Bedrückende Introspektion

Der Tagebuchband „Der Schatten Gottes“ eröffnet (zu) detaillierte Einsichten in Carl Schmitts Seelenleben

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Schatten Gottes“ umfasst auf über 600 Seiten persönliche Aufzeichnungen Carl Schmitts aus den Jahren 1921-1924 und ist damit der vierte bisher veröffentlichte Band dieser Art im Verlag Duncker & Humblot. Vorausgegangen sind dieser Publikation die Tagebuchbände aus den Jahren 1912-1915, 1915-1919 sowie 1930-1934 und, falls die Herausgeber weiterhin die immense Mühe sowie die Fähigkeit aufbringen, die in Gabelberger Kurzschrift abgefassten Dokumente zu übertragen, werden wahrscheinlich in den kommenden Jahren noch weitere folgen. Wobei sich die Frage nach der wissenschaftlichen Legitimation dieses Projektes stellt, zumal die Eintragungen Schmitts vor allem private Details, insbesondere in Bezug auf sein Liebes- und Sexualleben, offenbaren. Sollten derart intimen Einzelheiten postum veröffentlicht werden? Worin besteht überhaupt der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn?

Zwei mögliche Argumentationsstrategien zur Legitimation der Publikation sind folgende: Erstens der Verweis auf gewinnbringende Zusatzinformationen, die Rückschlüsse auf das Werk Schmitts zulassen. Diese Variante wählen auch die Herausgeber: „Dieses Material hilft, den Lebenskontext seines Denkens und Schattens besser zu verstehen und in die Interpretation mit einzubeziehen.“ Hierbei kann kritisch eingewandt werden, dass die Interpretation von persönlichen Aufzeichnungen häufig mit Psychologisierungen einhergeht, die mit Blick auf Schmitts Ausführungen schnell in Pathologisierungen abgleiten. Zweitens kann der geschichtswissenschaftliche Mehrwert zur Begründung der Veröffentlichung herausgestellt werden. Dann erscheint der Autor Carl Schmitt vor allem als exemplarischer Vertreter einer intellektuellen Elite, Zeitzeuge und als „ein Fall der modernen Kulturgeschichte“. Diesem Argument ist durchaus zu folgen, zumal Schmitt mit einer Reihe von zeitgeschichtlich relevanten Personen Kontakte pflegte, beispielsweise mit Hugo Preuß, Rudolf Smend sowie verschiedenen Ministern, und sich damit ein Einblick in ein soziales Netzwerk eröffnet.

Allerdings illustrieren die Herausgeber mit den beiden Begründungen im ersten Absatz des Vorwortes gerade den besonderen Legitimationsdruck, dem diese Textform ausgesetzt ist. Dies gilt umso mehr, als der Verdacht bleibt, dass die Lektüre bisweilen mit einem gewissen (wissenschaftlich offiziell unredlichen) Voyeurismus einhergehen kann, was wiederum ebenso von den Herausgeber antizipiert wird: „Mögen auch ‚peinliche‘ Seiten ans Licht kommen – mit Voyeurismus hat dies nicht zu tun.“ Freilich ist diese Aussage für sich kein wirkliches Argument gegen den Voyeurismus-Verdacht, gerade weil Schmitts Notizen über Seiten von peinlich-pathetischer Liebesrhetorik und Selbstbeschreibungen dominiert werden. Zeitgeschichtliche, politische oder wissenschaftliche Ereignisse spielen hingegen nur eine marginale Rolle, und so sind Briefe wie der folgende nicht die Ausnahme, sondern die Regel: „Wir werden glücklich miteinander sein, viele Reisen machen, viel Schönes sehen, uns küssen und unendlich lieb haben. Du wirst mich lieb haben, immer, immer. Denke in Liebe an mich. Ich habe es jetzt nicht leicht. Aber Du bist bei mir. Ich küsse Dich von ganzem Herzen, Deine weißen Arme, Deine lieben Haare. Bald komme ich oder ich rufe Dich. Du gehörst mir, ich gehöre Dir. Küsse mich, Countess, nimm mich an Dein Herz, für immer bin ich Dein Carl.“ Der Autor der „Politischen Romantik“ war somit ein Romantiker im alltäglichen Sinne des Wortes. Auch die sonstigen Einträge kreisen fast ausschließlich um die Person Carl Schmitts, seinen Tagesablauf mit persönlichen Begegnungen, Mahl- und Schlafenszeiten sowie die Darlegung seiner emotionalen Zustände – was zugegebenermaßen für das Genre Tagebuch nicht außergewöhnlich ist. Trotz des zitierten Dementi geht also der durch diese Publikation fortgeschriebene Klassiker-Kult, um die Figur Carl Schmitt – wie bei ähnlich wirkmächtigen Autoren und Autorinnen – mindestens implizit mit einer Form von Schaulust einher, was gar nicht dramatisch wäre, wenn dieser Aspekt selbstkritisch reflektiert würde.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, wobei der erste verschiedene Eintragungen aus dem Zeitraum August 1921 bis August 1922 umfasst. Der zweite Teil besteht aus chronologischen Tagebucheinträgen von 1923 bis 1924 und der dritte Teil thematisiert unterschiedliche Beobachtungen und Ideen, womit das letzte Kapitel für die akademische Auseinandersetzung das anschlussfähigste ist. Anzumerken ist, dass Schmitts berufliche Karriere in der Lebensphase 1921-1925 sehr steil verlief: 1921 erhielt er seine erste Professur in Greifswald und nur kurze Zeit später folgte der Ruf an die Universität Bonn. Gleichzeitig entstanden in dieser Phase wegweisende Publikationen wie „Die Diktatur“ (1921), „Politische Theologie“ (1922), „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1923) und „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923) – um die Wichtigsten zu nennen. Das Liebesleben des Staatsrechtlers verlief derweil turbulent, die Scheidung von seiner ersten Frau hatte Schmitt emotional sehr zugesetzt, es folgte eine längere Romanze mit der Promotionsstudentin Kathleen Murray sowie andere sexuelle Affären und 1925 schließlich die Hochzeit mit Dusanka Todorovic.

Die Vermerke offenbaren dabei mehrere Konstanten, die sich ebenso im Vergleich mit den anderen Tagebuchbänden zeigen: Carl Schmitt hat permanent Geldsorgen, weil er exzessiv Restaurants, Cafés und Lokale frequentiert beziehungsweise gleichzeitig ausgedehnte Reisen unternimmt. Der aus dem Kleinbürgertum stammende Schmitt fühlt sich der bildungsbürgerlichen Elite zugehörig und übernimmt deren Lebensstil, was aber die finanziellen Möglichkeiten seiner Herkunft übersteigt. In seiner Maßlosigkeit erinnert Schmitt derweil an Personen, die regelmäßig einen Großeinkauf am Tankstellenkiosk zelebrieren und sich auf der Monats Mitte darüber wundern, dass ihre finanziellen Ressourcen erschöpft sind. Eine weitere Konstante ist sein gemächlicher Tagesablauf, so notiert Schmitt beispielsweise am Mittwoch den 10.08.1921: „Um 8 auf, um 9 für mich gefrühstückt. Dann herumgesessen in den Zelten, mit Entsetzen die Menschen besehen, traurig an meine Liebe gedacht, dem Wahnsinn nahe. Nach dem Essen fuhren am Zehnhoff und Fräulein Schneider nach […], ich fuhr mit, schlief zu Hause, trank nachher Kaffee. Im Cafe Hohenzollern, notierte behaglich über Cortes, […] Abends mit Fräulein Schneider im Konzert.“

Da dieser Tagesablauf für längere Phasen exemplarisch ist – einen ausgedehnten Mittagsschlaf gönnte sich Schmitt fast immer – stellt sich die Frage, wann der junge Dozent die Zeit fand, seine Lehrveranstaltungen vorzubereiten und wie es ihm bei diesem geringen Arbeitspensum gelungen ist, überhaupt in diesem beeindruckenden Umfang zu publizieren. Erst im (bereits publizierten) Tagebuchband 1930 bis 1933 weicht Schmitt an diesem Punkt merklich ab, in der Endphase der Weimarer Republik pflegt er seinen luxuriösen Lebensstil bei gleichzeitiger rastloser Arbeit.

Weiterhin zeigt sich der Jurist zu Beginn der 1920er-Jahre manisch, er schwankt permanent zwischen Hochgefühl und Depression, wiederum eine Konstante zu seinen Aussagen aus den Jahren 1912 bis 1919. Von bitterer Ironie sind schließlich prophetische Selbsteinschätzungen Schmitts, wie die Folgende: „Mich beherrscht eine heftige Machtgier. Daran werde ich untergehen.“ Wohlgemerkt, diese hellsichtige Anmerkung stammt aus dem Jahr 1922, wird aber direkt von seltsam theatralisch-pathetischen Ausführungen konterkariert: „Gott starb. Ich klammere mich an das Diesseits. Dieser Bund ist heißer als die Hölle, das Feuer der Hölle überweltlich und kühl, aus ihm in die Hölle gestürzt zu werden wäre Linderung und Abkühlung.“

Sicherlich, fernab solcher unterhaltsamen aber wenig ergiebigen Selbstüberhöhungen finden sich auch lesenswerte Notizen und Fragmente, die deutlicheren Bezug zum Werk zeigen. So beispielsweise die Überlegungen zur politisch-juristischen Form der römischen Kirche: „Die politische Idee des Katholizismus ist Ordnung und Form.“ Solche Passagen erlauben Rückschlüsse auf die Genese des politischen Denkens Carl Schmitts. Gleiches gilt für die Bemerkungen zu seinen Referenzautoren Max Weber, Georg Sorel und Juan Donoso Cortes, die wiederum Rückschlüsse auf den Import von zentralen Ideen aus anderen Werken zulassen, doch solche Hinweise sind selten.

Abschließend bleibt, den Herausgebern die Anerkennung auszusprechen, für die aufwendige Rekonstruktion und Übersetzung sowie die editorischen Anmerkungen zu Personen und Ereignissen. Durch die detaillierten Einblicke wird eine Historisierung der Person und des biografischen Werkzusammenhanges bedeutend erleichtert. Gleichwohl bietet der Text selten nennenswerte Erkenntnisgewinne über die Entstehung und den Zusammenhang einer der einflussreichsten politischen und staatsrechtlichen Theorien des 20. Jahrhunderts. Zu empfehlen ist der Band deshalb allen, die sich nicht nur oder nicht so sehr für die politische Philosophie beziehungsweise Theologie Carl Schmitts interessieren, sondern den Autor als Person kennenlernen wollen. Allerdings ist die Warnung angebracht: Schmitts Egozentrismus öffnet Abgründe. Sympathischer wirkt der Staatsrechtler nach der Lektüre jedenfalls nicht.

Titelbild

Carl Schmitt: Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924.
Herausgegeben von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler.
Duncker & Humblot, Berlin 2014.
602 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783428143085

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