Das allmählich sich einstellende Erstaunen des Lesers

Philippe Djian hat schon wieder einen außerordentlich intensiven Roman abgeliefert

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist kalt, die Tage werden kürzer. Ich lese keine guten Drehbücher. Ich bin vergewaltigt worden. Vom Verhältnis zu meinem Mann und meinem Sohn rede ich gar nicht, ganz zu schweigen von meinen Eltern. Das Schlimmste ist, dass man bald schon über Geschenke nachdenken muss.“

Aha, es ist also kalt?

Ja, Djian ist über die hitzige Phase seines Schreibens lange hinaus: Flirrte es noch vor Hitze in der Betty-Blue-Trilogie, in Matador oder Pas de deux, so ist mit der Sainte-Bob-Trilogie der Herbst angebrochen und in den letzten Romanen endgültig in Winter übergangen. Das bedeutet, die Natur ist erstarrt und so auch die Menschen: Wie ihr Schöpfer nun über die 50 hinaus, haben sie alles erlebt, ihre Kämpfe gekämpft und sorgen sich nun um den Lebensabend, sparen für ihre Rente und sehen sorgenvoll dem Untergang Europas ins Auge. So Michèle, Heldin des Romans, die mit einer Freundin eine Filmfirma gegründet hat und nun die Spreu vom Weizen trennt.

Nur schlechte Drehbücher?

Nun, Djian hat sich ja vor einiger Zeit zum Glück vom Schriftsteller als Hauptperson getrennt; aus und vorbei ist es also mit diesen grandiosen, aber irgendwann schal wirkenden Szenen von verkrampft vor den Schreibmaschinen kauernden, mit den Zähnen knirschenden Künstlern, die ihr Leben gäben für einen guten Satz. Was aber nicht heißt, dass Djian sich die Kulturkritik verkneifen könnte, denn Michèle, die freimütig zugibt, keine gute Zeile zu Papier bringen zu können, weiß sehr wohl, was Kunst und was Müll ist: Kunst ist nämlich das Getriebene, Müll hingegen alles andere.

Dass sie Drehbücher liest, ist jedenfalls kein Zufall, sieht Djian die Zukunft des Erzählens doch im Fernsehen, in der Serie vor allem amerikanischer Herkunft. So war der Sechsteiler Doggy-Bag der Versuch, die Serienkonstellation von Six Feet Under auf den Roman zu übertragen – ein künstlerisch und ökonomisch gescheitertes, wenngleich mutiges Experiment. Michèles Reflexionen muten wohl nicht zufällig hin und wieder wie ein Rechtfertigungsversuch an. Doch hat sie ja ganz andere Probleme.

Vergewaltigt?

Michèle wird zu Beginn vergewaltigt und doch noch einmal. Und dann geht sie mit dem Vergewaltiger eine Liaison ein. Das kann man seltsam finden, ja, man soll es wohl auch, doch Djian erzählt all dies so karg, so lakonisch, dass man seinen Helden erst einmal jede spinnerte Idee abnimmt. Das ist allemal eine wohltuende Abwechslung zur Vernünftelei in den deutschen Romanen. Wobei im Verlauf deutlich wird, dass Michèle, so vernünftig sie sich auch in ihrem als Monolog getarnten Roman gibt, alles andere als spinnert, sondern auf schreckliche Weise beschädigt ist.

Die Familie?

Sie ist geschieden, hat eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin, unterstützt Mutter und Sohn finanziell – und weigert sich, ihren Vater im Gefängnis zu besuchen. Der nämlich hat vor Jahren ein derart unerhörtes Verbrechen begangen, dass Frau und Kind, eben Michèle, von der Öffentlichkeit bespuckt, beschimpft und ausgegrenzt wurden. Und ja, es geht ihr nun, so viele Jahre später, ein wenig besser, sie ist stabilisiert, gerät aber mit der Vergewaltigung aus der Fassung.

Geschenke?

So wird aus der bekloppten Story unter der Hand eine fein gezeichnete Anamnese. Denn um diese entglittene Fassung wieder instand setzen zu können, muss Michèle sich und ihr Erlebnis begreifen lernen. Und aus einer sprunghaften anmutenden Assoziationsreihung, die sich von der Vergewaltigung bruchlos zu Weihnachtsgeschenken hangelt, wird das Mühen um geistige Gesundung – und eben dies bildet der Roman als ambivalente, nämlich doppelbödige talking cure ab. Das ist grandios dargestellt, eben weil es unter der Hand abläuft und dem Leser nicht häppchengerecht serviert wird.

Oh…

Ja. Deshalb birgt der Titel auch keinen Bezug zu Kleist und dessen Marquise, wie einige heißlaufende Interpreten vermuten, sondern bildet das allmählich sich einstellende Erstaunen des Lesers ab, der irgendwann während der Lektüre hoffentlich begreift, mit was er es hier wirklich zu tun hat – einem Kunstwerk nämlich. Die Franzosen jedenfalls haben das begriffen und dem chronisch unterschätzten Djian für diesen Roman den Prix Interallié verliehen. Immerhin.

Titelbild

Philippe Djian: Oh... Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
230 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069044

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