Trügerisches Glasauge der Zeit

Jens Sparschuh schickt seinen Ich-Erzähler in der Mark Brandenburg auf die Suche nach dem Laubenpieper Nabokov und der eigenen Kindheit

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer liest, sollte liebevoll auf Einzelheiten achten“, befand einst Vladimir Nabokov, und Bücher nicht mit „fertigen Verallgemeinerungen“ in die Hand nehmen, wie es seiner Ansicht nach Psychoanalytiker taten. Der von dem großen Romancier als „Wiener Würstchen“ verspottete Sigmund Freud hätte wohl eingewandt, dass es vom Sinn für Einzelheiten bis zur Detailversessenheit nur ein kleiner Schritt ist. Und ein noch kleinerer bis zur handfesten Paranoia.

Eine Einsicht, zu der auch der namenlose Ich-Erzähler in „Ende der Sommerzeit“ gelangt. Jens Sparschuhs neuer Roman hat viel mit Nabokov und Freud zu tun. Das heißt, zunächst vor allem mit Nabokov. Denn Sparschuhs Held kehrt von seinem Aufenthalt als Gastlektor an einem US-College nach Berlin mit einem Auftrag zurück: Er soll für einen amerikanischen Nabokov-Forscher vor Ort in der Mark Brandenburg eine handgezeichnete Karte des Meisters mit der Realität abgleichen, „eine verwickelte, dennoch lösbare Aufgabe“, wie es zunächst scheint.

Diese Karte gibt es wirklich; auf ihr hat Nabokov den Schauplatz des fiktiven Mordes skizziert, den er in „Verzweiflung“, einem 1932 entstandenen Frühwerk, aus der Sicht des Mörders erzählt: die Wald-Seen-Landschaft etwa 50 Kilometer südwestlich von Berlin, zwischen Königs Wusterhausen und Kolberg. Nur dass Nabokov auf dieser Skizze die reale Topografie, Nord und Süd, links und rechts, verdreht und gespiegelt hat.

Dabei war der russische Romancier mit den Gegebenheiten vor Ort aus seinen Berliner Jahren (1922–1937) bestens vertraut: 1929/30 besaß er für kurze Zeit ein Grundstück am Ziestsee, um dort für sich und seine Frau eine Datscha zu bauen; die Landschaft erinnerte ihn an die Umgebung seiner Geburtsstadt Sankt Petersburg. Sparschuhs Held ist von dieser Geschichte fasziniert: „Allein die Vorstellung, der große Nabokov inmitten einer deutschen Kleingarten- oder Laubenpieperkolonie – unvorstellbar.“ Doch wo sich dieser Garten genau befand, ist unbekannt, eine Lücke der Nabokov-Forschung, die der Ich-Erzähler endlich schließen will.

Womit wir endlich bei Freud wären – nein, zunächst bei Schreber, Schreber senior, dem Erfinder des Schrebergartens. Und bei seinem Sohn, Daniel Paul Schreber. Ihn trieb die schwarze Pädagogik seines Vaters in den Wahnsinn, und über seinen Fall von Paranoia veröffentlichte Freud 1911 seine berühmte Schreber-Studie. Sparschuhs Ich-Erzähler, bis dahin ein Freud-Verächter, liest erstmals diese und weitere Schriften des Analytikers im Gartenhäuschen seiner Nenn-Tante Lea, deren eigener Schrebergarten – für den Ich-Erzähler ein Ort voller Kindheitserinnerungen – sich zufälligerweise auch in dieser Gegend befindet.

Zu diesem Zeitpunkt hat sich für den Helden, als kauziger Kontrollfreak ein Wiedergänger früherer Sparschuh-Protagonisten, auf seiner Suche nach Nabokovs Garten die ihm „bis dahin völlig vertraute Gegend allmählich in ein Labyrinth verwandelt“. Das Grundbuchamt kann ihm so wenig helfen wie Expeditionen rund um den Ziestsee, schon deshalb nicht, weil sich herausstellt, dass gleich mehrere Seen in der Gegend diesen Namen tragen. Der Griff nach Freud ist daher eine Verzweiflungstat, zu der ihm Deborah geraten hat, eine befreundete Literaturwissenschaftlerin. Sie, gleichermaßen Freudianerin wie Feministin, hat längst schon ihre eigene Meinung über die Suche: „Bist du dir eigentlich sicher, dass du Nabokovs Grundstück suchst? […] Wenn man derart manisch etwas sucht … dann sucht man oft etwas ganz anderes. Man weiß es nur nicht.“

Tatsächlich gehört Sparschuhs Ich-Erzähler, wie übrigens auch der Nabokovs in „Verzweiflung“, zu jenen, die gemeinhin als „unzuverlässig“ bezeichnet werden. Freilich misstraut er seiner Erinnerung zum Zeitpunkt seines Berichts längst schon selbst „hundertprozentig“. Dabei war Sparschuhs neuer Roman zunächst durchaus als Krimi geplant, der in der Mark Brandenburg spielen sollte.

Glücklicherweise erinnerte sich aber der 59-jährige Berliner Autor und Nabokov-Kenner beizeiten an den frühen Roman seines russischen Kollegen. Daher entstand kein weiterer Regionalkrimi, sondern ein raffiniert erzähltes Lesevergnügen über das Leben in der Literatur und die Literatur im Leben. Dass man beides tunlichst nicht verwechseln sollte, zeigt sich etwa, als Sparschuhs Held Deborah am Bahnhof verpasst: Denn die Uhr ist für ihn, nach einem berühmten Nabokov-Wort, ein „Glasauge der Zeit“ – worüber man leicht Einzelheiten wie die übersieht, dass Uhren am „Ende der Sommerzeit“ neu gestellt werden müssen.

Auch sonst bietet Sparschuhs Roman viele Anspielungen, über die sich, in seltener Eintracht, Nabokovianer wie Freudianer gleichermaßen freuen können: wie den trügerischen Flügel eines Tagpfauenauges auf dem Cover etwa, das dem passionierten Schmetterlingsjäger und Konstrukteur doppelbödiger Romanlabyrinthe gefallen hätte. Oder die Ansage, die Sparschuhs Ich-Erzähler vernimmt, als er bei sich selbst anruft: „Ich bin im Moment leider nicht zu Hause.“

Da ist sein Ich tatsächlich schon nicht mehr Herr im eigenen Haus. Dieses Ich ist die einzige Schwachstelle des Romans, so blass und konturlos bleibt es: Was der Ich-Erzähler sonst eigentlich treibt, ob er Schriftsteller, Kritiker oder Germanist ist, man erfährt es nicht, nur dass er offenbar alle Zeit der Welt für seine wochenlange Suche nach Nabokovs Garten hat. Von seinem Kontrollzwang hört der Leser zuerst aus Deborahs Mund, ehe Sparschuh ihn auch erzählerisch veranschaulicht.

Nach seiner Rückkehr aus den USA ärgert sich Sparschuhs Held, als er seinen PC einschaltet, über die Flut an Viagra-Spammails – hat also offenbar monatelang sein Mailfach ignoriert? Das bietet zwar dem Autor gleich einen Anlass, seinen Helden an Freuds Penisneid zu erinnern, wirkt aber wenig glaubwürdig, zumal der Ich-Erzähler ja kein Technikphobiker ist, sondern später sowohl seinem Auftraggeber wie auch Deborah per E-Mail über seine frustrierende Suche berichtet. Weniger frustrierend ist dagegen die von der Freud-Lektüre angeregte Suche im eigenen Seelen-Labyrinth. Dort findet der Held die – anrührend erzählte – verdrängte Erinnerung an das Ende der eigenen Kindheit, als sich der Ich-Erzähler 1968, also zu einem politisch ungünstigen Zeitpunkt, als 13-Jähriger in Leas Garten in die ein Jahr ältere Jitka aus Prag verliebte.

Titelbild

Jens Sparschuh: Ende der Sommerzeit. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
243 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462046168

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