Rausch und Erkenntnis

Der Band „Realitätsflucht und Erkenntnissucht“ untersucht das weite Feld von Alkohol und Literatur

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Trinken ist das Laster des Schriftstellers“, konstatierte F. Scott Fitzgerald, den dieses Laster selbst das Leben kostete. In seiner Studie „Alkohol und Autor“ (1988) diskutierte der Psychiater Donald B. Goodwin die These, Alkoholismus sei eine stressbedingte „Einzelgängerkrankheit“, die aus der selbst gestellten Erwartungshaltung in künstlerischer und ökonomischer Hinsicht resultieren könne. Alkohol ist nicht nur der Treibstoff für die Produktivkraft Fantasie, sondern auch ein Mittel, den Realitäten zu entfliehen. Während Goodwin vor allem US-amerikanische Schriftsteller wie Edgar Allan Poe, F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und William Faulkner aus medizinischer Sicht analysierte, wird in dem vom Markus Bernauer und Mirko Gemmel herausgegebenen Sammelband „Realitätsflucht und Erkenntnissucht“ Alkohol und Trinken vornehmlich als literarisches Phänomen beschrieben.

Dichter der Romantik wie Jean Paul und E. T. A. Hoffmann sahen im alkoholinduzierten Rausch eine Form der Erkenntnis, wobei sich die Figur des trinkenden Schreibers schließlich in einen schriftstellernden Trinker verwandelte. Obgleich Alkohol zuweilen als „moralische Missbildung der Deutschen“ dämonisiert und die „Unmäßigkeit beim Trinken“ gegeißelt wurde, wuchs gerade im Jahrhundert der Aufklärung die Anzahl der kreativen Alkoholiker rapide an. Je aufgeklärter die Gesellschaft wurde, so scheint es, desto deprimierender nahm sich die Gegenwart aus. Mittels des Trinkens gewann der Künstler Zugriff auf das Imaginäre und konnte im Rausch den Alltag durchdringen. Für Charles Baudelaire schließlich war der Alkohol ein Symbol der Moderne, während sich andere für den Alkoholismus als Fluchtweg aus der modernen Gesellschaft entschieden.

Im Naturalismus, vor allem in den Romanen Émile Zolas, wird Alkohol jedoch als enthemmender Befreier und potenzieller Zerstörer des Individuums beschrieben. Jenseits jeglicher Romantisierung werden die Abhängigkeit bloßgestellt und die Folgen der Sucht in düsteren Farben gezeichnet. Spätere Autoren wie Hans Fallada, Uwe Johnson, Wolfgang Hilbig oder Jörg Fauser erzählen zwiespältig von selbst errichteten Gefängnissen, in denen sie sich verloren, und zeigen die destruktive Seite der Sucht, wenngleich sie im antibürgerlichen Affekt dem „Rausch der Spießer“ (der Ausdruck eines alltäglichen Alkoholismus ist) den „Rausch der Bohemiens“ entgegensetzen, der sie zu einer anderen, „bewusstseinserweiternden“ Erkenntnis befähigen soll.

Insgesamt hinterlässt dieser Sammelband, trotz einiger interessanter Blicke auf die Wechselwirkung zwischen Alkohol und Literatur, einen abgestandenen Eindruck, da die Beiträge zu oft träge und uneinheitlich wirken, Wiederholungen und Überschneidungen enthalten und in einer schwerfälligen, verwaltungstechnisch durchsetzten, desengagierten Seminaristensprache daherkommen. Die Auswahl der behandelten Themen und Autoren wird kaum erläutert; Kriterien und Motivation bleiben im Ungefähren. Dem Buch fehlt die konzeptionelle Tiefe, die Olivia Laing in ihrer zu Recht hochgelobten Studie „The Trip to Echo Spring“ (2013) demonstrierte, in der sie an sechs exemplarischen Autoren (F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Tennessee Williams, John Berryman, John Cheever und Raymond Carver) nicht nur deren Texte und Trinkgewohnheiten, sondern auch die räumlichen Kontexte der Autoren untersucht, so dass ein komplexes Geflecht aus Manie, Angst, Leiden und Destruktion vor den Augen des Lesers entsteht. Leider fehlt jegliche Spur von Laings Subtilität und Empathie in dem Band „Realitätsflucht und Erkenntnissucht“. So bleiben letztlich tiefer gehende Erkenntnisse verborgen.

Titelbild

Markus Bernauer / Mirko Gemmel (Hg.): Realitätsflucht und Erkenntnissucht: Alkohol und Literatur.
Mit einem Vorwort von Norbert Miller und Zeichnungen von Johannes Jansen.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2014.
352 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999082

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