Die Schatten der Vergangenheit

Constantin Göttfert erzählt in seinem zweiten Roman „Steiners Geschichte“ die Geschichte einer karpatendeutschen Familie im Spannungsfeld zwischen Ost und West

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie ist schon seltsam, diese Ina Steiner, in die sich Martin, der Erzähler in Constantin Göttferts Roman „Steiners Geschichte“, verliebt hat. Verschlossen und melancholisch, einer karpatendeutschen Familie entstammend, die sich im österreichischen Marchfeld, ihrer neuen Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg, nie eingelebt hat und voller Vorbehalte ist gegen den jungen Lehrer. Und trotzdem wird aus den beiden ein Paar, das sich auch schon bald um ein Kind kümmern muss.

Allein Ina glaubt, für eine Familie erst reif zu sein, wenn sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Und so verordnet sie sich und Martin eine Beziehungspause, zieht mit dem Kind in eine eigene Wohnung und macht sich nach dem Tod des Großvaters auf in die alte Heimat, um nach ihren Wurzeln zu suchen. Mit einem Freund, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dubiose Geschäfte und Geschäftchen in der Slowakei am Laufen hat, folgt Martin der jungen Frau. Und obwohl ihm vieles fremd anmutet an Inas Verhalten, hört er nicht auf, um sie und seine kleine Tochter zu kämpfen.

Nach Kurzgeschichten, Erzählungen sowie dem schmalen Roman „Satus Katze“ (2011) hat der 1979 in Wien geborene Constantin Göttfert jetzt mit „Steiners Geschichte“ sein bis dato ehrgeizigstes Projekt vorgelegt: einen Roman von knapp 500 Seiten, thematisch breit gefächert, überbordend von – teils äußerst gelungenen, teils den roten Faden der Geschichte lediglich tangierenden – Geschichten über die Geschichte der nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei durch die Beneš-Dekrete vertriebenen, so genannten Karpatendeutschen.

Gemeint ist damit die deutsche Bevölkerung, die sich auf dem Gebiet der heutigen Slowakei seit dem 12. Jahrhundert angesiedelt hatte und zum Beispiel in der Stadt Pressburg (Bratislava) noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Ungarn und Slowaken die größte Bevölkerungsgruppe bildete. Vor der heranrückenden Roten Armee 1945 auf deutsches Gebiet evakuiert, kehrten viele der Karpatendeutschen nach dem Kriegsende dorthin zurück, wo ihre Familien seit Jahrhunderten ansässig waren. Die meisten von ihnen verloren kurz danach zusammen mit der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit auch ihr Bleiberecht und wurden aus ihrer alten Heimat vertrieben. Viele von ihnen leben seitdem im niederösterreichischen Marchfeld, dem Grenzgebiet Österreichs zur Slowakei.

Dort lernt Göttferts Erzähler auch die Steiners kennen. Mit Ina in einem Wiener Lehrerseminar bekannt geworden, folgt er der Einladung der jungen Frau in ihr konservatives Elternhaus in einem Grenzdorf. Leidlich katastrophal empfindet er seinen Antrittsbesuch, trifft er doch auf eine gedrückte Atmosphäre, in der er, der angehende Intellektuelle, alles andere als willkommen zu sein scheint. Inas Vater, ein harter, strenger Mann, der von der Tochter nichts als Gehorsam verlangt und die eigene Frau, Inas Mutter, mit seiner Wesensart schon aus dem Haus getrieben hat, und dessen wortkarge Eltern stehen dem Freund von Tochter und Enkelin von Beginn an skeptisch gegenüber. Passt er doch mit seiner weltoffenen, naiven Art so gar nicht in die Vorstellung, die sie sich vom nächsten Mann in der Familie gemacht haben.

Schnell wird Martin klar, dass er der Frau, die er über alles liebt, Raum lassen muss, wenn er sie nicht verlieren will. Denn Ina weiß nicht, wo sie hingehört. Sie braucht erst eine eigene Identität, die sich zu einem Gutteil aus der Vergangenheit der Steiners speist, ehe sie zu einer dauerhaften Beziehung bereit ist. Vor allem der stets schweigend im Haus herumsitzende Großvater – als Martin zum ersten Mal den dunklen Hof der Steiners betritt, liegt der Alte gar ausgestreckt auf einer Bank, so dass der Ankömmling ihn zuerst gar nicht bemerkt – gibt der Enkelin Rätsel auf. Dass er genauso wie seine verschlossene, griesgrämige Frau mit der Gegenwart nicht zurecht kommt, wird dem Besucher schnell klar. Doch ist es nicht blanker Revanchismus, was da aus dem Mund des Paares kommt, wenn sie ihn denn überhaupt einmal aufmachen? Und welche Rolle hat der einst so wohlhabende Mann in dem Örtchen Limbach nahe Bratislava wirklich gespielt, bevor er die Flucht ergreifen musste und ins Marchfeld übersiedelte?

Die Handlungsantriebe von Göttferts Figuren, die gelegentlich wirken, als seien sie einem romantischen Schauermärchen entsprungen, sind für den Leser nicht immer leicht nachzuvollziehen. Dass die alten Steiners mit ihrer Vertreibung von Haus und Hof in Limbach auch noch fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hadern, sich weder als Österreicher noch als Slowaken fühlen, sondern trotzig auf ihrem Deutschsein beharren, obwohl sie noch nie deutschen Boden betreten haben, erklärt sich aus der Geschichte, zu deren Spielball sie vorzeiten wurden. Wie groß ihr Anteil an der Schuld ist, die sie sich in der Zeit der Ersten Slowakischen Republik (1939 -1945) aufgeladen hatten, als sie sich als Großgrundbesitzer hemmungslos bereicherten, ist wohl eine der Fragen, die die Enkelin umtreiben und nicht zur Ruhe kommen lassen. Dass sich aber daraus zwingend deren psychische Instabilität, die zeitweise alle Anzeichen einer starken Persönlichkeitsstörung aufweist, ergibt, ist nur unzulänglich motiviert. Und geht es Ina tatsächlich um ihre Identität als Karpatendeutsche, wenn sie am Ende des Romans in einer Limbacher Burgruine nach einem vom Großvater vor seiner Vertreibung verbuddelten Goldschatz gräbt?

Logischer und erzählerisch auch stärker wirken jene Passagen, die sich mit der Gegenwart nach dem Fall des Eisernen Vorhangs beschäftigen. Es ist jene Zeit, in der Bratislava zu „Gratislava“, Pressburg zu „Fressburg“ wurde. Hier versteht es Göttfert, über die Figur des Freundes von Martin, der ihn schließlich auf seiner Suche nach Ina begleitet und dabei ganz eigene Interessen verfolgt, jene seltsame Goldgräberatmosphäre der 1990er-Jahre wieder lebendig werden zu lassen, in der die Slowakei mehr als Absatzmarkt denn als Partner in einem neu sich formierenden europäischen Staatenverbund angesehen wurde. Billiger Sex, Urlaub zu Dumpingpreisen und über Land reisende Geschäftemacher, die die unerfahrene Bevölkerung abzocken, bestimmen das Bild – der Osten wird vor allen Dingen als „Bordell und Einkaufszentrum“ wahrgenommen.

„Steiners Geschichte“ ist Familien- und Epochenroman in einem. Im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Vergangenheit und Gegenwart, Heimat und Fremde erzählt der junge österreichische Autor (Jahrgang 1979) von den Traumata der Vertreibung, historischer Schuld und einer Generation, die das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern nicht mehr ertragen will. Manchmal kommt das Ganze etwas zu überambitioniert daher. Gelegentlich verliert es sich auch auf Nebenschauplätze, die wenig zur Erhellung der Konflikte beitragen.

Indem Göttfert freilich am Ende eine Brücke ins Spiel bringt, die das slowakische mit dem österreichischen Ufer der March wieder dauerhaft verbinden soll – die 2012 eingeweihte, so genannte „Fahrradbrücke der Freiheit“ verbindet die österreichische Gemeinde Engelhartstetten mit dem Bratislavaer Vorort Devinska Nová Ves an jener Stelle, wo nur noch Brückenbögen daran erinnert hatten, dass es ein halbes Jahrhundert lang lebensgefährlich war, Kontakte zu den Nachbarn aufnehmen zu wollen –, kommt auch Zukunft ins Spiel, die lebenswert erscheint. Auf dass der von Ina Steiners Großvater ständig wiederholte Spruch „Man muss dem Menschen das Leben sauer machen, damit er Lust bekommt auf das Sterben“ auf immer seine fatale Bedeutung verliert und es vielleicht auch für Ina, Martin und ihre kleine Tochter eine Chance auf Gemeinsamkeit gibt.

Titelbild

Constantin Göttfert: Steiners Geschichte. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
480 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406667572

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