriet ein erhebliches Maß an autosuggestiver Realitätsverweigerung, verblendet von Revolutionserwartung, ausgeliefert an Jargon und Demagogie. Als Gershom die rhetorischen Ergüsse seines Bruders zu Gesicht bekam, war er entsetzt vom „Trommelfeuer der Phrasen“, das ihm entgegenschlug. Wenn er nichts anderes schreiben könne als „Schieberdeutsch“, solle er es lieber lassen, riet er ihm, was zugleich offenbarte, wie weit der Prozess der Entfremdung zwischen den beiden am Beginn der 1920er-Jahre bereits gediehen war.

Mirjam Zadoff schildert eine zweifache Vertreibung: den Ausschluss aus der stalinistisch werdenden KPD, mit der Scholem seine politische Heimstatt verlor, und die Verbannung aus der deutschen Gesellschaft durch die Nazis, die ihn 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, wegsperrten, zunächst monatelang in Untersuchungshaft hielten, dann, als ihn 1935 das Leipziger Reichsgericht vom Vorwurf des Hochverrats freisprach, sofort in Schutzhaft nahmen. Die Stationen waren die Konzentrationslager Lichtenburg in Prettin an der Elbe, Dachau und Buchenwald, wo er 1942, wie es hieß, bei einem Fluchtversuch erschossen, tatsächlich aber kaltblütig ermordet wurde. Die genauen Umstände sind nicht geklärt, Gerüchte besagten, dass die kommunistischen Lagerkapos, die den Trotzkisten Scholem nicht zu ihren Genossen zählten, das Ihre dazu getan hätten. Beweisen lässt sich das allerdings nicht.

Alle Versuche der Mutter Betty Scholem, den Sohn frei zu bekommen, auch die der Ehefrau Emmy, die mit den Töchtern nach England geflohen war, und die des Bruders Gershom in Jerusalem, waren vergeblich. In diesen Abschnitten weitet sich die Geschichte noch einmal zu einem Porträt der Familie. Nachdem Werner Scholem aus allen politischen Zusammenhängen herausgefallen war, blieb ihm allein die Fürsorge seiner Angehörigen, blieb und bewährte sich das verwandtschaftliche Netzwerk. Seine Biografie, resümiert die Autorin, berge „gleichermaßen eine jüdische wie eine deutsche Erzählung“. Und mehr noch, die Tragik seines Schicksals liege möglicherweise darin, dass er seinem Vater ähnlicher war, als er sich zeitlebens eingestehen mochte: „Denn was dem einen die Assimilation war, galt dem andern die Rebellion, und was beide vereinte, war ihre Treue und Loyalität zu Deutschland, trotz allem.“

Titelbild

Mirjam Zadoff: Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
384 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246225

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