Die Köpfe besetzen

Thomas Niehr führt in die Politolinguistik ein

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kampf um die richtigen Wörter ist schon immer ein fester Bestandteil der politischen Kommunikation gewesen. Ständige Begleiter dieses Kampfes sind aber auch die Rhetorik und die Sprachkritik gewesen. Nun ist in den letzten Jahrzehnten eine neue Disziplin dazugekommen – die Politolinguistik. Sie ist ruhig, zurückhaltend, vornehm. Ganz anders als die herrische Rhetorik, die Normen setzt und im politischen Sprachgebrauch die ars bene dicendi diktieren will, anders auch als die wertende, die Normen attackierende, oft polternde, zuweilen schrille Sprachkritik. Zwar räumt auch die Politolinguistik ein, dass politische Sprache „manipulativ“ ist und auf die Beeinflussung der Rezipienten zielt, sie versteht sich jedoch vorrangig als „deskriptive“ Wissenschaft, die keine Anleitungen gibt und keine Vorschriften macht, keine Techniken der Manipulation durch Sprache vermittelt und auf jegliche Wertung politischer Sprache verzichtet. Ebenso wenig ist es ihr Ziel, in den politischen Prozess einzugreifen.

Entwickelt und allmählich etabliert hat sich die Politolinguistik als Zweig der Sprachwissenschaft erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie will beschreiben, analysieren und erklären: die politische Sprache überhaupt – etwa die Sprache der meinungsbildenden Medien – und nicht nur die Sprache der Politiker. In Deutschland hat sie besonders viele und schwierige Aufgaben: die Erforschung der Sprache des Nationalsozialismus, des durch die deutsche Teilung entstandenen Sprachgebrauchs, der Sprache der „Wende“ sowie der „Postwende“.

Thomas Niehrs „Einführung in die Politolinguistik“ ist ein kompetent und verständlich geschriebenes Arbeitsbuch, das einen guten Einblick in den Gegenstandsbereich, die Geschichte, die Aufgaben und die Methoden der früher „namenlosen“ Disziplin gewährt. (Der Begriff „Politolinguistik“ wurde 1996 von Armin Burkhardt geprägt. Von ihm stammt auch die Bezeichnung dieser Disziplin als „namenlos“.) Mit klarer und nüchterner Diktion präsentiert Niehr seine Definitionen, fasst Erkenntnisse zusammen, erklärt Probleme und Herangehensweisen und zeigt Lösungswege auf. Der Analyse der Wortebene folgen jeweils die Analyse der Textebene und der Diskursebene. Nicht einmal das Phänomen der Intertextualität wird in dieser systematischen Analyse und Darstellung der Methoden und Analyseobjekte der Politolinguistik ausgelassen. Die angeführte Bibliografie ist hilfreich und vorbildlich integriert, ebenso die zahlreichen Beispiele. Am Ende des Buches werden konkrete Aufgaben gestellt und anschließend Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen.

Niehrs Buch hat aber auch eine dynamischere, beinahe unterhaltsame Seite. Er analysiert mehrere TV-Duelle und Dispute (zum Beispiel zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber oder zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder), rollt die Geschichte einiger politischer Debatten und Kontroversen wieder auf (beispielsweise den Skandal um Martin Walsers Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche 1998 oder die Affäre um den ehemaligen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn), untersucht sprachliches Handeln in Zusammenhang mit brisanten politischen Themen und Ereignissen (etwa Jan Philipp Reemtsmas Entführung) und zitiert auch Hans Jürgen Heringers lustig-ironische Maximen zum Aufbau kommunikativer Macht (etwa die Aufforderung: „Nur die blanke Behauptung! Geh nicht auf Gegenargumente ein […]“), wobei er nie ins Unseriöse abgleitet. Und er bezieht verschiedene politische Akteure ein, führt immer wieder von Politikern geprägte Schlagwörter und Wortneuschöpfungen an (zum Beispiel Karl-Theodor zu Guttenbergs „kriegsähnliche Zustände“ oder Kurt Biedenkopfs „Begriffe besetzen“), mit denen die politische Kommunikation immer wieder „emotionalisiert“ worden ist, spielt Schlagwörter, Fahnenwörter und Stigmawörter durch.

Das Buch spiegelt die Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenz in der politischen Sprache und im politischen Handeln wider und weist somit den politischen Raum wirkungsvoll als Arena des „Streits um Worte“ (Hermann Lübbe), des Wettstreits um die Besetzung nicht nur der Begriffe, sondern auch der Köpfe aus. Etwas vage bleibt im Buch lediglich die Konkurrenz der Disziplinen, die diesen Wettstreit verfolgen und erforschen und die Möglichkeiten einer Kooperation oder sogar Symbiose zwischen ihnen. Und störend ist manchmal auch der Überlegenheitsgestus, mit dem die „methodischen Standards“ der Politolinguistik hervorgehoben werden, um die Errungenschaften der konkurrierenden Disziplinen oder früherer Forschungen herabzusetzen.

Titelbild

Thomas Niehr: Einführung in die Politolinguistik. Gegenstände und Methoden.
UTB für Wissenschaft, Göttingen 2014.
192 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783825241735

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