Keine statische Sammlung von Fachwissen, sondern Ausweis der Lebendigkeit eines Fachs

Im Metzler-Verlag ist das erste „Handbuch zur Komparatistik“ erschienen

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die im Metzler-Verlag seit langem erscheinenden Personen-Handbücher sind längst unerlässliche Arbeitsmittel und Werkzeuge der geisteswissenschaftlichen Forschung geworden. Seit einiger Zeit erscheinen nun auch Handbücher, die bestimmte Wissensgebiete oder gar Disziplinen zu erschließen versuchen – die Bandbreite reicht dabei von konkreten Arbeitsgebieten wie im „Handbuch Gattungstheorie“ oder „Handbuch Lyrik“ über Begriffe wie „Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch“ hin zu einzelnen, wirkungsmächtigen Figuren wie zuletzt das „Hamlet Handbuch“ zeigte. All diese Handbücher und ihre gewaltige thematische Vielfalt zeugen von zweierlei: zum einen von der Variabilität und Reichhaltigkeit geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung in Deutschland, zum anderen aber von der Notwendigkeit oder dem Zwang, dem neuerdings auch diese Wissenschaftszweige unterliegen, ein verfügbares ‚Bestandswissen‘ und damit einen Faktenpool, etwas materiell dingfest zu Machendes Fachwissen vorweisen zu können. Denn Handbücher sind nicht nur Bestandsaufnahmen des Wissensstandes, sie sind auch der Maßstab dessen, was innerhalb einer bestimmten Disziplin als Spezialist gewusst werden muss, sie sind belastbarer und vorzeigbarer Beweis dessen, was ein Gebiet an Wissen produziert hat und worauf Vertreter der jeweiligen Disziplin hin befragt werden können. Insofern ist es, im Zuge fortschreitender Standardisierung und Ökonomisierung auch der geisteswissenschaftlichen Studiengänge, kein Wunder, dass seit einigen Jahren zahlreiche solcher Handbücher erscheinen.

Im vergangenen Jahr nun erschien ein „Handbuch Komparatistik“, das unter dem Untertitel „Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis“ gleich eine ganze akademische Disziplin in Handbuchform präsentieren möchte und versucht, „so etwas wie die Konturen der literaturwissenschaftlichen Komparatistik nachzuzeichnen“. Nach den Einführungen in die Komparatistik, die Ernst Grabovszki 2011, Evi Zemanek zusammen mit Alexander Nebrig 2012 und – mit nicht klassischem Einführungscharakter, sondern eher einer konzeptuellen Grundlegung – Dieter Lamping 2013 vorgelegt hatten, soll das Handbuch Komparatistik jedoch weniger „konzeptualisieren oder inhaltlich ‚programmieren‘“, sondern vielmehr „beschreiben, was sie faktisch tut“, wie die Herausgeber Achim Hölter und Rüdiger Zymner in der Einleitung schreiben.

Dazu gliedern sie die Beiträge in neun größere Kapitel, die jedoch vom Umfang stark voneinander abweichen. Auf eine Darstellung der „Ausrichtungen“, die in sich untergliedert ist in systematische, historische und räumlich-sprachliche Ausrichtungen, folgt ein Überblick über „Arbeitsfelder und Methoden“ um sodann mit den „Problemkonstellationen“ das umfangreichste, aber sicherlich auch am wenigsten schlüssige Kapitel zu präsentieren. Hierauf folgen verschiedene „Ansätze der Komparatistik“, ein Überblick über die „Geschichte der Literaturkomparatistik“ sowie zwei Kapitel über wichtige Werke des Fachs („Gründungstexte“ und „Klassiker“). Beschlossen wird der Band durch einen Seitenblick auf den Vergleich in anderen Wissenschaften („Komparatistiken“) und ein deutlich praxisorientiertes Kapitel zu „Instrumenten, Medien und Organisationen“.

Vorab ist zu sagen, dass der große Gewinn dieses Handbuchs vielleicht weniger darin zu finden ist, dass es eine systematische und allumfassende Darstellung des Fachs geben würde – was so auch sicher bei der Heterogenität dessen, was mit ‚Komparatistik‘ bezeichnet wird, auch gar nicht möglich ist – sondern darin, dass es sehr plausibel die Vielfältigkeit und Breite des Fachs abbildet, ohne dabei allzu unübersichtlich zu werden. Von unschätzbarem Wert ist die Versammlung heterogener Richtungen, Ansätze und Begriffe an einem Ort und die Darstellung ihrer besonderen Verbindung zum akademischen Fach der Komparatistik. Dies wird schon im Kapitel „Ausrichtungen“ deutlich, dass auch die altphilologische und mediävistische Komparatistik berücksichtigt (in Artikeln von Steffen Freund und Ursula Kocher) und beeindruckend vorführt, wie gerade die Mediävistik eine umfassende Theorie des Vergleichs (die immer noch aussteht) vor besondere Herausforderungen stellen und gleichzeitig mit ihren vielfältigen Verflechtungen und daran geschulten Arbeitsweisen zu einer Konturierung der Komparatistik der Zukunft entscheidend beitragen könnte. Generell ist die Darstellung historischer Ausrichtungen der Komparatistik mit ihren speziellen Arbeitsgebieten ein hilfreicher Ansatz, der die verschiedenen Problemfelder unterschiedlicher Epochen sichtbar macht und in dieser Form in herkömmlichen Einführungen kaum auftaucht.

Ebenso ist die – nach Regionen bzw. Sprachräumen geordnete – Darstellung der komparatistischen Fachgeschichte (Kap. B.3) nicht nur von historischem, sondern auch konzeptionellem und schließlich kulturpolitischem Interesse. So zeigt sich raumübergreifend schon in den knapp gehaltenen Skizzen, dass die Disziplin vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ihre fruchtbarste Phase hatte und vielerorts als Gegenentwurf zu kulturellem Eigensinn und Nationaldenken antrat. Dies lässt sich nicht zuletzt auch ex negativo feststellen, wenn, wie im Beitrag von Sebastian Donat, Vladimir Gvozden und Martin Sexl über „Osteuropa“, deutlich wird, dass die Komparatistik von der Sowjet-Doktrin als patriotischen Gedanken widersprechend rundheraus abgelehnt wurde.

Aus fachhistorischer Perspektive besonders zu loben ist zudem der kenntnisreiche Überblick von Svend Erik Larsen über den skandinavischen Raum und dessen enormen Beitrag zur Fachentwicklung, der – wohl aufgrund der sprachlichen Minoritätsstellung – noch immer viel zu wenig zur Kenntnis genommen wurde und in gängigen Einführungen in der Regel nicht auftaucht. Dabei könnte das skandinavische Vorbild einer akademischen Komparatistik mit einer theoretisch fundierten, analytischen Methodik, einer fast standardmäßig zu findenden Multilingualität und einer traditionell gewachsenen und immer praktizierten Bereitschaft zur transnationalen Zusammenarbeit und Vernetzung durchaus Impulsgeberin und Vorbild sein. Das bereits in den 1930er Jahren von Eugène Tierstedt konzipierte, ab 1959 veröffentlichte Monumentalwerk „Bonniers Allmänna Litteraturhistoria“, eine Art Weltliteraturgeschichte mit Beiträgern aus ganz Skandinavien, nimmt dabei genau wie das von dem Dänen Hans Hertel seit 1985 herausgegebene „Verdenslitteratur“, das Weltliteratur in ihren Zirkulations- und Rezeptionsprozessen darstellt, die theoretischen Ansätze und Praktiken gegenwärtiger Komparatisten wie Moretti und Damrosch dabei längst vorweg.

Pionierarbeit leistet – zumindest im deutschen Sprachraum – nicht zuletzt der Beitrag von Stefan Guth über die Entwicklung der Komparatistik im arabischen und persischen Sprachraum, der interessanterweise zeigen kann, dass der Kulturvergleich auch in diesem nicht-westlichen Bereich zwar „nicht selten“ war, jedoch in der Regel „im Dienst politischer oder sozialer Machtverhandlungen“ stand und damit genauso politisch instrumentalisiert und ideologisch aufgeladen wurde wie im ‚Westen‘ auch. Letztlich griffen, so macht Guth deutlich, im ‚Osten‘ dieselben Mechanismen der Verzerrung des Fremden im Spiegel des Eigenen wie im ‚Westen‘; ein Befund, der ein spannendes künftiges Arbeitsfeld für die Komparatistik eröffnet, sofern er von politischer Aufladung ferngehalten wird.

Von hohem Wert vor allem für die Lehre, aber auch als schneller Überblick im Forschungsalltag, sind die in den Kapiteln „Arbeitsfelder und Methoden“ sowie „Problemkonstellationen“ zusammengestellten Artikel. Zunächst ist in beiden Kapiteln jedoch kritisch anzumerken, dass die kategoriale Ordnung nicht immer schlüssig ist. Welche begriffliche Definition der Einteilung in ‚Arbeitsfelder‘ und ‚Methoden‘ zugrunde liegt, ist fraglich, denn es erscheint zumindest zweifelhaft, ob sich die „Übersetzung“ als Arbeitsfeld und „Vergleich“ als Methode kategorial sinnvoll neben schwammige Begriffe wie „Medialität“ oder „Kultur“ stellen lassen. Auch die „Problemkonstellationen“ bleiben etwas diffus: beziehen sie sich im Fall von „Mythologie“ oder „Gender“ wohl vorrangig auf die Arbeit mit konkreten Texten oder am Text, scheinen andere vor allem bestimmte Arbeitsgebiete oder die Methodik („Literaturgeschichte“, „Interpretation“) zu betreffen, während wieder andere schließlich die Disziplin als Ganzes in ihrem Verhältnis zu anderen Wissenschaften („Ethnologie“, „Nationalphilologien“) oder der Gesellschaft („Eurozentrismus“) ins Zentrum rücken. Nichtsdestotrotz gelingt es den meisten BeiträgerInnen auf erstaunlich prägnante Art die jeweilige Problemlage und ihr Verhältnis zur komparatistischen Arbeit oder zur Komparatistik als Ganzes zu skizzieren. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Christian Mosers Darstellung der „Problemkonstellation“ Globalisierung. In einem knappen, aber dennoch informativen und gleichzeitig präzisen Durchlauf durch die Facetten einer literaturwissenschaftlichen Globalisierungsforschung gelingt es ihm, ein sehr komplexes Phänomen in seinen Herausforderungen für die Disziplin als Ganzes, aber genauso für die konkrete Forschungsarbeit herauszustellen.

Die Disziplin als Ganzes und spezifische Konzeptualisierungen des Faches stehen dann auch im Zentrum des Kapitels „Ansätze“, das verschiedene Vorstellungen dessen, als was Komparatistik zu verstehen ist, skizziert. So kommen Zimas Konzept einer „Komparatistik als Dialogische Theorie“ genauso zur Darstellung wie die traditionelle Vorstellung von der „Komparatistik als Brücke zwischen den Kulturen“ durch Manfred Schmeling. Dabei ist es lobenswert, das bei allem Verständnis für Konzepte, die Komparatistik als etwas anderes sehen wollen, auch die „Komparatistik als Literaturwissenschaft tout court“ zu ihrem Recht kommt. Rüdiger Zymner stellt in seinem gewohnt konzisen Beitrag eine Komparatistik vor, die „die Interpretation von Literatur in das Zentrum ihres Interesses“ rückt, wobei es ihr vor allem um „die wissenschaftliche Produktion und Prüfung von Hypothesen und damit um die Feststellung von Sachverhalten geht, die sich mithilfe hermeneutischer Techniken aufhellen lassen.“ Zymner geht es um ein vorgängiges Beschreiben, dem ein Erklären folgen soll, das immer von Deutlichkeit und Klarheit sein muss und sich „elementarer logischer Operationen“ bedienen soll – womit er letztlich für eine solide Wissenschaft votiert, die sich über ihren Gegenstand klar ist und belastbare sowie überprüfbare Aussagen über ihn produziert.

Diesen eher programmatischen Kapiteln stellt das Handbuch in der zweiten Hälfte einen historisch orientierten Überblick über die „Geschichte der Literaturkomparatistik“ an die Seite sowie Klassiker der Disziplin vor. Während Fabian Lamparts Skizze „komparatistische[r] Praktiken neben der akademischen Komparatistik“ zwar wenig Neues bietet, dafür aber als kompakte historische Gesamtschau sehr nützlich ist, ist die Auswahl der Klassiker und Gründungstexte naturgemäß diskutabel, deshalb jedoch nicht weniger verdienstvoll. Wie jede Zusammenstellung hätte auch diese den ein oder anderen Titel wohl entbehren können (Otto Ranks Inzestmotiv in Dichtung und Sage bspw.) und möglicherweise auch nicht-westliche komparatistische Pionierarbeiten aufnehmen dürfen (so womöglich den Inder Rabindranath Tagore oder den Chinesen Qian Zhongshu), letztlich jedoch erweist sich die knappe Vorstellung zentraler Forschungsbeiträge der Komparatistik mit ihren Grundthesen als wichtiger Schritt hin zu einer Sammlung komparatistischer ‚Standardwerke‘.

Ein Kapitel über „Komparatistiken“, also andere vergleichende Wissenschaften und deren Arbeitsweisen und ein praktisches Kapitel zu „Instrumente[n], Medien und Organisationen“ schließen den Band. Vor allem dieser letzte, vornehmliche von Achim Hölter verfasste Abschnitt dürfte – vorrangig für Studienanfänger – ein unschätzbares Kompendium praktischen komparatistischen Arbeitens und seiner Hilfsmittel sein, ohne dabei zu einer bloßen Materialien- und Linksammlung zu verkommen. Denn das Kapitel bietet einen Überblick über Zeitschriften, Anthologien, wichtige Bibliotheken, Lexika und Literaturgeschichten nicht in Listenform, sondern als Textdarstellung, die immer auch versucht, historische und systematische Zusammenhänge zu skizzieren und Schwierigkeiten genauso wie Chancen einzelner Projekte zu umreißen. Auf die Auflistung einzelner Institute in Deutschland und im Ausland hingegen hätte man wohl verzichten können oder aber sie eher ins Internet verlagern sollen, wo immerhin die Aktualität gewährleistet gewesen wäre, der Mehrwert einer solchen allenfalls als Momentaufnahme dienlichen Liste erschließt sich jedenfalls nicht.  

Den positiven Gesamteindruck des Bandes trüben ärgerliche Kleinigkeiten nur minimal, die jedoch dennoch hätten ausgeräumt werden dürfen. Dazu zählen die fehlenden Namen der Artikelverfasser im Inhaltsverzeichnis, so dass hieraus nicht ersichtlich wird, wer wofür verantwortlich zeichnet, was in Sammelwerken und Handbüchern eigentlich gute wissenschaftliche Praxis ist und auch in den sonstigen Bänden der Reihe so gehandhabt wird. Weiterhin wäre es zu erwarten, dass die Bibliographien am Ende der Artikel komplett sind und nicht einzelne, im Beitrag genannte Titel in der Literaturliste fehlen (so in Peter Goßens Beitrag zu „Weltliteratur“). Insgesamt wird man wohl auch die etwas verwirrende Kategorisierung im Inhaltsverzeichnis zumindest erwähnen müssen, deutlichere Schwerpunktsetzungen hätten sicher gutgetan. Vor allem würde man sich eine klarere Abgrenzung und Hervorhebung komparatistischer Arbeitsgebiete und die prägnante Darstellung des jeweiligen Forschungsstandes wünschen, was sicherlich zumindest für die drei großen „Inters“ (Interkulturalität, -medialität und -textualität) in einem Handbuch zur Komparatistik notwendig ist. So gehen ‚Kerngebiete‘ der Komparatistik im Kapitel „Arbeitsfelder und Methoden“ leider etwas verloren.   

Doch das sind Marginalien im Angesicht der großen Arbeit, die von den Herausgebern und BeiträgerInnen mit dem „Handbuch Komparatistik“ geleistet wurde und die kaum anders als verdienstvoll zu nennen ist. Als Gesamtwerk bietet es weniger eine Definition dessen, was (literaturwissenschaftliche) Komparatistik ist, als vielmehr dessen, was sie tut. Genau in dieser Darstellung der komparatistischen Praxis liegt der Mehrwert des Handbuches gegenüber herkömmlichen Einführungen: es ist um Aktualität, um die Formulierung eigenständiger Positionen und das Postulat von Konzepten bemüht, die nicht miteinander ausgesöhnt werden sollen, sondern die in ihrer Differenz und Heterogenität unvermittelt nebeneinander stehen. Dadurch ergibt sich ein zwar disparates Bild der Disziplin, aber gleichzeitig ein Abbild der Vielfältigkeit und Lebendigkeit des Fachs, das nicht nur für Studierende orientierend, sondern auch für Forschende inspirierend wirken kann – und wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Rüdiger Zymner / Achim Hölter (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
413 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783476024312

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