„Über Ländergrenzen hinaus“

Der Deutsche Buchpreis und seine Wirkung

Von Karin HouscheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin Houscheid

Kaum eine literarische Auszeichnung sorgt alljährlich für so viel Aufregung wie der Deutsche Buchpreis. Nach Bekanntgabe der zwanzig Longlist-Titel wird gelobt und getadelt, vermisst und verschmäht, spekuliert und kritisiert. Dabei verlieren einige Kritiker die eigentliche (und durchaus legitime) Absicht des Börsenvereins aus den Augen: „über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.“ Dazu werden gezielt verschiedene Mittel eingesetzt, wie zum Beispiel Medien-Partnerschaften mit dem Spiegel oder dem Deutschlandfunk, Werbepakete für die Buchhändler, Blind-Date-Lesungen für die Leser sowie internationale Kooperationen mit dem Goethe-Institut oder New Books in German.

Auch wenn einige Akteure des Literaturbetriebs ihn aufgrund dessen als Marketing-Preis abtun, sind Popularität und Erfolg des Buchpreises sowohl Ursache als auch Konsequenz der polemischen Auseinandersetzung mit seinen Praktiken. Und mag nicht selten Uneinigkeit über die literarische Qualität der Preisträger herrschen, ist die Wirkung des Preises doch nicht zu leugnen, denn trotz eines nicht zu verneinenden literarischen Anspruchs waren bisher alle Gewinner-Romane während mehrerer Wochen in den oberen Rängen der Bestsellerlisten vertreten. Das macht den Deutschen Buchpreis zu einer der wenigen literarischen Auszeichnungen, denen es gelingt, eine breite Leserschaft für ihre Laureaten zu erschließen. Zum Vergleich: Seit dem Jahr 2000 haben es nur sechs der vierzehn Gewinner des prestigeträchtigen und allseits anerkannten Büchner-Preises auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. So scheint wohl weniger das Prestige als vielmehr die Aufmerksamkeit, die dem Deutschen Buchpreis und seinen Preisträgern zuteil wird, Auswirkungen auf dessen Breitenwirkung zu haben.

Für die Wirkung des Buchpreises über Ländergrenzen hinaus sind die mediale Aufmerksamkeit, die Erschließung eines breiten Lesepublikums und nicht zuletzt das symbolische Kapital, das die Auszeichnung nicht nur für den deutschsprachigen, sondern auch für den fremdsprachigen Verlag einbringt, ein schlagendes Argument für den Ankauf von Übersetzungslizenzen. Ausnahmslos alle Buchpreis-Gewinner wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Der Erfolg von Julia Francks Die Mittagsfrau mit 36 verkauften Lizenzen bleibt jedoch bis dato beispiellos. Dass die Auszeichnung für einen Autor auch nachwirken kann, zeigt sich am Beispiel Arno Geiger: Von seinem preisgekrönten Roman Es geht uns gut (Preisträger 2005) gingen 16 Lizenzen an fremdsprachige Verlage, während der 2011 erschienene Roman Der alte König in seinem Exil 26 Abnehmer fand. Doch nicht immer finden die Lizenzen der Gewinner des Deutschen Buchpreises so reißenden Absatz. Die Preisträger der letzten beiden Jahre erreichten den Durchschnitt von 16 verkauften Lizenzen nicht einmal annähernd.

Der Roman Das Ungeheuer von Terézia Mora, zum Beispiel, konnte aufgrund der geringen medialen Aufmerksamkeit (zum Vergleich: das Innsbrucker Zeitungsarchiv verzeichnet 72 Einträge zu Die Mittagsfrau gegenüber 43 für Das Ungeheuer) und seiner ungewöhnlichen Gestaltung nicht nur weniger Leser als andere Preisträger im deutschsprachigen Raum für sich gewinnen, sondern kann zudem als schier unübersetzbar gelten. Damit ist weniger die sprachliche Unübersetzbarkeit gemeint als vielmehr die verlegerische. Kaum ein fremdsprachiger Verlag scheint das finanzielle Risiko einer Übersetzung eines solch umfangreichen (688 Seiten) und gestalterisch anspruchsvollen Romans eingehen zu wollen, bei dem Druck- und Übersetzungskosten in keinem Verhältnis zu den Umsatzprognosen stehen. So wurden nur drei Lizenzen ins Ausland verkauft, nämlich nach Ungarn (Herkunftsland der Autorin und der zentralen Romanfigur Flora sowie einer der Schauplätze des Romans), in die Türkei und nach Frankreich, dem wichtigsten Land für die Lizenzvergabe ins Ausland.

Denn entgegen der allgemeinen Auffassung gehört der englischsprachige Buchmarkt mitnichten zu den wichtigsten Märkten für deutschsprachige Verlage. Obwohl es für einen deutschsprachigen Verlag äußerst schwer ist, Lizenzen in den englischsprachigen Markt zu verkaufen, konnten bisher sechs von neun Buchpreis-Romanen dort untergebracht werden. Nichtsdestoweniger gehören nicht England oder die USA zu den zehn wichtigsten Ländern für den Lizenzverkauf, sondern Frankreich. Nach Englisch und Japanisch gehört Deutsch zu den Sprachen, aus denen am häufigsten ins Französische übersetzt wird. Bis auf Ursula Krechels Landgericht (2012) und Kathrin Schmidts Roman Du stirbst nicht (2009) wurden alle Buchpreis-Gewinner ins Französische übertragen.

Der Wunsch des Börsenvereins, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit für deutschsprachige Autoren zu schaffen, bedeutet allerdings nicht nur, mittels sprachlicher Aneignung der Werke wahrgenommen zu werden, sondern impliziert auch das Bedürfnis, mit alteingesessenen Vorurteilen aufzuräumen und das Bild der eigenen Literatur zu korrigieren. Indem mit Hilfe des Deutschen Buchpreises deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Ausland propagiert wird, schafft der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ein kulturelles Korrektiv zum veralteten Deutschlandbild.

In Bezug auf die deutsch-französischen Literaturbeziehungen kommt diesem Korrektiv eine besondere Bedeutung zu, hat doch Germaine de Staël in ihrer 1813 veröffentlichten Schrift Über Deutschland, die bis heute das französische Deutschlandbild prägt, das Vorurteil bekräftigt, deutsche Schriftsteller fänden „an der Dunkelheit Vergnügen: oft versenken sie lieber das, was klar am Tage lag, in tiefe Nacht, ehe sie dem gebahnten Weg folgen.“

Das Streben nach einem Korrektiv wird aber nicht unbedingt von den ausländischen Verlagen als solches wahrgenommen. Denn die Auszeichnung eines Romans wie demjenigen Moras mit dem Buchpreis, der in diesem Fall seine Wirkung im deutschsprachigen Raum und über dessen Grenzen hinaus verfehlt hat, hat mit Sicherheit nicht zu Widerlegung jener landläufigen Vorurteile beigetragen. In gewissen Fällen nehmen die Übersetzungsbemühungen sogar kuriose Züge an, wie im Fall der französischen Übersetzung der Mittagsfrau. So beschreibt Flammarion Julia Franck als die deutsche Autorin par excellence, ein Kind der DDR, das nicht nur über deutsche Geschichte schreibt, sondern sie auch selbst erlebt hat. Die Übersetzung trägt den für französische Leser zwar literarisch korrekt übersetzten, jedoch nichtsagenden Titel La Femme de midi, während (wenn auch nur wenige) deutsche Leser die Mittagsfrau mit der gleichnamigen slawischen Sagengestalt verbinden.

Zudem erweist sich die Übersetzerin als besonders eifrig und lässt den Leser an ihrem bei den Straelener Atriumsgesprächen erworbenen Wissen teilhaben. Übersetzerin und Verleger wählen dafür eine für einen Roman recht ungewöhnliche Form. Die Übersetzung ist mit insgesamt 46 Fußnoten ausgeschmückt, die sich nicht nur auf Personen, Daten und Orte beziehen, sondern auch intertextuelle Bezüge erläutern. Aus einem Roman wird ein Geschichtsbuch, das die Leser unterweisen will und ihnen signalisiert, dass deutsche Literatur tatsächlich schwerfällig und dunkel ist und eines Lektüreschlüssels bedarf. La Femme de midi dient nicht mehr nur dem Lesegenuss, sondern dem Gedenken an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und der Belehrung der Leser. Obwohl sich die französische Übersetzung eher an ein belesenes Publikum mit einer Affinität für die großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts richtet, fand La Femme de midi breiten Zuspruch. Auf die Erstausgabe folgte eine Taschenbuchausgabe; beide zusammen verkauften sich mehr als 15 000 Mal. Julia Franck, von den deutschen Lesern wegen ihres bildreichen Stils und der Sinnlichkeit ihrer Werke geschätzt, wird zur Hofmeisterin aus einem immer noch von den Gespenstern der Nazi-Zeit heimgesuchten Land. Die Absatzzahlen der Übersetzung weisen aber darauf hin, dass La Femme de midi der Erwartungshaltung der französischen Leser gegenüber deutscher Literatur entspricht, denn auch sie sind der Meinung, dass „dieses Werk die zahllosen ‚Wunden’, die der Krieg hinterlassen hat, besonders gut beschreibt, vor allem die unsichtbaren, die die Herzen und Leben der Opfer auf ewig verstümmeln“ (so die Amazon-Kundenrezension eines französischen Lesers).

Im Fall des im Ausland erfolgreichsten Buchpreis-Romans Die Mittagsfrau ist das Bestreben nach einem Klischee-Korrektiv für den wichtigen französischen Markt nicht geglückt. Das veraltete Bild deutscher Literatur wird durch die verlegerischen Entscheidungen bei Flammarion, aber im Falle von Mora auch durch die Jury-Entscheidung lediglich bekräftigt. Dass der Deutsche Buchpreis deutschsprachigen Autoren über Ländergrenzen hinaus zu mehr Aufmerksamkeit verhilft, lässt sich nicht abstreiten. Die Effizienz einer literarischen Auszeichnung als kultureller Motor eines neuen Deutschlandbildes sei jedoch dahin gestellt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen