Erzählen von einer Moral des Erzählens

Rüdiger Bittner und Susanne Kaul finden eine leichte Sprache für ein komplexes Problem

Von Tanja Angela KunzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Angela Kunz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem moral turn der europäischen Geisteswissenschaften in den 1990er-Jahren ist die alte Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Moral mit neuer Vehemenz ins Blickfeld der Wissenschaft gerückt. Dabei hat sie nichts an Brisanz verloren: Behaupten die einen, Literatur sei moralisch, so gehen die anderen von einer strikt zu verteidigenden Kunstautonomie aus, die in höchster Gefahr schwebe, sobald moralische Maßgaben an die Literatur herangetragen würden. Ein zentraler Kulminationspunkt der Diskussion liegt in der Frage, ob sich nicht beides vereinen ließe. In diesem Fall müsste die Moral ein konstitutives Moment von Literatur sein, das unhintergehbar ist. Inwieweit stehen also Literatur und Leben miteinander in Verbindung? Und inwiefern kann garantiert werden, dass Gedanken und Worte die erwünschten Effekte auf menschliche Handlungen haben?

Rüdiger Bittner und Susanne Kaul reihen ihr knapp gehaltenes Sachbuch Moralische Erzählungen in diesen Fragekomplex ein, wenn sie darin nach einer Verbindung zwischen Lesen und Leben fragen. Während den Verfassern zufolge Leben unstrittig Lesen enthalte, ist ihnen daran gelegen, zu untersuchen, inwieweit Lesen Leben im moralisch relevanten Sinn, das heißt im Hinblick auf eine praktische Bedeutung, beinhaltet.

Für die Entfaltung ihrer Überlegungen unterteilen die Verfasser ihre Untersuchung in vier Sequenzen, gerahmt von Einleitung und Schlussbemerkung. In ihnen verflechten sie konkrete Textbeispiele mit Überblicksfragen. Die Verfasser nehmen den Leser mit auf eine Reise durch unterschiedliche Erzählformen und gehen dabei von Märchen, Legenden, Fabeln und juristischen Fallgeschichten über literarische Erzählwerke des Kanons zu sogenannten philosophischen Problem-Geschichten.

Während die Verfasser die Frage nach der gesicherten Wirkungsmacht von Literatur auf das Leben wiederholt negativ beantworten, arbeiten sie parallel die moralischen Möglichkeiten von Erzähltexten heraus: Geschichten sind in der Lage, tugendhafte Haltungen wie Mut, Opferbereitschaft oder Demut bei ihren Lesern zu erzeugen und dadurch Wegweiser für jene zu sein, die nach moralischer Leitung suchen. Sie können eine philanthropische Wirkung haben, indem sie beim Leser Mitleid mit literarischen Helden erzeugen. Die Verfasser arbeiten an den Erzählbeispielen heraus, welche Prämissen für die Herausbildung der einzelnen moralrelevanten Einflüsse auf der Textebene gegeben sein müssen. Für die Entstehung von Empathie müssen beispielsweise die Handlungsgründe der Helden auf der Textebene explizit genannt werden und es muss zu einer Psychologisierung der Helden kommen.

Die Verfasser zeigen, dass erzählte Geschichten eine besondere Kraft besitzen. Aus diesem Grund nutzt nicht zuletzt auch die Ethik, die als Teildisziplin der Philosophie ihrem Wesen nach eigentlich nur darstellen, argumentieren und infrage stellen will, die Überzeugungskraft von erzählten Geschichten.

Literatur und Philosophie stehen im Band von Bittner und Kaul in einer schätzenswerten Balance. Die Autoren vermeiden damit die Fallstricke der historisch vorherrschenden Konkurrenz dieser beiden Disziplinen. Schlaglichtartig beleuchten sie zentrale Positionen innerhalb der Philosophie und der literarischen Tradition. Auf Aristoteles und Platon wird ebenso verwiesen wie auf Michel de Montaigne und Søren Kierkegaard bis hin zu Martha C. Nussbaum und Philippa Foot. In der exemplarischen Betrachtung kanonischer Erzähltexte zeichnen die Verfasser den Weg der zunehmenden Problematisierung von Welt, Sinn und Wahrnehmung im Gang durch die Moderne nach. Sie zeigen anschaulich, wie sich dadurch auch der moralische Anspruch an das Erzählen sukzessive zum „absoluten Erzählen“ hin verändert. Durch diese Entwicklung büßen die erzählten Personen an Allgemeingültigkeit ein und es bleibt mehr und mehr dem Leser überlassen, welchen Nutzen er für sich aus der Lektüre zieht.

Der Gang durch Literatur und Philosophie legt offen, dass das Verständnis von Moral und moralischer Lehre über die Jahrhunderte zahlreichen Variationen unterworfen war. Damit schaffen die Verfasser das notwendige Bewusstsein für die Komplexität der Thematik, die nie losgelöst von den jeweiligen historisch-philosophischen Bedingungen betrachtet werden kann.

In der Summe kommen Kaul und Bittner zu dem Schluss, dass Erzählungen nicht sagen, wie man leben soll. Und es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine erzählte Geschichte, welche moralische Lehre sie auch enthalte, einen moralischen Effekt auf den Leser hat. Allerdings beinhalten Erzählungen Wissen und ermöglichen daher über den Aspekt der Lebensweisheit moralische Wirkungen.

Es bleibt eine schwierige Unternehmung, eine hochkomplexe Frage wie jene nach dem Verhältnis von Erzählen und Moral auf nur wenigen Seiten zu behandeln. Die Leichtigkeit, mit der die Autoren dieser Aufgabe entgegengetreten sind, ist bewundernswert. Wenn also auch zusätzlich auf den spannenden Aspekt hätte hingewiesen werden können, dass ein Leser immer bereits mit einer moralischen Vorbildung und somit einer gewissen Bereitschaft zur moralischen Bewertung an einen Text herangeht. Oder wenn ein Verweis auf die prekäre Frage nach der Moralfähigkeit des Grausamen, Ekelerregenden und Perfiden in der Literatur hätte erfolgen können. Besonders angesichts des Umstandes, dass die Verfasser zu Beginn die belehrende Wirkung von Geschichten vom Begriff des Schadens herleiten. Und wenngleich die historische Konkurrenz zwischen Literatur und Philosophie, die sich häufig auch in den literarischen Werken niederschlägt, unbeachtet bleibt.

So gilt stattdessen als höchst bemerkenswerte Leistung der Verfasser hervorzuheben: Es gelingt ihnen auf nur wenigen Seiten, dem Laien eine kurzweilige Einführung zu geben, in der die grundlegenden Aspekte des Verhältnisses von Erzählen und Moral enthalten sind. Sie zeigen schlüssig, dass es keine Garantie für eine moralische Wirkung von Erzähltexten geben kann. Durch die in ihnen repräsentierte Vielfalt können Geschichten jedoch einen wichtigen Beitrag zur moralischen Bildung der Leser leisten.

Und en passant leistet der kleine Band auch in anderer Hinsicht Entscheidendes: Er macht aufmerksam auf die unterschiedlichsten moralischen Erzählstrategien. Dem „hellhörigen“ Leser bietet der Band eine gute Grundlage, das Wahrnehmen moralischer Signale in Texten zu erlernen. Ein solches Lesen schult Ideologiekritik. Und so findet Rüdiger Bittners und Susanne Kauls Erzählen vom moralischen Erzählen gerade darin seinen eigenen moralischen Kern.

Titelbild

Susanne Kaul / Rüdiger Bittner: Moralische Erzählungen.
Band 5. Herausgegeben von Wolfgang Braungart und Joachim Jacob.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
74 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315501

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