Eigenwillige Schelme

Ein kleiner Feuilletonspiegel zur Vergabe des Literaturnobelpreises an Patrick Modiano

Von Nils DemetryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Demetry

„Eigenwillige Schelme“ seien sie, die Mitglieder des Literaturnobelpreiskomitees. So zumindest formuliert es Dirk Knipphals in der TAZ, denn anstatt den hierzulande bislang weniger bekannten Patrick Modiano am 09. Oktober mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen, hätte man aus seiner Sicht mit Ngugi wa Thiong’o die kenianische Literatur und postkoloniale Kulturen würdigen, mit Swetlana Alexijewitsch (Ukraine) oder Péter Nádas (Ungarn) ein politisches Zeichen setzen können: „Alles Möglichkeiten, die nun nicht genutzt wurden.“

Das Komitee habe es also verpasst, mit der Vergabe ein politisches Zeichen zu setzen. Eine Position, der nicht nur Jo Lendle, Chef des deutschen Modiano-Verlags Hanser, im Tagesspiegel widerspricht: „Man kann nicht mit dem Literaturnobelpreis immer nur aktuell auf Krisensituationen reagieren.“ Man könnte Lendles Zitat noch ergänzen und feststellen, dass der Literaturnobelpreis auch nicht immer nur den Arbeitsökonomien (deutscher) Redaktionsstuben genügen muss, wenngleich diese gemeinsam mit „Verlagen und Regierungskabinetten erst einmal kurz schlucken mussten“ (Joseph Hanimann in der SZ), als der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Peter Englund, den 69-jährigen Franzosen als Gewinner bekannt gab und die Weltöffentlichkeit gleichzeitig darüber informierte, dass man Herrn Modiano bis dato noch gar nicht erreicht hatte: Wie sich später herausstellte, spazierte dieser gerade wie immer durch die Straßen von Paris.

Auch in Modianos Heimat Frankreich war man zunächst überrascht (TAZ). Doch nachdem sich hierzulande der „erste Schock“ gelegt hatte, gewann Modiano langsam an Kontur. Als „schönen Anachronismus“ bezeichnete Iris Radisch in der Zeit die Entscheidung in Stockholm, denn vor dem Hintergrund einer immer professionalisierteren Selbstinszenierung zeitgenössischer Autoren und der Tatsache, dass an Literaturinstituten inzwischen Seminare zum Thema audience development gelehrt und besucht werden, erinnert Modiano fast schon ein wenig an den liebenswürdig-zerstreuten Individualisten Pnin aus Vladimir Nabokovs gleichnamigen Roman: „Als man Patrick Modiano […] endlich vor eine Kamera gesetzt hatte, zuckte er nur mit den Schultern. Er würde selbst gerne wissen, warum man gerade ihn ausgesucht habe, stammelte er. Dann blinzelte er noch ein wenig durch seine schwarze Kastenbrille und war wieder verschwunden.“

Dass ein vermeintlich unbekannter und dazu für die mediale Verwertung denkbar ungeeigneter Schriftsteller den Literaturnobelpreis gewinnt („Er macht den Literaturbetrieb nicht mit.“), stellt Redaktionen in Zeiten von Klickzahlen und Sekundenjournalismus zunächst einmal vor ein Problem. Ein Blick auf die allerersten Online-Artikel der großen Tageszeitungen und Magazine kurz nach den ersten Meldungen lohnt sich daher. Nur Stunden nach der Bekanntgabe empörte sich beispielsweise der Cicero auf seiner Facebookseite über die Entscheidung („Gratulation an die Jury, die es seit Jahr und Tag schafft, die großen amerikanischen Erzähler zu ignorieren.“) und freute sich höhnisch „mit allen Feuilletonisten und Redaktionen, die sich das Werk Modianos jetzt im Schnelldurchlauf ergoogeln“ mussten.

Gegoogelt wurde nun nicht nur in der Cicero-Redaktion, es blieb den Journalisten ja nichts anderes übrig. Weit oben in den Trefferlisten muss wohl noch Andreas Isenschmids einfühlsames Porträt Modianos in der Zeit von 2010 gestanden haben, dessen „übervolle Bücherregale bis in schwindelnde Höhen“ nach dem 09. Oktober in Variationen in Artikeln von SpiegelOnline und der SZ auftauchten. Noch viel häufiger als die Bücherregale wurden und werden jedoch die „alten Telefonbücher, Landkarten und Stadtpläne“, die Modiano in seiner Wohnung horten soll, zitiert; vermutlich, weil diese sich zur Möblierung von Modianos Kauzigkeit besonders gut eignen. Die Google-Suche „Patrick Modiano + Telefonbücher“ bringt es derzeit auf über 2.100 Treffer (Stand: 04. November 2014).

Wieland Freund (Welt) hingegen hatte großes Glück: Als er (fast schon ein wenig altmodisch) Modianos Roman Familienstammbaum zur Hand nahm, stieß er unverhofft schon auf der ersten Seite auf den Kern dessen, was Modianos schriftstellerisches Schaffen ausmacht: „Der Satz ‚Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren‘, umreißt das poetologische Programm des Schriftstellers. Diesen Satz hat er seinem autobiografischen Roman ‚Familienstammbuch‘ vorangestellt.“

Was unfreiwillig komisch wirkt, berührt ein tieferliegendes Problem. Heribert Tommek weist in seinem Essay Die Verteilung der Preise in dieser Ausgabe darauf hin, dass Literaturpreise heute mehr denn je Knotenpunkte sind, „in denen sich Literatur, Ökonomie, Politik und mediale Öffentlichkeit begegnen.“ Mit der Frage nach der medialen Öffentlichkeit ist auch die Frage nach den Bedingungen ebendieser sowie die nach den Möglichkeiten des Sprechens über Literatur nach der Digitalen Revolution verbunden; ein Sprechen jedoch, das im besten Fall mehr ist als „temporäre Aufforderung zur Anbetung ohne weitere Verinnerlichung.“ Einer gründlichen (und damit zeitintensiveren) Auseinandersetzung mit Literatur steht scheinbar immer die (zeit)ökonomische (vulgo: schnelle und Klicks-generierende) Herangehensweise gegenüber. Ironischerweise hat niemand diesen dem Digitalen Zeitalter inhärenten Widerspruch besser formuliert als Patrick Modiano selbst: „Das Internet ist wahrscheinlich ein kostbares Werkzeug, um unbewusste Verbindungen aufzudecken oder auch um Gespenster zum Leben zu erwecken. Doch oft ist das Internet ohne jeden Nutzen, denn so leicht lassen sich die Gespenster nicht aufstöbern.“ (Rue89)

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen