Die Weitergabe von Erkenntnis

Über „Wissenstransfer“ von Jan Behrs, Benjamin Gittel und Ralf Klausnitzer

Von Moritz Senarclens de GrancyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Moritz Senarclens de Grancy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Begriff „Wissenstransfer“ bezeichnet epistemische Transferhandlungen aller Art. In dieser Bedeutungsvarianz des Ausdrucks liegt zugleich seine Problematik, ist er doch von grundlegender Bedeutung für die Wissenschaften. Es fehlte bislang eine ausführliche Dokumentation des Gesamtkomplexes sowie eine Zusammenfassung der Konzepte zum Thema Wissenstransfer. In diese Lücke stößt die kulturtheoretische Untersuchung des Autorentrios Jan Behrs, Benjamin Gittel und Ralf Klausnitzer.

Wissen ist ohne seinen Transfer undenkbar und steht immer schon in einem komplexen soziokulturellen Traditionsgeflecht. Von Platons Akademie bis zu den Bildungseinrichtungen unserer Tage vollzog sich die Weitergabe von Wissen stets über epistemische Einschnitte und Traditionsbrüche hinweg. Der Band widmet sich daher zunächst dem Wissensbegriffs, der von den Autoren vor dem Hintergrund der Wahrheitsbedingungen von zeitgenössischen Akteuren und Institutionen beleuchtet wird: Johann Wolfgang von Goethes Farblehre etwa stellt heute kein gültiges Wissen mehr dar, konnte zu seiner Zeit jedoch epistemische Geltung beanspruchen. Wichtig ist auch die Frage der Autorenschafft; selbst im Zeitalter von Wikipedia ist die Geltung von Wissen von der Überzeugungskraft eines oder mehrerer Produzenten abhängig. Dies gilt auch für die Metaebene des schwer fassbaren Prozesswissens, also des alltäglichen Könnens beispielsweise, das über langwierige Instruktionsvorgänge und Lernprozesse vermittelt wird.

Was den Wissenstransfer selbst angeht, lassen sich hierunter alle Akte der Kommunikation von Wissen fassen. „Epistemische Grenzüberschreitungen“ tragen dazu bei, Kenntnisse über die jeweiligen Bedingungen ihrer Entstehung hinaus zu sichern – wobei bestimmte Bestände bewahrt, andere aber verändert werden. Die Dublikation von Büchern im Skriptorium eines mittelalterlichen Klosters lässt sich unterdessen nicht immer als Wissenstransferprozess qualifizieren, sofern die sich einschleichenden Abschreibfehler gerade kein akzeptiertes Wissen seien.

Mit der Grenzmetapher streben die Autoren eine topologische Modellbildung des Wissenstransfers an, sofern „Grenzen“ Räume markieren, die Wissen ein- beziehungsweise ausschließen. Diese werden mit Blick auf die Schwierigkeiten einer Rekonstruktion von Wissenstransfers erforderlich, um „Herkunftsbereiche“ von Wissen sowie „Hybridisierungen“ aus unterschiedlichen Wissensbereichen bestimmen zu können. Im Grunde entsteht jede neue Wissensordnung als eine Hybridisierung vorgängiger Wissensformationen, weshalb eine Eingrenzung von Wissen zur Sichtbarmachung epistemischer Konstellationen vernünftig erscheint.

Besonderes Augenmerk fällt der Rolle der Sprache zu, die im Kontext des Wissenstransfers konservierende als auch performative Funktionen innehat. Dabei wirft der Transfer einzelner Begriffe und Metaphern eigene Fragen auf, sofern hier der Sprachgebrauch mit seinen impliziten komplexen Denkfiguren eigenständige Untersuchungen einfordern würde. Ungeachtet dessen untersuchen die Autoren die Parameter für einen erfolgreichen Wissenstransfer: Aus der Schule ist jedem bekannt, dass Wissen asymmetrisch vermittelt wird. Lehrer wecken anhand von Fragen und Problemstellungen die Reflexionsleistung der Schüler und üben sie darin, Reformulierungsnotwendigkeiten zu erkennen und auszufüllen. Dass Wissenstransfer indessen auch ohne Reproduktion von Überlegenheit und Unterlegenheit möglich ist, zeigen die Verfasser am Beispiel des im frühen 19. Jahrhunderts in Frankreich wirkenden Gelehrten Joseph Jacotot, der ausgehend von der Übersetzung eines Textes die Lernenden dazu anhielt, selbst die Schritte auszuwählen, die ihnen Verstehen und Lernen ermöglichen. Hieran knüpft sich die Frage des Laiendiskurses und dessen spezifische Problematik der Glaubwürdigkeitserzeugung.

Die Ubiquität des Phänomens epistemischer Transferprozesse gestattet kaum eine vollständige Systematisierung, wie die Verfasser selbst einräumen. Insbesondere die impliziten Vorgänge des Lernens und Lehrens erweisen sich als schwer zugänglich; sie ermöglichen es jedoch, Beobachtungen anzustellen und zu ordnen, um diese mit problematisierenden Fragen zu verbinden und neue Wissensansprüche zu formulieren. Der Band fokussiert daher in einem weiteren Abschnitt Prozesse des Erwerbs von Regel- und Anwendungswissen anhand von wissenschaftshistorischen Exempeln.

Charles Darwins Umgangsformen mit epistemischen Dingen eignet sich gut zur Veranschaulichung der Bedeutung von Benennungen und Klassifikationen – sowie weiterer fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten, die Darwin während des Studiums in Edingburgh und Cambridge erlernte und eigenständig vertiefte. Seine wegweisenden Zeichnungen von Vögeln entstanden in Kooperation mit dem Tierpräparator John Gould und sind ihrerseits wiederum das Ergebnis verschiedener Austauschprozesse, im Zuge derer sich bei Darwin Einsichten in übereinstimmende und abweichende Merkmale ergaben. Zur Erklärung dieser Devianzen griff Darwin nicht etwa auf göttliche Ordnungsbestände zurück, sondern folgte der Annahme, dass sich neues Regelwissen auch und gerade unter Annahme von Veränderlichkeit, Zufall und Unordnung aufstellen ließe. Hinzukommt die Bedeutung des Kombinierens und Variierens zur Formulierbarkeit neuer Wissensansprüche: Erst Thomas Malthus Bevölkerungslehre lieferte Darwin eine Theorie zur Erklärung der eigenen Beobachtungen. Schließlich führen Rezeptionsprozesse zur Verbreitung neuer Wissensansprüche mittels Publikationen, Expertenrunden und öffentlicher Diskussion. Das rasche Bekanntwerden der Theorien Darwins war eng verknüpft mit ihrer Verbreitung auch in Gestalt von Karikaturen und anderen popularisierenden Darstellungen sowie durch Transfers mit gleichgesinnten Kollegen benachbarter Fachdisziplinen.

Die Grenzüberschreitungen im Wissenstransfer vollziehen sich demnach zwischen Wissenschaften, Kulturen, Sprachen und Subjekten – insbesondere auch mit dem Ziel, durch Wissensimporte Probleme in Nachbardisziplinen zu lösen. Als Beispiel dient den Autoren die theoretische Blutwäsche, die die Literaturwissenschaft durch Oskar Walzels kunsthistorischen Wissenstransfer – in Gestalt des formalistischen Ansatzes von Heinrich Wölfflin – erfuhr. Der epistemischen Offenheit eines Faches sind dabei Grenzen gesetzt, will es nicht im Zuge der Transformation seine Identität verlieren. Für die Literaturwissenschaft akzeptabler erschien darum Fritz Strichs Konzept der „wechselseitigen Erhellung“. Eine extrem selektive Form der Interdisziplinarität stellt ferner der metaphorisierende Transfer dar; er nimmt das Isolat eines Wissensbausteins aus einer Theorie zum Ausgangspunkt komplexer neuer Anschlussüberlegungen.

Die Rolle von Akteuren und Institutionen für die Wissensproliferation beleuchten die Autoren vor dem Hintergrund antiker Lehreinrichtungen sowie der Etablierung der Schriftkultur und ihrer Folgen für den Umgang mit Wissen. Raffaels Fresko La scuola di Atene (1510) bietet Gelegenheit, antike Praktiken der Weitergaben von Wissen anhand von unmittelbaren Interaktionen zwischen den personalen Trägern von Wissensansprüchen zu studieren. Vorgänge des Disputierens und Zeigens, Hörens und Schreibens, Abwägens und Zweifelns, Zustimmens und Zurückweisens fundieren die institutionalisierten Bahnen des Wissenstransferprozess von der frühen Neuzeit an, als deren Gründungsakte bis heute Platons Akademie und Aristoteles Lykeion gelten. Von gleich hoher Bedeutung ist die Mediatisierung des Wissens anhand von Abschriften insbesondere isagogischer Schriften wie etwa Ciceros De inventione zur Sicherung und Weitergabe stabiler Wissensbestände an nachfolgende Schüler. Als vertrauensbildende Maßnahme in das Medium Schrift musste allerdings zunächst die Wahrheit vom Mythos getrennt werden, zumal bis 500 v. Chr. Lehrwerke als Lehrgedichte in Versform abgefasst waren. Der jahrhundertlange Trennungsprozess von „Wissen“ und „Poesie“ kulminierte in Aristoteles Lehrwerk Über die Poetik, das erstmals eine systematische Verwendung von Begriffen zugrundelegte und damit die Basis für eine sachliche und distanzierte Bearbeitung eines kulturellen Problems schuf, welches im Fortgang zu einem Gegenstand epistemischer Verhandlungen werden konnte.

Die Antike veranschaulicht auch, dass die Weitergabe von Wissen nicht ohne Archivierung gelingt. Die Bibliothek des Aristoteles in Athen sowie jene der ptolemäischen Könige im Museion von Alexandia sind Muster des Sammelns und Tradierens von Wissensbeständen, die für die Universalbibliotheken von Klöstern und Universitäten paradigmatisch wurden.

Insgesamt legen die Autoren eine vorbildliche Darstellung der Feinheiten von Wissenstransferprozessen vor. Überzeugend gelingt der kulturhistorische Bogen der Untersuchung von der Antike über die frühe Neuzeit bis zur Neuausrichtung des Umgangs mit Wissen im Zuge der deutschen Universitätsgründungen um 1800. Die Lektüre gewinnt insbesondere dort das Interesse des Lesers, wo Aspekte des Wissenstransfers an phänotypischen Fällen der Wissenschaftshistorie erläutert werden können. Interessant wäre überdies eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage gewesen, inwieweit die vermittelnde Modellierung von Wissen mit Blick auf den linguistic turn eine elementar narrative Aktivität darstellt, als deren Folge Erzähltheorien zur Masterscience der Wissensvermittlung erklärt werden könnten.

Titelbild

Jan Behrs / Ralf Klausnitzer / Benjamin Gittel: Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
304 Seiten, 57,95 EUR.
ISBN-13: 9783631591109

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