Grauenhaftes Spiel mit Religionen

Zu Georg Trakls Gedicht „Die tote Kirche“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

1909 schrieb Georg Trakl das Gedicht „Die tote Kirche“, doch zu Lebzeiten des vor 100 Jahren gestorbenen Dichters ist es nie erschienen. Lyrikanthologien haben es bis heute gemieden, Interpreten ignoriert. Gehört es zu den Gedichten, die Georg Trakl missglückt sind? Gewiss nicht. Es spricht von Gesang, vom Klang der Glocke oder vom Rauschen der Orgel, und es ist wie alle Gedichte Trakls selbst durch und durch Musik. Die rhythmische Wiederholung und Variation gleicher Laute, Wörter, Bilder und Motive, deren Sinn oft vage bleibt, rufen Stimmungen und Emotionen hervor, die einige Verse ausdrücklich benennen: innere Lähmung, Wut, Trauer, Verzweiflung und Angst. Der hohen Kunst der Emotionalisierung, die an vielen anderen Werken Trakls so geschätzt wird, steht dieses Gedicht nicht nach.

Die tote Kirche
Auf dunklen Bänken sitzen sie gedrängt
Und heben die erloschnen Blicke auf
Zum Kreuz. Die Lichter schimmern wie verhängt,
Und trüb und wie verhängt das Wundenhaupt.
Der Weihrauch steigt aus güldenem Gefäß
Zur Höhe auf, hinsterbender Gesang
Verhaucht, und ungewiß und süß verdämmert
Wie heimgesucht der Raum. Der Priester schreitet
Vor den Altar; doch übt mit müdem Geist er
Die frommen Bräuche – ein jämmerlicher Spieler,
Vor schlechten Betern mit erstarrten Herzen,
In seelenlosem Spiel mit Brot und Wein.
Die Glocke klingt! Die Lichter flackern trüber -
Und bleicher, wie verhängt das Wundenhaupt!
Die Orgel rauscht! In toten Herzen schauert
Erinnerung auf! ein blutend Schmerzensantlitz
Hüllt sich in Dunkelheit und die Verzweiflung
Starrt ihm aus vielen Augen nach ins Leere.
Und eine, die wie aller Stimmen klang,
Schluchzt auf – indes das Grauen wuchs im Raum,
Das Todesgrauen wuchs: Erbarme dich unser –
Herr!

Es müssen andere Gründe sein, die Trakls kirchenkritischem Kirchengesang den Zugang zum Kanon der immer wieder nachgedruckten, zitierten und interpretierten Gedichte verwehren. Ich habe drei Vermutungen: Manchen ist es zu unfromm, anderen zu fromm. Und einigen ist es gleichgültig, weil die angesprochenen Probleme für sie heute nicht mehr existieren. Jede dieser Reaktionen wäre verständlich. Ich kenne kein Gedicht der modernen Literatur, das innerhalb von vier Zeilen mit solcher Deutlichkeit und Aggressivität die Hohlheit „frommer Bräuche“ angreift. Die durch das Orgelspiel geweckte Erinnerung an eine ehemals lebendige Form des Glaubens macht der Kirchengemeinde die zur „seelenlosen“ Konvention erstarrte Jämmerlichkeit der Institution und die eigene Lethargie bewusst. Zugleich gibt es wenige Gedichte, die mit derartiger Intensität die emotionalen Folgen des erkannten Verlustes beschwören. Die Eruptionen von Verzweiflung und Angst am Ende sind allerdings weniger beklemmend als die bis dahin dominierenden Bilder müder Erstarrung. Sie sind wie das blutende „Schmerzensantlitz“ des Gekreuzigten Zeichen einer Lebendigkeit und authentischen Frömmigkeit, die in der toten Kirche verloren gegangen waren.

Damit entspricht Trakls Gedicht Mustern einer unter seinen Zeitgenossen weit verbreiteten Kulturkritik, die im Namen des „Lebens“ die vitalitätstötenden Konventionen und Institutionen ihrer Zeit vehement attackierte. Zugleich hat das Gedicht Anteil an einem frömmigkeitsgeschichtlichen Prozess, in dem sich religiöse Gefühle, wenn sie sich noch nicht verflüchtigt haben, von den Institutionen, die sie professionell und rituell lenken, ablösen und individualisieren. Einer der Kultautoren der jungen Schriftstellergeneration um 1910 war neben Nietzsche, dessen Beschwörung von Gottes Tod alle kannten, der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard. Er hat diesen Prozess auf eine von ihr bewunderten Weise durchlitten und beschrieben.

Die emotionale Dramatik des historischen Vorgangs und damit auch die von Trakls Gedicht lässt sich, zumindest in westlichen Kulturen, heute kaum noch nachvollziehen. Auf religiöse Schauspiele und Schauspieler, die uns unglaubwürdig erscheinen, reagieren wir kaum noch mit Wut oder Grauen, sondern eher mit Gelassenheit. Im negativsten Fall erscheinen sie uns lächerlich oder anmaßend, oft begegnen wir ihnen mit Befremden, zuweilen mit Sympathie und gelegentlich sogar mit Bewunderung. Wir wissen, dass es mit Religion eine ähnliche Bewandtnis hat wie mit Musik oder Literatur. Sie kann Halt geben oder zu fatalen Illusionen führen, Phantasie, Gefühl, Denken und Handeln Bewegung setzten oder lähmen, Widerstandskräfte gegen Inhumanität mobilisieren oder missbraucht werden.

Trakls Blick auf jämmerliche Spieler mit religiösen Ritualen scheint allerdings in der Übertragung auf ein Phänomen des Missbrauchs, das sich gegenwärtig in ganz unterschiedlichen religiösen Kulturen wieder häuft, Aktualität zu behalten. Da nämlich, wo sich in der Sphäre der Politik öffentliche Ansprachen oder Amtshandlungen frommer Bräuche bedienen. Wo sich hier sogar Gewalt mit Zeichen der Religiosität umgibt, wie es Trakl selbst in den Monaten vor seinem Tod in zahllosen Kriegsgedichten und nicht nur dort wahrnehmen konnte und wie es uns heute an vielen anderen Kriegsschauplätzen neu vorgeführt wird, ist man versucht, ihn mit dem Schreckensruf zu zitieren: „Erbarme dich unser“.

Hinweise:

Das Gedicht ist unter anderem abgedruckt in Georg Trakl: Sämtliche Gedichte. Insel Taschenbuch, Berlin 2014. Die Interpretation ist die etwas überarbeitete Version eines Beitrages, der am 11.3.2006 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Rahmen der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen „Frankfurter Anthologie“ erschien.

Nachtrag am 19.11.14: Eben erst entdecke ich, dass Trakls Gedicht auf etlichen Web-Seiten, ohne seinen Namen zu nennen, als Song-Text der österreichischen Band L‘Ame Immortelle veröffentlicht wurde. Hier der Song bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=QRIoQqAQLeg

Anmerkung der Redaktion:

Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.