Frauenstudium und Hochschulkarriere

Türkei und Deutschland im Vergleich

Von Heinz-Jürgen VoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinz-Jürgen Voß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Çiğdem Borchers ist eine umfassende Vergleichsstudie zu Studium und wissenschaftlicher Karriere von Frauen in Deutschland und der Türkei gelungen. Die Studie ist tiefgründig und zugleich anschaulich – auch durch zahlreiche Grafiken und Tabellen.

Interessant ist schon der Blick auf die aktuelle Situation:

Während sich die Bundesrepublik Deutschland gern als emanzipatorisch darstellt, indem Anstrengungen zur wissenschaftlichen Karriere von Frauen öffentlichkeitswirksam aufbereitet werden, ist in der Bundesrepublik Deutschland die Situation in der Türkei weitgehend unbekannt. Dort liegt der Frauenanteil beim gesamten wissenschaftlichen Personal bei 41,5% (Zahl: 2008/2009) – von 2003 bis 2008 hatte er noch einmal um 3% zugelegt. Bezogen auf die Professuren liegt der Frauenanteil bei 27,8% im Jahr 2008/2009 (2003 waren es noch 26%). 34,5% der neuberufenen Professor/-innen waren Frauen. In Deutschland waren 2002 12% Professuren mit Frauen besetzt, unter anderem durch Förderprogramme der Bundesregierung wurde 2012 ein Anteil von 20% erreicht.

Türkei:

Die Autorin wirft einen nüchternen und analytischen Blick auf das Frauenstudium und die Karrierewege von Frauen. Dabei fokussiert sie die geschichtliche Entwicklung in der Türkei, die sie in sieben Phasen untergliedert – beginnend mit Entwicklungen im Osmanischen Reich seit dem Jahr 1839. Borchers betrachtet gesetzliche Regelungen, Frauenbewegung, die soziale und rechtliche Lage der Frauen, Fragen rund um Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit und politische Einflüsse wie die Republikgründung – immer mit Blick auf Bildung, Frauenstudium und Karrieremöglichkeiten. Ihre Analyse ist stets facettenreich – die jeweiligen Entwicklungen werden aus den verschiedenen Perspektiven betrachtet, analysiert und erläutert. Zur aktuellen Politik der AKP ist die Autorin skeptisch: „Hinsichtlich der Frauenfrage zeigt sich die AKP-Regierung wenig frauenfreundlich. Neben dem Vorwurf, sie würden den Männern Arbeitsplätze wegnehmen, wird den Frauen nur noch die traditionelle Geschlechterrolle als Ehefrau und Mutter zugestanden, so dass die Frauenrechtlerinnen an vielen Fronten zu kämpfen haben.“

Deutschland:

Deutscher Überheblichkeit beugt die Autorin durch eine detailreiche und komprimierte Untersuchung der aktuellen Situation von Wissenschaftlerinnen in der Bundesrepublik und eine sehr gute historische Analyse vor. Dabei blickt sie ebenfalls tief und zeigt, wie das Ziel des Frauenstudiums bereits von der deutschen Frauenbewegung staatstragend betrieben wurde. Louise Otto-Peters (1819–1895) äußerte etwa 1843: „Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht.“ Borchers hält entsprechend für die deutsche Frauenbewegung fest: „Emanzipation steht nicht im Dienste der Frau um ihrer selbst und ihrer Menschenwürde willen.“ Trotz dieser Zurückhaltung und der staatstragenden Orientierung entging die Frauenbewegung nach der Niederschlagung der Revolution 1848/49 nicht den staatlichen Repressalien, den Versammlungs-, Vereins- und Publikationsverboten. Ein reguläres Studium von Frauen in Deutschland wurde erst nach und nach ab 1900 erreicht. Borchers konstatiert, dass im Vergleich mit den Nachbarländern, den USA und Russland, die Entwicklung in Deutschland „ängstlich und rückständig“ verlief. Rechtfertigten Männer zunächst den Ausschluss von Frauen vom Studium damit, dass Frauen dazu nicht in der Lage wären, so verlagerte sich die Debatte danach: Frauen wurden Karrieremöglichkeiten nach dem Studium verwehrt, insbesondere ihre Fähigkeit, Dozentin oder Professorin zu sein, in Frage gestellt.

Auch aktuelle Befragungen ergeben hier keine grundlegende Änderung: Bei „den befragten Männern [herrscht] die Ansicht [vor], die Frauen seien in erster Linie für die Familie zuständig, und es wird von ihnen eine Entscheidung zwischen Beruf und er Rolle als Mutter verlangt. […] Die befragten Professorinnen gegeben […] an, dass Benachteiligung und Diskriminierung der Frauen im Universitätsalltag Realität seien. Ferner beklagen sie die fehlende Akzeptanz der Familienarbeit und den Mangel an Rahmenbedingungen, die ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern würden. Überraschend ist, dass die Hochschullehrerinnen trotz ihrer deutlichen Kritik sehr oft die typischen Ausschlussargumente ihrer Kollegen übernehmen…“

Fazit:

Das Buch „Frauenstudium und Hochschulkarrieren in der Türkei“ von Çiğdem Borchers liefert einen umfassenden Blick auf Studium und Karrieremöglichkeiten von Frauen in der Türkei, mit vergleichendem Blick auf Deutschland. Dafür hat die Autorin weit mehr als 800 Quellen und wissenschaftliche Arbeiten gesichtet und stellt den Ertrag – anschaulich und gut lesbar – zusammen. Die Arbeit eignet sich damit als Grundlagenwerk für sich anschließende wissenschaftliche Ausarbeitungen – und zugleich ist die Arbeit ein Fingerzeig gegen allzu einfache und holzschnittartige Erklärungen, wie sie populär aktuell die Regel sind und leider auch wissenschaftlich um sich greifen.

Titelbild

Cigdem Borchers: Frauenstudium und Hochschulkarrieren in der Türkei. historische Entwicklungen vom 19. Jahrhundert bis heute mit vergleichendem Blick auf Deutschland.
Waxmann Verlag, Münster ; New York, NY ; München ; Berlin 2013.
507 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783830929529

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