Hunderttausende Wörter als ein Bollwerk gegen jede Zensur

Herta Müllers Band „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ dokumentiert ein Gespräch mit Angelika Klammer

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein kleines Kind, schon früh lernt es nicht nur, die Kühe zu hüten und die Fenster zu putzen und überhaupt immer und überall zu gehorchen, weil sonst Prügel drohen, es beobachtet auch „das Abstumpfen und Vertauschen von Würde und Erniedrigung“ am eigenen Leib, und es reagiert darauf. Es sucht einen Halt und findet ihn zunächst einmal in der Beschäftigung mit Pflanzen: „Ich habe alle Pflanzen gekostet, jeden Tag von allen gegessen.“ Später folgt die Beschäftigung mit Wörtern. Der Preis für derart eigensinniges Verhalten: Einsamkeit.

Herta Müller, 1953 in Nitzkydorf geboren, 2009 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, erinnert sich: an die Landschaft ihrer Kindheit, die Anfänge ihrer beruflichen Laufbahn, die Landsmannschaft, die Aktionsgruppe Banat, die permanente Bedrohung durch den rumänischen Geheimdienst, schließlich auch an das Schicksal zahlreicher Wegbegleiter – und sie zieht Bilanz, eine Bilanz, die aufweist, was von Beginn an für sie Anlass gewesen ist zu schreiben.

Es ist in erster Linie das „Vaterland“, die rumänische Diktatur, die ihren Widerspruch weckt, die sie zum Schreiben herausfordert. Alle Bereiche des Lebens und sogar der Landschaft sind von ihr durchdrungen, infiziert, verseucht. „Diese riesigen sozialistischen Maisfelder“ beschäftigen schon das Kind, Äcker, die oft und oft nicht abgeerntet werden und sich dann im Winter ganz traurig ausnehmen „wie hungrige Herden, die senkrecht um die ganze Welt ziehen. Senkrecht, ja.“ Den aufrechten Gang übt auch das Kind.

In der selbst-gewählten Einsamkeit verengt sich gelegentlich der Blickwinkel. Die Leute im Dorf, die Spitzen der Landsmannschaft, sie alle, wo immer sie auftauchen, erscheinen in den Augen der Erzählerin einförmig-grau. Die Bauern sind abgestumpft, sie finden die Landschaft weder hässlich noch schön, sie sehen in ihr offenbar nur den Arbeitsplatz. Die Funktionäre der Landsmannschaft wiederum sind ewig-gestrig und befinden sich weithin im Einvernehmen mit den Spitzeln der Securitate. – Was diesen (manchmal wohl all zu engen) Blickwinkel am meisten bestimmt, ist die Angst. Eine begründete Angst, denn früh schon gerät Herta Müller ins Visier des Geheimdienstes. In der Stadt, in der Fabrik, wo sie eine erste Anstellung gefunden hat, wird sie dauernd schikaniert, weil sie sich weigert, mit den Spitzeln zusammenzuarbeiten; und weil sie aufdeckt, worüber der Staat den Mantel des Schweigens ausgebreitet hat (das Faktum beispielsweise, dass die aus dem Krieg heimgekehrten deutschsprachigen Wehrmachtsangehörigen als Verbrecher, die Rumänen hingegen, die Seite an Seite mit den Wehrmachts- und SS-Truppen gekämpft haben, als Helden gelten), wird sie mehr und mehr verfolgt.

Vieles, was Herta Müller in diesen Gesprächen mit Angelika Klammer ausbreitet, hat sie schon in früheren Artikeln und Büchern thematisiert; auf die hier wieder verwendeten Ausgaben wird ausdrücklich Bezug genommen. Besonders ausführlich befasst sie sich, angeregt durch ebenso beharrliches wie wohlüberlegtes Nachfragen, mit dem Fall ihrer Freundin Jenny, die (schon von einer tödlichen Krankheit gezeichnet) noch am Ende ihres Lebens auf die Spur der Securitate wechselt, und mit ihrer Beziehung zu Oskar Pastior.

Ihre Reaktionen, Empörung einerseits, Verständnis andrerseits, sind ohne weiteres nachvollziehbar. Der Freundin, die mit einem Geheimdienst-Offizier aus Temeswar liiert ist (der Jahre später als Bezirksdirektor einer österreichischen Versicherungsanstalt noch einmal eine Karriere macht) und die ihr vorgaukelt, die Securitate zu betrügen, während sie gleichzeitig einen Nachschlüssel zur Berliner Wohnung der Autorin in ihren Koffer steckt, kann Herta Müller diesen Verrat nicht mehr verzeihen. Den Freund aber, von dem sie erst nach seinem Tod erfahren hat, dass er eine Zeitlang mit dem Geheimdienst kooperiert hat, nimmt sie inzwischen resolut in Schutz: Pastior (1927–2006), dessen Erzählungen über seine Deportation in ein sowjetisch-ukrainisches Arbeitslager und das Leben dort ihr den Stoff für den Roman „Atemschaukel“ und das Hauptmotiv des Hungerengels gegeben haben, hat nämlich, wie Herta Müller nach dem Studium der einschlägigen Akten feststellt (ohne freilich auf Gegenstimmen aus der rumäniendeutschen Literaturszene einzugehen), kaum je brauchbare Berichte an die Securitate abgeliefert, im Gegenteil, auch ihm sind Jahre seines Lebens gestohlen worden, auch ihm ist nichts übrig geblieben als das „Schauen in Angst“.

Reflexionen über das Schreiben, im speziellen auch über das Produzieren von Collagen aus ausgeschnittenen Wörtern und Buchstaben beschließen dieses Buch. Nach wie vor verfügt Herta Müller über hunderttausende Wörter (in ihren Schubladen), als ein Bollwerk gegen jede Zensur.

Titelbild

Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
238 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246638

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