Literaturwissenschaft in der Niemandsbucht

Anna Kinder hat einen lesenswerten Band zu Peter Handke herausgegeben

Von Wolfgang M. SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang M. Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beschäftigung mit Peter Handke ist ein Politikum – und noch sehr viel mehr als das, wie der Band „Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen“ beweist, der aus Anlass einer gleichnamigen Tagung, die 2012 im Deutschen Literaturarchiv Marbach stattfand, entstanden ist. Schon die Einleitung der Herausgeberin, Anna Kinder, macht deutlich: das Interesse liegt auf „Handke als Forschungsphänomen“. Zu kaum einem deutschsprachigen Autor der Gegenwart wird derart viel publiziert wie zu Handke. Nicht die literaturwissenschaftliche Forschung allein, auch die Kanonisierung des Autors, seine Strategie zur Archivierung seines Vor- und Nachlasses und die neu erschienenen biografischen Publikationen zu Handke bezeugen den Rang dieses eigenwilligen Schriftstellers. Die Literaturwissenschaft müsse sich dabei stets die Frage gefallen lassen, „inwieweit sie selbst in Handke`schen Duktus verfällt und sich diesen anverwandelt“. Die Autoren des vorliegenden Bandes konnten dieser Metamorphose entgehen und pflegen einen wissenschaftlichen, mit vielen Fußnoten abgesicherten Duktus, der zwar kontrastiv zu Handkes Sprache steht, aber zugleich die Poetologie des Autors begreiflich werden lässt.

In vier Oberthemen – „Poetik und Politik“, „Erfahrung und Sprache“, „Lesen und Schreiben“ sowie „Dokumentation“ – ist der Sammelband gegliedert, womit man dem ‚Phänomen‛ Handke tatsächlich gerecht wird und die Perspektive nicht auf nur einen Aspekt, wie in den öffentlichen Debatten um den Autor schon so oft geschehen, verengt.

Mit vorbildlicher Sachlichkeit geht Jürgen Brokoff in seinem Beitrag auf Handkes Texte und Positionen zum Jugoslawien-Krieg ein und zeichnet das Bild eines anfangs unsicheren, suchenden Intellektuellen, dessen Haltung sich erst „aufgrund der von Handke wahrgenommenen Struktur des Öffentlichkeitsbetriebs radikalisiert und verfestigt“. Zunächst sei Handkes umstrittenes Engagement für Serbien als eine zugegebenermaßen einseitige Medienkritik zu verstehen, wenn auch Handke selbst nicht vor der Wirkung der medialen Bilder, namentlich des serbischen Staatsfernsehens, gefeit sei und in ihnen eine Propaganda als „etwas Naturgewachsenes“ (Handke) sehen möchte. Sehr treffend beschreibt Brokoff die Verschränkung des Politischen mit dem Poetischen, was wiederum mit Realpolitik wenig zu tun hat.

Besonders erwähnenswert ist der Beitrag von Christian Luckscheiter, der dem Vorwurf der Geschichtslosigkeit in Handkes Werk nachgeht. Ein Vorwurf, der sich bei einer genaueren Untersuchung als unhaltbar erweisen muss, versuche doch Handke eine „andere Geschichte“ zu erzählen, „die sich als eine Art Gegen-Geschichte zur realen Geschichte verstehen lässt“, die jedoch alles andere als historische Tatsachen klittern oder leugnen will, sondern stattdessen mit poetischen Mitteln eine Intensität des Erinnerns entfachen kann, welche die offizielle Geschichtsschreibung nie zu erreichen vermag. Nicht nur dieser Aufsatz demonstriert, dass Pauschalurteile der Literatur selten gerecht werden.

Eine andere Geschichte ist auch als Geschichte vom Anderen zu verstehen: Tanja Angela Kunz arbeitet, sich beziehend auf die Theorien zum ‚Anderen‛ von Hannah Arendt und Judith Butler, in ihrem Aufsatz die in „der Verbindung von Ethik und Ästhetik liegende prozessuale Schreibethik bei Handke“ heraus und kann philologisch wie theoretisch fundiert mit dem Klischee einer beliebten Handke-Rezeption brechen, die dem Autor und überdies auch seinen Texten Egomanie unterstellen will. Kunz führt dagegen aus, dass die Texte nicht von der Frage „Wer bin ich?“, sondern von der Frage „Wer ist das ‚Ich‛?“ bestimmt werden. Eben darin liegt die Universalität dieses Schreibens, die nicht mit Innerlichkeit zu verwechseln ist und stattdessen der „Ich-Betrachtung ethische Relevanz“ verleihen kann. Mit Butler wird das Ich performativ gedacht. Interessant wäre noch gewesen, inwieweit die stets unabgeschlossen bleibende Ich-Werdung bei Handke sich von dem neoliberalen Prozess der Subjektivierung unterscheidet, in der jeder zum „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling) wird und ein Drittes beziehungsweise der Andere problemlos einverleibt werden kann. Möglich, dass es die Sprache selbst ist, die Handkes Ich vor dieser Inklusion in den Markt der Subjekte schützt.

Ulrich von Bülow spürt den Heideggerschen Einflüssen in Handkes Texten nach und findet viele Belege für seine These: „Peter Handke entwickelte unabhängig von Heidegger eine eigene reflektierte poetische Schreibpraxis, für die er dann in wesentlichen Punkten eine theoretische Bestätigung bei Heidegger fand.“ Akribisch wertet von Bülow die in Marbach befindlichen Notizbücher Handkes aus, anhand derer Handkes teils nur sehr sporadische Heidegger-Lektüren nachzuvollziehen sind. Heideggers Einfluss dürfe deshalb nicht überschätzt werden, da Handke auch ohne tiefere Kenntnisse und noch bevor er sich mit „Sein und Zeit“ beschäftigte, poetisch in Heideggers Lichtung eintrat.

Sehr enttäuschend fällt der persönlich gehaltene Bericht des Handke-Biografen Malte Herwig aus, der über seine Annäherung an den Autor schreiben will und dabei die Thesen Roland Barthes und Michel Foucaults vom „Tod des Autors“ infrage stellt. Nicht essayistisch, aber auch nicht wissenschaftlich ruft Herwig Proseminarwissen zur Figur des Autors auf, ohne aber stringent und schlüssig Handkes Autorposition bestimmen zu können. Herwigs Ausführungen bleiben nebulös: So veranlasst ihn ein Foto von den Händen des Autors beim Pilze putzen zu der Aussage: „Der Autor lebt, ja er ist das blühende Leben und hat sich seit Roland Barthes allen Attentaten von Wissenschaft und Kritik widersetzt, die ihn töten und seine Leiche verschwinden lassen wollten.“ So einfach ist es nun doch wieder nicht.

„In einer Epoche zunehmender Digitalisierung gilt es, gerade jenen Autoren Beachtung zu schenken, deren Art des Schreibens als eine antiquierte bezeichnet werden kann“, leitet Dominik Srienc seinen Aufsatz programmatisch ein. Nicht nur durch Handkes Werk, auch durch diesen Sammelband ziehen sich die Betrachtungen über das Schreiben als physischer Vorgang und die Materialität von Literatur. Sirenc untersucht den Vorlass des Autors (einige Fotos von Handkes Notizen bebildern die Beiträge), um herauszufinden, wie das Material und das Werkzeug Form und Inhalt eines Textes bedingen können. Seit „Versuch über die Müdigkeit“ ist Handkes Schreibwerkzeug der Bleistift. Doch schlägt sich dies auch auf die Literatur selbst nieder? Ja, meint Srienc, denn das Schreiben mit Bleistift werde demnach „zu einer programmatisch-ästhetischen Haltung“.

Wer bei all den philologischen Erkenntnissen das Schwärmen für die Literatur vermisst, dem sei das im Band abgedruckte Gespräch zwischen Sibylle Lewitscharoff, Ulrich Greiner und Jan Bürger empfohlen, in dem, ausgehend von persönlichen Leseeindrücken, mehr als nur gepflegt parliert wird, sondern nuancenreiche Annäherungen an Handkes Werk unternommen werden. Das Besondere liegt für Lewitscharoff und Greiner in Handkes Leistung, nie einen Naturalismus bedient zu haben und darin, dass der aufrichtige Leser mannigfaltig epiphanische Erlebnisse erfahren kann, wenn wieder und wieder etwas bislang Unbeschriebenes zur Sprache kommt – „etwas, das man so noch nie gesehen hat“ (Lewitscharoff). Auch Amüsantes hat die Diskussion zu bieten, wenn Lewitscharoff erzählt, wie sie als junges Mädchen auf einen sehr unwirsch reagierenden Handke getroffen ist. Das Ergebnis dieser unschönen Begegnung war wirksamer als jede Foucault- oder Barthes-Lektüre zum ‚Tod des Autors‛: „Deswegen führt mich nichts dazu, mit Herrn Handke sprechen zu wollen. Ich bleibe bei seinen Büchern.“ Dieses Plädoyer für die Beschäftigung mit dem Werk wird durch die den Band abschließende 70-seitige und beeindruckend gut recherchierte Forschungsbibliografie unterstützt.

Titelbild

Anna Kinder (Hg.): Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen.
De Gruyter, Berlin 2013.
350 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110294859

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