Sadiri sagen nicht: „Ich liebe dich“

Karen Lords SF-Roman „Die Beste Welt“ entführt die Lesenden in ein Labyrinth der Emotionen und Kulturen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In vergangenen Zeiten stritten zwei Meisterdenker über die Jahrhunderte hinweg darüber, ob wir in der „besten aller möglichen Welten“ leben, oder nicht vielleicht doch in der schlechtesten. Zwar sind die beiden Herren längst in den Kanon der Philosophiegeschichte eingegangen, doch so ganz recht behalten hat wohl weder der Gottesapologet noch sein pessimistisch-sarkastischer Widersacher. Immerhin aber kann sich der Topos des Ersteren noch heute großer Bekanntheit erfreuen. Erst jüngst hat er sogar Eingang in das populäre Genre der Science-Fiction-Literatur gefunden. „Die beste Welt“ lautet der Titel des unlängst erschienenen Romans der auf Barbados geborenen Autorin Karen Lord. Er lässt sich leicht als Anspielung auf Leibniz’ Wendung erkennen. Die englische Originalausgabe „The Best Of All Possible Worlds“ übernimmt ihn sogar wörtlich.

Bei Lords bester aller möglichen SF-Welt handelt es sich um den irgendwo im Sternengewimmel um eine Sonne kreisenden Planeten Cygnus Beta. Der Trabant „genießt“ nicht zu Unrecht „den Ruf, Nährboden für einige der vielschichtigsten und lebendigsten Kulturen der Galaxis zu sein“. Denn jede einzelne der ihn bewohnenden „Bevölkerungsgruppen“ kann ihre Herkunft zu einem anderen Gestirn zurückverfolgen, das in grauer Vorzeit oder vielleicht auch erst jüngst von „irgendeiner grauenhaften Katastrophe“ heimgesucht wurde. Cygnus Beta ist das Refugium, in dem sie alle Zuflucht gefunden haben.

Letztlich aber haben sämtliche über die Galaxis verstreuten Humanoide, man kann sie durchaus als Menschen bezeichnen, ihren Ursprung auf einem von nur vier Planeten: Sadira, Ntshune, Zhinu und Terra, wobei letzterer gelegentlich durch einige beiläufige Bemerkungen leicht herausgehoben erscheint. Im Laufe der Zeit haben sich diverse Flüchtlingsgruppen auf Cygnus Beta durchmischt. Dies allerdings eher genetisch als kulturell. Denn selbst die Nachkommen der verschiedenen Flüchtlingswellen ein und desselben Planeten haben auf dem Exil-Planeten ganz unterschiedliche Kulturen entwickelt, die sich teilweise in mehr oder weniger streng abgeschottete Enklaven zurückgezogen haben.

Abgesehen von einem kleinen Vorspann setzt die Roman-Handlung damit ein, dass die letzten Überlebenden des Volkes der Sadiri Zuflucht auf Cygnus Beta finden. Ihr Heimatplanet wurde von ihren „nächsten Verwandten, den Ainya“, unbewohnbar gemacht. Es handelte sich um eine späte Vergeltung dafür, dass deren Vorfahren einst von den Sadiri vertrieben worden waren. Nur die wenigen Angehörigen des attackierten Volkes, die zur Zeit des Angriffs der Ainya gerade in Raumschiffen unterwegs waren, überlebten den Racheakt. Und das waren fast ausschließlich Männer, was wiederum die Handlung des Romans initiiert.

Über Ankunft und Aufnahme der Sadiri sowie über alles Weitere berichtet die sympathische Ich-Erzählerin Grace Delura in einem lockeren Plauderton, der die Lesenden schnell ins Vertrauen zieht. Sie besitzt ein loses Mundwerk, tratscht in ihrer Freizeit dann und wann mit ihrer promiskuitiven Freundin Gilda, macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube und gibt schon mal Aphorismen-reife Sentenzen zum Besten, bei denen nicht so recht klar wird, ob sie ihrem eigenen Sprachwitz entsprungen sind oder zum Sprichwortschatz ihres Volkes gehören. So etwa, wenn sie erklärt, „dass ein Licht auf einem hohen Berg nützlicher ist als unter einem Scheffel“.

Andererseits befremdet es allerdings, dass die Wissenschaftlerin etwas reiferen Alters gelegentlich in den Jargon Jugendlicher des 21. Jahrhunderts verfällt. Beispielsweise findet sie allerlei „richtig cool“ und schreckt selbst vor der unsäglichen Wendung „Wie cool ist das denn?“ nicht zurück. Man sollte eigentlich annehmen, dass sie ihre Worte etwas reflektierter wählt, denn Sprache, ist sie überzeugt, ist „eine der wichtigsten Wurzeln der Identität“. Darum ist sie auch „süchtig“ nach Sprachen und beherrscht so manche von ihnen – ausgestorbene ebenso wie solche, in denen alle Welt parliert.

Ihren Lebensunterhalt allerdings bestreitet sie als „zweite Assistentin für die Leiterin der Abteilung für Biotechnik der Provinz Tlaxce“. So weiß sie denn auch von Berufs wegen, dass die Genetik „manchmal eine regelrechte Wundertüte“ sein kann, womit sie sagen will, man wisse nie genau, was bei einer bestimmten genetischen Zusammensetzung eines Wesens ‚herauskommt‛.

Delura ist weder eine Sadiri, noch eine Ainya, sondern gehört dem Volk Cygnier an. Deren Gesellschaft ist zwar „von jeher matriarchalisch geprägt“, doch gilt es bei ihren Angehörigen durchaus nicht als „anstößig“, „sich eine Braut aus dem Katalog zu bestellen“. Denn die Cygnier „selektieren“ ihre Geschlechtspartnerinnen „schon seit Jahrhunderten auf Fruchtbarkeit“ und können nur darüber staunen, „wie weit verbreitet dysfunktionale Paarbildungen in den meisten Kulturen sind“. Das mag für unsere Ohren befremdlich klingen, aber schließlich handelt es sich ja auch um eine fremde Kultur auf einem fernen Planeten.

Überhaupt stehen die oft divergierenden Vorstellungen, welche die diversen Völker von angemessenen Geschlechterrollen und -beziehungen pflegen, im Mittelpunkt des Romans. Erzählt er doch vor allem von der einjährigen Reise, die Dllenahkh, ein überlebender Sadiri, auf der Suche nach geeigneten Geschlechtspartnerinnen für die Seinen unternimmt. Denn die nahezu ausgerotteten Sadiri stehen angesichts des ungeheuren Männerüberschusses vor der Frage, ob sie die ‚Reinheit ihrer Rasse‛ erhalten wollen, indem sie warten, bis die wenigen überlebenden Mädchen geschlechtsreif sind, oder ob sie sich mit anderen Flüchtlings-Gruppen vermischen sollen. So durchreist er die Provinzen des Planeten, um bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Kulturen Informationen für eine begründete Entscheidung darüber zu sammeln, ob deren jeweiligen kulturellen Vorstellungen denjenigen seines eigenen Volkes gerecht werden und weibliche Angehörige dieser Kulturen somit für die Sadiri als Mütter gemeinsamer Kinder infrage kommen.

Begleitet wird er und seine kleine Gruppe dabei von Delura, die alles andere als glücklich darüber ist, zu diesem Auftrag verdonnert worden zu sein. Unterwegs treffen sie auf Gesellschaften mit den unterschiedlichsten Geschlechter-, Liebes- und Sexualitätskonzepten, bis hin zu einem abgeschotteten maskulinistischen Verbrecherregime, dessen Reich von Phallussymbolen in Form „schroffer Felsen“ umgeben ist, die „senkrecht aus der tosenden Brandung ragen“. Auch teilen durchaus nicht alle Gesellschaften ihre Angehörigen in zwei Geschlechter auf, so wie es bei den Sadiri Usus ist. Die Leute vom Volke Deluras etwa können sich für „ein Leben ohne Geschlecht“ entscheiden, was allerdings keineswegs bedeutet, dass Personen, die diese Wahl getroffen haben, darum notwendigerweise „asexuell“ sind. Sadiri wiederum halten Liebe weder für eine Emotion, noch würden sie jemals sagen: „Ich liebe dich“. So pflegt jede der Kulturen ganz eigene Geschlechtervorstellungen sowie erotische und sexuelle Praktiken.

So unterschiedlich die Geschlechterbeziehungen der diversen Gesellschaften auch sind, so haben deren Angehörige doch etwas gemeinsam, sie alle besitzen, „Psi-Fähigkeiten“, deren Art und Stärke allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Diese Fähigkeiten bilden den Hintergrund, vor dem ein weiteres großes Thema des Romans verhandelt wird, das der verbalen und nonverbalen Verständigung, wobei es insbesondere um die Kommunikation von Emotionen zwischen Individuen geht.

Die Angehörigen einiger Völker besitzen in der Regel nur leichte empathische und schwach ausgeprägte telepathische Kräfte, was sie dazu befähigt, die Emotionen anderer wahrzunehmen und ihre eigenen mit ihnen zu teilen, wozu jeder einigermaßen sensitive und sensible Mensch unter den Lesenden ebenfalls fähig ist. Einzelne Romanfiguren aber können die Emotionen ihre Mitmenschen nicht nur manipulieren, was ja bekanntlich gleichfalls ganz ohne Psi-Kräfte möglich ist, sondern regelrecht beherrschen. In besonders ausgeprägten Fällen tritt die Kraft der Telekinese hinzu oder gar die Fähigkeit, Mentalraumschiffe zu steuern, bei welcher der oder die Raumfahrende und das Schiff allerdings dauerhaft miteinander verschmelzen. Dies ist eine Idee, die so ähnlich bereits in Anne McCaffreys 1961 erschienener Story „The Ship Who Sang“ ausfabuliert wurde. Steht sie dort im Mittelpunkt der Geschichte, so fließt sie in Lords Roman eher am Rande ein.

Ungeachtet des hohen Reflektionsniveaus, mit dem Lord die drei großen Themen ihres Romans behandelt – die Geschlechterverhältnisse, kulturelle Identitäten und -differenzen sowie die zwischenmenschliche Kommunikation von Emotionen – hat sie alles andere als einen trockenen Thesenroman verfasst, sondern eine ebenso unterhaltsame wie interessante und auch spannende SF-Story voller lebendiger Charaktere, die nie zu papierenen Klischees erstarren.

Kurz, die Lektüre des Buches kann wärmstens empfohlen werden. Dies gilt ausdrücklich auch für die „Danksagung“ am Ende des Romans. Nur selten dürfte diese Textsorte die Intention eines Autors oder einer Autorin so sehr erhellen wie in diesem Buch. Dem Rezensenten jedenfalls setzte sie ein Licht auf.

Titelbild

Karen Lord: Die beste Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Holick.
Heyne Verlag, München 2014.
398 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783453314863

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