Wer war Shakespeare?

Ina Schabert hat ein Buch über die Rezeption des Autors geschrieben

Von Georg FesterlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Festerling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein Geburtstag liegt 450 Jahre zurück, aber Shakespeare bewegt immer noch die Menschen, seien sie Wissenschaftler, seien sie Liebhaber seiner Werke jedweder Nationalität oder Profession. Dass so wenig an zuverlässigen Fakten über sein Leben bekannt ist, fördert das Verlangen, diese Leerstellen zu füllen, wie zahlreiche wissenschaftliche Versuche zu Shakespeares Leben beweisen. So bilden sich zu allen Zeiten je nach der Nationalität und auch dem Geschlecht der Leser Bilder und Projektionen heraus, die zu einem Konstrukt führen dessen, was und wer denn Shakespeare nun sei, ohne je eine abschließende Antwort zu finden. Von dieser „Unmöglichkeit, Shakespeares Person wirklich, endgültig zu erfassen“ geht die Münchner Anglistin Ina Schabert in ihrem Buch aus und zeichnet die „Vielfalt der Bilder“ nach, wie es im Untertitel heißt.

Das erste Bild Shakespeares ist ein leerer Rahmen, den die Leser in Ermangelung eines greifbaren Autors zu füllen suchen mit den Orten, die im Werk genannt werden und die dann ohne historische Legitimation zu Wallfahrtsorten mutieren wie etwa der Balkon am Hause der Julia in Verona, der dem Bedürfnis der Menschen entsprechend erst nachträglich angebracht wurde. Da, wo die Person Shakespeares in den Denkmälern auf dem Kontinent zum Bild gerinnt, zeigt sich bereits die Tendenz, Hamlet als die dem Autor ähnlichste Figur zu sehen.

Dann richtet Schabert den Blick auf England, später auf Großbritannien, wo Shakespeare der Dichter der nationalen Selbstvergewisserung, des imperialen Gedankens und der Einheit der Nation sowie als Motivationshilfe in Zeiten der äußeren Bedrohung eingesetzt, dann aber auch im Gegensatz dazu als Mahner wider den Krieg und als Dichter der devolution verstanden wird.

Im dritten Kapitel kommen die Dramenfiguren in den Blick, die im identifikatorischen Lesen der Amateure, eigentlich im Gegensatz zu dem distanzierten wissenschaftlichen Blick, nicht als Konstrukte des Textes, sondern als eigenständige Personen begriffen werden, deren Motivationen man nachspürt. In neueren wissenschaftlichen Arbeiten, so stellt Schabert fest, wird diesem personenbezogenen Zugang auch in der wissenschaftlichen Diskussion wieder Raum gegeben, etwa bei Bloom und Vickers. Der Gedanke an Figuren als eigenständige Personen außerhalb des dramatischen Kontextes führt dann zur Konstruktion ihrer Vergangenheit und Zukunft, wobei letztere bei den Figuren der Komödien als düster angesetzt wird. All diese Figuren geschaffen zu haben macht Shakespeare zu einem Schöpfer, der, wie Hazlitt sagte, nicht auf Alltagsbeobachtungen zurückgriff, sondern alles in sich trug, “in his own mind“. Und so entpuppt sich Prospero als Shakespeares Selbstporträt.

Der nächste Schritt widmet sich der Überzeugung der Romantik, der Erwachsene sei bereits im Kinde angelegt. Das Werk wird zum Ausgangspunkt für die Suche nach Rückschlüssen auf Shakespeares Kindheit und Jugend. Die Erinnerung wird zur Quelle für das Werk erhoben. Während die Versuche einer Rekonstruktion Shakespeare’scher Kindheit und Jugend im rein Spekulativen verharren, richtet sich jetzt das wissenschaftliche Interesse auf die Erforschung der Lebensumstände seiner Zeit, um daraus einen Eindruck zu schaffen von den Bedingungen, unter denen er aufwuchs. Jeder Rückschluss aus dem Werk auf die Jugend des Dichters bleibt Fiktion, und mit dem Verweis  auf Burgess’ Roman Nothing Like the Sun zeigt Schabert, dass dieser Ansatz zumindest für eine fiktionale Betrachtung Shakespeares noch interessante Einblicke bieten kann.

Die Sonette eröffnen die Frage nach dem verliebten Shakespeare. Schabert betont die Befreiung des Blickes auf die Gedichte, die sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vollzog, als moralischen Beurteilungen der Boden entzogen und den daraus resultierenden Verfälschungen der Texte ein Ende bereitet wurde. Die Suche nach dem realen Shakespeare führt laut Schabert in die Irre, weil erst die Darstellung die komplexe Erotik schafft, die sie vermittelt. In einem anschließenden Exkurs erteilt sie allen Bemühungen eine Absage, die Sonette autobiographisch zu lesen und die dark lady sowie den schönen Jüngling  zu identifizieren.

Mit Sigmund Freud richtet sich der Blick auf die Seele des Dichters, wobei seine Deutung Hamlet und Shakespeare in eins setzt. Dies weitet sich bei nachfolgenden Forschern zu einer Psychobiografie, die sich auf das Gesamtwerk stützt. Wenn Schabert an das Ende Norman Hollands Enttäuschung über die psychoanalytische Interpretation setzt, fühlt sich der Leser geneigt, diesem Urteil beizupflichten.

Wenn Schabert dann den „professionelle[n] Shakespeare“ anspricht, so sieht sie ihn einerseits als den Shakespeare der Literaturwissenschaftler, den sie auch den ihren nennt. Gleichzeitig ist es ihr Begriff für den Autor Shakespeare, der sich seinem Beruf verschrieben hat. Die Breite seiner Themen legt nahe, dass er viel gelesen haben muss, von dem er sich das für ihn Relevante aneignet und anverwandelt. Schabert bietet einen guten Einblick in Shakespeares Theaterverständnis, seine Schreibwerkstatt und ihre Kriterien. Sie zeigt exemplarisch an Beispielen aus den Fassungen von King Lear auf, wie er bei der Veränderung der Texte die Situation auf der Bühne berücksichtigt und durch Kürzung die Vertiefung des Effektes erreicht wird. In Othello sieht sie die Reinigung von Flüchen als Reflex auf ein Zensurgesetz von 1604.

Den Abschluss der historischen Interpretationsschulen bildet die jüngste Tendenz, das Verschwinden des Autors hinter dem Werk anzusetzen, das Werk als Ausfluss zeitgenössischer Strukturen zu begreifen. Doch Kulturmaterialismus und Dekonstruktion haben nicht vermocht, den Autor als Person völlig zu tilgen. In neueren Arbeiten tritt der Verfasser wieder auf, und sogar die Autorenintention erlebt eine Renaissance. Gleichzeitig  aber trägt diese Schule dazu bei, die Trennung von Literatur und Politik aufzuheben und Shakespeare als eminent politischen  Autor zu begreifen.

Das Bild des alten Shakespeare sieht Schabert geprägt von Prospero als Selbstporträt des alternden Dichters, der im Tempest den Abschied von der Bühne zelebriert. Dazu verweist sie auf Peter Greenaways Prospero’s Books, das dieses Verständnis deutlich befördert. Dem Alterswerk wurde im 19. Jahrhundert ein altersweiser, nachsichtiger Autor zugeordnet.  Diese organische Entwicklung im Schaffen eines Künstlers stößt, nicht zuletzt durch Erkenntnisse Adornos zu Beethoven, im 20. Jahrhundert auf entschiedenen Gegenwind. Vielmehr werden Abkehr vom Gewohnten, die Freude am Experiment und am Widersprüchlichen als Merkmale aufgewiesen, die sich bei neuerlichem Blick auf Prospero auch in Shakespeares Werk finden lassen. Die offensichtlichen Inkonsistenzen am Ende des Dramas lassen Shakespeare wie einen Rebell erscheinen.

Das letzte der Bilder, das Schabert evoziert, ist das des „entschwindende[n] Shakespeare“, der proteushaft hinter seinen Figuren verblasst, der für seine lost years in jedweder Situation imaginiert wird und ab dem 19. Jahrhundert als Verfasser seiner Werke geleugnet wird, eine Tendenz, die sich bis heute hartnäckig hält und Amateurdetektiven ein weites Spielfeld eröffnet . Eine andere Form des Entschwindens zeigen die Romantiker, die ihn in einer Art Apotheose ins Göttliche erheben und dem Zugriff des einfachen Volkes entziehen.

Jede Zeit, jede Denkrichtung und letztlich jeder Leser, so macht Schabert deutlich, schafft sich sein ganz eigenes Bild von Shakespeare. Dem Theater bietet sich so die Chance, einen Shakespeare zu zeigen, der sich auf aktuelle Themen beziehen lässt, die Wissenschaft ist weit von einer abschließenden, endgültigen Deutung entfernt, und jeder Leser oder Zuschauer findet sich ermutigt, seinem eigenen Shakespeare zu begegnen. Aber Schaberts Buch gemahnt auch zur Vorsicht da, wo sich politische und ideologische Strömungen anheischig machen, Shakespeare als Zeugen für ihre Ansichten zu reklamieren.

Zu guter letzt zwei kleine Anmerkungen. Zitate, so die Absicht, sollen übersetzt werden. Doch weder wird dies durchgehalten noch stimmig durchgeführt, wobei einige simple Sätze ins Deutsche übertragen werden und manch komplexere Aussage unübersetzt bleibt. Insgesamt scheint  eine Übersetzung gar nicht zwingend, etwas mehr Vertrauen in den Leser wäre vielleicht möglich gewesen.  Recht versteckt findet sich ein Hinweis, dieses Buch sei von der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft unterstützt worden. Was nun aber genau dieses Buch auszeichnet, derart gefördert zu werden, erschließt sich nicht.

Es ist auch nicht klar, welchen Leser sich Schabert vorgestellt hat. Die historische Ausrichtung der mittleren Kapitel auf theoretische Schulen bewegt sich ein wenig fort von dem auf den common reader ausgerichteten Rest des Buches, den ja schon die knappe, aber hilfreiche Auswahl der Literaturhinweise am Ende eines jeden Abschnittes suggeriert. Aber es ist eine anregende, gut zu lesende Einführung in die Spannbreite und Unauslotbarkeit Shakespeares. Dabei sind die jedem Kapitel vorangestellten Bilder eine zusätzliche Anregung und ein Genuss.

Titelbild

Ina Schabert: Shakespeares. Die unendliche Vielfalt der Bilder.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2013.
199 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783520511010

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