Literatur und Ökonomie

Ein Problemaufriss

Von Michael HorvathRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Horvath

Während hinter dem Begriffspaar „Literatur und Recht“ ein anerkanntes und vielfach ausbuchstabiertes Forschungsprogramm steht – im anglo-amerikanischen Kulturkreis spricht man gar vom „Law and Literature Movement“ –, das sich mit dem Verhältnis von Literatur und Recht in den unterschiedlichsten Kontexten und Facetten befasst und interdisziplinär in beiden Fakultäten bestens verankert ist, lässt sich Vergleichbares für das Verhältnis von Literatur und Ökonomie nicht im Mindesten behaupten: Ein originär ökonomischer Interpretationsansatz literarischer Texte fehlt bis heute. Dabei verspricht ein solcher ähnlich aufschlussreiche Erkenntnisse wie sein juristisches Pendant. Sein Ziel ist es, das ökonomische Wissen der Literatur ernst zu nehmen, das heißt, der poetischen Reflexion von Ökonomie (=Wirtschaft) und Ökonomik (=Wirtschaftswissenschaft) in literarischen Texten auf breiter interdisziplinärer Grundlage nachzugehen.

Zum Verhältnis von Ökonomik und Literaturwissenschaft

Zwar wurden im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 vielfältige Anstrengungen des interdisziplinären Dialogs unternommen, doch lassen Vermittlungsprobleme, begriffliche Barrieren und habituelle Hindernisse die gegenseitige Annäherung unverändert schwierig erscheinen. Die Missverständnisse beginnen schon, wenn etwa, wie häufig anzutreffen, das Geld als zentraler Forschungsgegenstand der Wirtschaftswissenschaften angesehen wird. Auch Jochen Hörisch stellt diesbezüglich fest, dass „Geisteswissenschaftler, die ja nicht umsonst so heißen wollen, es lieber mit dem Geist halten als mit dem unfeinen, geistlosen, ja schnöden Mammon.“ (Hörisch 1996, 22) Im Gegensatz zu einem solchen verkürzten Ökonomiebegriff soll hier das Selbstverständnis der Ökonomik maßgeblich und leitend sein, das die Ökonomik seit jeher als umfassende Interaktionstheorie begreift, die die innere Logik menschlichen Verhaltens zu ergründen sucht und somit weit über materielle Fragestellungen hinausreicht (vgl. etwa Becker 1976; Kirchgässner 2008).

Von einer höheren Warte besehen, sind naturgemäß zwei idealtypische Richtungen der interdisziplinären Zusammenarbeit denkbar: Da ist zum einen die Akzentuierung der Literaturwissenschaft, um bisher unentdeckte oder mit den Mitteln herkömmlicher Ökonomik sogar unentdeckbare wirtschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Zusammenhänge in den Blick zu nehmen („Ökonomie und Ökonomik als Literatur“). Da ist zum anderen die Akzentuierung der Ökonomie und Ökonomik, um durch solchermaßen informiertes und reflektiertes Interpretieren neue Lesarten literarischer Texte zu erschließen („Ökonomie und Ökonomik in der Literatur“).

Der literaturwissenschaftliche Zugang: Ökonomie und Ökonomik als Literatur

Die Historizität des Wissens

Wollte man Anschauungsmaterial für den Wandel der Zeiten finden, so könnte die heutige Lage der Ökonomik nicht eindrücklicher als mit einem Zitat von John Maynard Keynes illustriert werden. Keynes, der Anfang des 20. Jahrhunderts einen Anforderungskatalog für gute Ökonomen aufstellte, hielt Kompetenzen auf drei Gebieten für unerlässlich: Geschichte, Ökonomik und Statistik:

[T]he master-economist must possess a rare combination of gifts. He must reach a high standard in several different directions and must combine talents not often found together. He must be mathematician, historian, statesman, philosopher – in some degree. He must understand symbols and speak in words. He must contemplate the particular in terms of the general, and touch abstract and concrete in the same flight of thought. He must study the present in light of the past for the purposes of the future. No part of man’s nature or his institutions must lie entirely outside his regard. He must be purposeful and disinterested in a simultaneous mood; as aloof and incorruptible as an artist, yet sometimes as near the earth as a politician. (Keynes 1924, 322)

Vergegenwärtigt man sich demgegenüber die heutige Praxis ökonomischen Denkens, so bleibt die geschichtliche und kulturelle Wandelbarkeit, also die Historizität allen Wissens, allzu häufig unreflektiert. Die Wirtschaftswissenschaft scheint hier nicht nur ein zu kurzes Gedächtnis zu haben, sie ist vielmehr – ganz der Praxis der Naturwissenschaften folgend – bereits in ihrem Kern ahistorisch angelegt (vgl. Horvath/Weizsäcker 2014). Dies scheint zwar erkenntnistheoretisch zunächst folgerichtig, doch fristen die innerdisziplinären Korrekturen durch die so genannte Dogmengeschichte nicht nur ein Schattendasein, sondern befinden sich wohl auch methodisch nicht auf dem Reflexionsniveau der spezialisierten Nachbardisziplinen aus Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hier wäre ein erster systematischer Ort zu finden, an dem sich ein höchst lohnendes Spiel interdisziplinärer Zusammenarbeit, gerade mit der Literatur- und Kulturwissenschaft, ansiedeln ließe: die Erforschung der Historizität (auch) des ökonomischen Wissens (ein erhellendes Beispiel etwa bei Mirowski 1989).

Das Foucaultsche Projekt einer „Wühlarbeit unter den eigenen Füßen“ (Caruso 1974, 21), in welchem die Kritik der Gegenwart mit der Aufdeckung der historischen Produktionsweisen und Inszenierungen unserer Wirklichkeit und unserer selbst zusammenfällt, wird diesbezüglich Programm und Auftrag zugleich: den Menschen als keineswegs naturgegebenes Wesen, sondern stets als Korrelat historischer und kultureller (Wissens-)Praktiken zu denken. Dies gilt auch und gerade für die Konstituierung von Wissenschaft selbst, die ihren Gegenstand ebenfalls nie nur vorfindet, sondern trotz aller vermeintlichen und angestrebten Objektivität auch erst zu konstruieren hat (vgl. hierzu Daston/Galison 2007; klassisch Weber 1904).

Dies kenntlich zu machen und in seiner historischen Genese nachzuzeichnen, ist eine originär kultur- und literaturwissenschaftliche Aufgabe: Indem literarische Konterdiskurse (Warning 1999) im Sinne Foucaults aufgeschlossen und die ökonomischen Subtexte herauspräpariert werden, erweisen sich literarische Konstellationen für die Ökonomik als hochgradig anschlussfähig. Literatur kann eben ‚Wahrheiten‘ sagen, für die sonst im Diskurs wenig oder kein Raum ist; Literatur verdichtet Probleme und vermag diese – im Gegensatz zu den hochspezialisierten Einzelwissenschaften – in ihrer ganzen Tragweite auszuloten: Literatur als „selbständiges Organon der Reflexion ungelöster Probleme“ (Eibl 1995, 126).

Die Literarizität der Ökonomik

Einen weiteren Schritt in die Richtung einer von den Philologien begleiteten Wirtschaftswissenschaft geht die Chicagoer Ökonomin Deirdre McCloskey, die seit den 1980er-Jahren mit dem „New Economic Criticism“ einen Forschungsansatz entwickelt, der die Ökonomik in letzter Konsequenz als Literatur begreift (vgl. etwa McCloskey 1983, 1985; Woodmansee/Osteen 1999). McCloskey untersucht die rhetorischen Mechanismen der Wirtschaftswissenschaft, um aufzudecken, welche theoretischen Irrtümer und praktischen Interessen die Grundlagen der eigenen Disziplin bilden. Sie möchte zeigen, aus welchen ideologischen, kulturellen und historischen Mosaiksteinen sich die Theorien und Sprachen der Ökonomik zusammensetzen – sei es nun bewusst oder unbewusst – und welches Maß an Literarizität auch (wirtschafts-)wissenschaftlichen Texten zu eigen ist. Auch hier lässt sich mithin ein reizvolles und lohnenswertes Forschungsprogramm finden, kann doch eine solche Aufdeckung der rhetorischen und ideologischen Tiefenstrukturen der Ökonomik ebenfalls als genuin kulturwissenschaftliche Aufgabe gesehen werden (vgl. Vogl 2010; Horvath 2011b). Hier bedarf es der Philosophen, Literaturwissenschaftler und Historiker, die in ihren jeweiligen Disziplinen entsprechende Methoden und ein spezifisches Vokabular entwickelt haben, um über Wissenschaft als Teil historischer, kultureller und gesellschaftlicher Praxis zu sprechen (vgl. etwa Deines et al. 2003) und deren narrative Strukturen offenzulegen (etwa Ferraro/Pfeffer 2005; Bredekamp 2005).

Der ökonomische Zugang: Ökonomie und Ökonomik in der Literatur

In der zweiten prinzipiellen Möglichkeit des interdisziplinären Dialogs wird die Wirtschaftswissenschaft gegenüber der Literatur akzentuiert: Welche Erklärungskraft wohnt der Ökonomik für die Literatur inne? Die vermeintliche Schwäche der Ökonomik, nämlich ihre inhärente Konstruktion als ahistorische Wissenschaft, könnte sich hier gerade als ihre Stärke erweisen, ergründet sie doch menschliches Verhalten in seinen grundsätzlichen Wesensbestimmungen, also unabhängig von Zeit und Ort und Kontext, seien die handelnden Subjekte nun Neandertaler, französische Monarchen oder amerikanische Investmentbanker. Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Ökonomik erscheint an diesem Punkt höchst reizvoll: hier der literarische Text mit seiner historischen Signatur, dort die ahistorisch-abstrahierende Methode. Gerade aus dieser Verknüpfung und Rückkoppelung resultiert die Möglichkeit, überzeitlichen Gehalt und historische Differenz der Texte erkennbar und explizit ausweisbar zu machen.

Ziel ist es also, durch ökonomische Interpretationsarbeit neue Zugänge zu literarischen Texten zu erschließen. Eine solche genuin ökonomische Lektüre mit wissenschaftlichem Anspruch ist bis heute ein Desiderat. Voraussetzung sind fundierte ökonomische Kenntnisse, so dass die sachgerechte Interpretation gesichert und die Gefahr einer zu holzschnittartigen oder gar von Klischees geprägten Rezeption ökonomischer Kontexte vermieden werden kann. Doch trotz reizvoller Fragestellungen, die die Literatur als Problemreflexion bereithält, trotz aller Methodendiskussion um Möglichkeiten und Grenzen der Wissenspoetik (vgl. etwa Vogl 1997; Stiening 2007; Pethes 2003; Borgards 2013) scheint es seitens der Wirtschaftswissenschaft bis heute weder Handlungsbedarf noch Interesse an interdisziplinärer Zusammenarbeit zu geben. Das ‚Wissen‘ der Literatur bleibt der Literaturwissenschaft vorbehalten.

Dabei greift Literatur den Fachdiskursen nicht selten in der Entdeckung und Beschreibung wissenschaftlicher Phänomene voraus: Indem nämlich der Modus literarischer Rede nicht bestimmten Denkvoraussetzungen oder anderen engen Limitationen unterliegt, kann Literatur neu auftretende Phänomene vielfach früher und offener thematisieren als es die Wissenschaft in all ihren Restriktionen vermag. Denn diese muss, um wissenschaftlichen Kriterien standzuhalten, zuallererst einen geeigneten Zugang finden – also etwa eine theoretische Modellierung formulieren, empirische Belege sammeln oder Experimente durchführen –, bevor mit der schließlich gewählten Forschungsperspektive dennoch immer nur ein enger Ausschnitt aus der komplexen Wirklichkeit untersucht werden kann. Totalmodelle wird und kann es genau wie Atlanten im Originalmaßstab nicht geben.

Genau darin liegt die Chance der Literatur: Denn während jede wissenschaftliche Studie bereits in ihren ersten Absätzen die zugrundeliegenden Prämissen und Einschränkungen offenzulegen hat, um eine seriöse Argumentation sicherzustellen, ist die Literatur diesem objektiven Erkenntnisinteresse enthoben: Als „poetischer Konterdiskurs“ unterscheidet sie sich „von jedwedem anderen Diskurs, der Strategien der Exklusion und der internen Disziplinierung unterworfen ist“ (Warning 2004, 88), kann also formulieren, was diskursiven Wissensformen unzugänglich bleibt, und fungiert damit als Seismograph wie Chronist gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen. Anders als die Wissenschaft kämpft die Literatur nicht mit der Schwierigkeit, Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Handeln identifizieren zu müssen, sondern kann den Einzelfall, die Abweichung und die Vorausdeutung zu ihrem Thema machen. Sie hält damit strukturell die Möglichkeit offenen und unzeitgemäßen Denkens gleichsam avant la lettre bereit.

Die fünf Kategorien ökonomischer Textlektüren

Welchen konkreten Fragestellungen könnte nun ein ökonomischer Zugang zu literarischen Texten nachgehen? Fünf Kategorien ökonomischer Lektüren erscheinen denkbar, die in der Gesamtschau die prinzipiellen Facetten des Ökonomischen im literarischen Text ausmachen:

Da ist erstens die Darstellung und Analyse von wirtschaftlichen Kontexten auf der Mikroebene. Das Spektrum reicht hier von der Betrachtung von Austauschprozessen genereller Art (wie Kreditzusammenhängen, Schenkungen und Gaben) bis hin zu Pathologien (wie Übervorteilungen, Betrugshandlungen oder allgemeinen Informations- und Vertragsproblemen). Versteht man die Ökonomik als umfassende soziale Interaktionstheorie, so rücken auch Milieu- und Verhaltensanalysen sowie die Betrachtung von Gruppenkohäsion oder -erosion (wie in Familienkonstellationen oder Geschlechterverhältnissen) in den Fokus. Die zugrundeliegenden Theorien finden sich in der Mikroökonomik, der Neuen Institutionenökonomik, der Spieltheorie und ihren Ausdifferenzierungen, etwa der Familienökonomik oder dem neuen Feld der Identitätsökonomik. Dass die Literatur mit ihren Beschreibungen jedweder sozialer Interaktion – gerade auch in der Abweichung zur Norm – reiches Anschauungsmaterial etwa für familienökonomische Fragestellungen bietet, liegt auf der Hand (vgl. etwa Betz/Mayer 2005; Hoffmann 2008/2009).

Da ist zweitens die Darstellung und Analyse von wirtschaftlichen Kontexten auf der Makroebene. Dabei geht es um literarische Texte, die makroökonomische Fragen (wie Arbeitslosigkeit, Wachstum oder Inflation) behandeln. Paradigmatisch wäre hier etwa Brechts Episches Theater zu nennen, das Probleme von Markt und Staat, von Kooperation und Defektion, von Macht und Ungleichheit auf die Bühne bringt. Mit den Mitteln des Theaters werden komplexe ökonomische Zusammenhänge gleichsam in Modellanordnungen untersucht und vorgeführt, um im Zuschauer einen analytischen Denk- und Aufklärungsprozess in Gang zu setzen. Häufig stehen krisenhafte Erfahrungen im Zentrum. So kommen der Dreißigjährige Krieg oder die Weltwirtschaftskrise in ihren vielschichtigen Ursachen, ihren verheerenden politischen und sozialen Folgen und ihrer undurchsichtigen ökonomischen Gemengelage zur Darstellung. Bei der Rekonstruktion dieser und verwandter Zusammenhänge helfen die Theorie der politischen Ökonomie, die Finanzwissenschaft oder die Makroökonomik.

Da ist drittens die poetische Überformung ökonomischer Sachverhalte durch Symbole, Metaphern, Gleichnisse oder Allegorien. Mit dem Modus des uneigentlichen Sprechens verbindet sich der Versuch, über den wörtlichen oder unmittelbar gegebenen Kontext hinauszugehen und auf einen größeren, nicht näher bestimmten oder bestimmbaren Horizont zu verweisen. So kann etwa die Darstellung des Sechstagerennens im expressionistischen Drama als Allegorie auf die moderne Wettbewerbsgesellschaft gelesen werden. Literatur ist damit imstande, die ganze Vielschichtigkeit und Komplexität zu transportieren, die mit den Mitteln der ökonomischen Theorie kaum zum Ausdruck gebracht werden könnte. Durch symbolische oder allegorische Darstellung werden verborgene Mechanismen offengelegt, so dass individuelle und gesellschaftliche Konflikte, soziale Missstände oder moralische Dilemmasituationen umso deutlicher hervortreten. Freilich obliegt dem Rezipienten die schwierige Aufgabe der Rückübersetzung und Entschlüsselung, bei der zu helfen Sinn und Zweck der ökonomischen Re-Kontextualisierung ist.

Da ist viertens die häufig und gerne im Medium der Literatur formulierte Sozialkritik. Diese reicht von der zumeist marxistisch grundierten Kritik am Wirtschaftssystem bis zu generellen Fragen von Wirtschaft und Moral: Kritik am Kapitalismus und seinen Exzessen, an Börsen und Banken, Entfremdung in der Arbeitswelt, Erosion der Werte, Zerstörung von Familie und Kultur, der Zusammenhang von Schuld und Schulden, die Rolle des Geldes, die Industrialisierung, Armut und Verelendung der Massen oder die Deformierung des Menschen, der als Spielball zwischen den ‚Ismen‘ dieser Welt regelrecht aufgerieben wird. So und ähnlich lauten die Befunde, die die Literatur eindrücklich und mahnend formuliert, indem sie ökonomische Sachverhalte am konkreten Einzelfall – zumeist aus der Perspektive des kleinen Mannes und der Verlierer – veranschaulicht und zugleich in einen größeren politisch-gesellschaftlichen Kontext stellt. Zwar hat Literatur oft genug Schlagseite – sie ist der systematische Ort tendenziell linker, häufig auch ökonomisch uninformierter Sozialkritik –, doch besitzt die narrative Vermittlung ganz eigenen heuristischen Wert. In einer ökonomisch reflektierten Lektüre gilt es, solche Bezüge in ihrer Genese zu rekonstruieren, einzuordnen und kritisch zu überprüfen. In der Moralphilosophie und politischen Theorie wird ein solches Konzept der narrativen Vermittlung theoretischer Einsichten in jüngerer Zeit bereits vermehrt diskutiert (vgl. Nussbaum 1995a, 1995b). Auch hier wird deutlich, wie literarische Texte ethisch-moralisches Bewusstsein schaffen können – eine Aufgabe, die die bloße Lektüre wissenschaftlicher Abhandlungen gerade nicht leisten kann. Indem Literatur die abstrakte Ebene verlässt und stattdessen einen nachvollziehbaren Kontext, unmittelbare Anschauung und auch Emotionalisierung ermöglicht, fördert sie Identifikationspotenzial und ein vielschichtigeres und humaneres Verständnis der sozialen Implikationen des eigenen Tuns, was gerade auch im ökonomischen Kontext zu einer immer dringlicheren Aufgabe wird.

Und da ist fünftens die produktive Aneignung der Wirtschaftswissenschaft durch die Literatur. Eine bloße Rezeptionsgeschichte etwa der Historischen Schule der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert oder des Keynesianismus im 20. Jahrhundert ist dabei nur von untergeordnetem Interesse. Wichtiger und reizvoller als eine solche mechanistische Übertragung ist der vergleichende Blick, ob die Literatur in ökonomischen Fragen zu identischen, ähnlich gelagerten oder grundverschiedenen Analysen und Antworten kommt wie die korrespondierende Fachwissenschaft.

Abstraktion und Einzelfall, Theorie und Anschauung

Der ökonomische Interpretationsansatz zielt nicht darauf ab, einen Generalschlüssel zum umfassenden Verständnis bereitstellen zu wollen. Dem berechtigten Einwand, dass er sich primär auf Inhalt, Handlung und Struktur literarischer Texte beschränkt und dabei formale Aspekte und literarische Kunstmittel weitgehend ausklammert, kann er sich nicht entziehen. Den ganzen poetischen Reichtum des literarischen Kunstwerks vermag er nicht zu erfassen, doch welcher Ansatz könnte dies für sich in Anspruch nehmen? Große Literatur ist schlechthin inkommensurabel: Unterschiedliche Ansätze und Methoden substituieren sich nicht gegenseitig, sondern stehen in einem Verhältnis der komplementären Ergänzung, wenn es darum geht, die vielschichtigen Sinndimensionen literarischer Texte auszuloten.

Natürlich will der ökonomische Interpretationsansatz Literatur auch nicht eindimensional als ökonomischen Traktat lesen: Darin bloße Formulierungen theoretischer Standpunkte sehen zu wollen oder gar interessegeleitete Reduktionen vorzunehmen, um Literatur in bestimmte ökonomische Terminologie zu übersetzen oder umzuschreiben, würde ihrem Charakter nicht gerecht. Ebenso wenig kann beabsichtigt sein, andere Zugangsweisen zu delegitimieren oder diese in ein ökonomisches System umzudeuten. Selbstredend soll hier weder einer totalisierenden Ökonomik noch einer ökonomischen Dominanz das Wort geredet werden, um möglichen Abwehrreflexen vorzubeugen. Wünschenswert wäre vielmehr, dass eine ökonomische Deutung gleichberechtigt mit anderen Interpretationsansätzen und ohne Ressentiments zur wissenschaftlichen Diskussion gestellt werden kann.

Entscheidend ist hierzu eine konsequente Interdisziplinarität, die über Expertise in beiden Feldern verfügt. Es ist nicht zweckdienlich, zwar die Begriffe der korrespondierenden Disziplin zu verwenden, diese aber in der genauen Semantik oder gar der grundsätzlichen Bedeutung zu verfehlen. Begriffskompatibilität ist also zwingende Voraussetzung. Profunde Kenntnisse der Forschungsliteratur sind genauso unerlässlich wie die argumentative Verortung in beiden Disziplinen. Doch so voraussetzungsreich ein solches Programm bereits in der Durchführung ist, so heikel ist auch die Abwägung zwischen der berechtigten Forderung nach Theoriepluralismus und einem beliebigen Methodensynkretismus. Wie die Theoriebausteine aus den unterschiedlichsten Verästelungen der Disziplinen sauber zueinander in Beziehung gesetzt werden können, bedarf daher einer sorgfältigen methodischen Grundlagenreflexion.

Generell unterscheiden Wissenschaftstheoretiker sechs Erkenntnismodi der Wissenschaft: mathematisches Postulat und Beweis, Experiment, hypothetische Modellierung, Taxonomie, statistisch-probabilistische Analyse und historische Anschauung und Ableitung (Crombie 1988, 10ff.). Im Gegensatz zu diesem Pluralismus konzentriert sich nicht nur die neoklassisch geprägte Ökonomik auf Idealisierung, Formalisierung und Abstrahierung. Häufig wird dies so weit getrieben, dass die theoretische Modellierung nur noch wenig mit der gesellschaftlich-kulturellen Realität zu tun hat und entscheidende Konstituenten der Wirklichkeit per Modellannahme wegdefiniert werden. Trotz aller Methoden- und Theoriereflexion hat sich die ökonomische Disziplin noch kaum darüber verständigt, wie mit diesen und ähnlichen erkenntnistheoretischen Problemen umzugehen ist (vgl. etwa Blaug 1992). Das betrifft vor allem die Frage, welcher epistemologische Status ökonomischen Modellen innewohnt und welche heuristische Funktion daraus abzuleiten ist. Die häufig anzutreffende Neigung, alles beobachtbare Handeln und Verhalten, alle Erscheinungen in der wirtschaftlichen Welt direkt im Licht der gelernten Modelle zu denken und zu interpretieren, kommt einem komplexen Wirklichkeitsverständnis ebenfalls nur sehr bedingt zugute – zumal Mathematik den „Imperativ der Einfachheit“ mit sich bringt, ja „diktiert“ (Debreu 1991, 4; Krugman 2000). Das Problem liegt darin, dass ökonomische Theorien und Modelle unmittelbare Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft zeitigen. Ihre performative Kraft lässt sich nur schwerlich leugnen, was oft genug dazu geführt hat, die Ökonomik gar als „dismal science“ zu bezeichnen (hierzu etwa Frank/Schulze 2000; Kirchgässner 2005; Marglin 2010).

Bloße Modellschreinerei oder Modellprahlerei, wie manche süffisant kommentieren, hat in diesem Zusammenhang wenig Aussicht auf Erfolg. Stattdessen ist umso nachdrücklicher an den oben zitierten Meisterökonomen, wie Keynes ihn sah, zu erinnern – einen Ökonomen, der über Kompetenzen auf den Gebieten der Geschichte, der Ökonomik und der Statistik verfügt und diese in Forschungspraxis, geistigem Horizont und gesellschaftlichem Diskurs gleichermaßen zur Geltung bringt. Bereits Keynes war sich schon früh der Dringlichkeit bewusst, der abstrahierenden und formalisierenden Ökonomik die konkrete Anschauung zur Seite zu stellen, um kulturelle Realität und gesellschaftliche Implikationen systematisch und strukturell mitdenken zu können.

Genau hier kommt die Literatur ins Spiel: Zwar spiegelt sie alles in das vordergründig Konkrete, Individuelle, doch eignet der „kulturellen Sonde der Poesie“ (Karl Eibl) eine besondere Form der Tiefenschärfe. Es reicht eben nicht aus, ein idealisiertes Wettbewerbskonzept ökonomisch zu entwickeln, ohne die Folgen für Individuum und Gesellschaft mitzudenken. Allerdings unterscheidet sich Literatur, mithin die poetische Weltkonstitution und -konstruktion, von den Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses grundsätzlich und elementar: Regiert hier der Einzelfall, strebt man dort nach dem Allgemeinen. Finden hier Moralisierung und Sinnstiftung ihren Ort, sucht man dort wertfrei nach Korrelation und Kausalität. Hier das Erzählen als konsekutives und teleologisches, also zeitlich geordnetes und gerichtetes Verfahren, dort die Systembetrachtung mit komplexen Interdependenzen und Interaktionen. Und doch ‚weiß‘ Literatur sehr viel: Auch sie hält Mittel und Wege bereit, sich der komplexen Wirklichkeit zu nähern, Erzählen ist eine „herausragende Methode des Verschnürens von Informationen“ (Eibl 2004, 255). Als Quelle von Wissen ist Literatur voll von impliziten und expliziten Wissensansprüchen, als alternativer Diskurs ist sie von ganz eigenem Erkenntniswert.

Auch wenn Möglichkeiten und Grenzen der interdisziplinären Zusammenarbeit hier nur knapp und skizzenhaft umrissen werden konnten, sollte aus diesen grundsätzlichen Überlegungen deutlich geworden sein: Das Wechselspiel von Literatur und Ökonomie, Literaturwissenschaft und Ökonomik ist höchst facettenreich und beinhaltet Rückkoppelungen und Vermittlungen unterschiedlichster Art. Gemeinsame Wissensressourcen zu identifizieren, nachzuvollziehen und zu verstehen, gereicht beiden Disziplinen zum Vorteil: Der Literaturwissenschaft verhilft der ökonomische Interpretationsansatz zu einer weiteren Dimension im Textverständnis, während die Ökonomik durch die Literatur Zugang zu überreichem Anschauungsmaterial gesellschaftlich-kultureller Praxis erhält (vgl. etwa Schefold 1994, 1995). Gerade aus den verschiedenen Anschauungen lässt sich viel für die wissenschaftliche Einordnung und Perspektivierung gewinnen: Jede theoretische Konzeption bedarf der kulturellen und sozialen Einbettung. In diesem Sinne kann Literatur etwas leisten, was sich mit Edgar Salin als „Anschauliche Theorie“ bezeichnen ließe. Insofern der Literatur eine ganz eigenständige Kapazität der Problemreflexion und Problemlösung innewohnt, erweist sich, dass mit ihrer Anschaulichkeit kein Verlust an analytischer Qualität verbunden sein muss. Ganz im Gegenteil.

Anmerkung: Der Beitrag basiert auf Vorarbeiten des Verfassers (vgl. Horvath 2011a, 2011b) mit ausführlichen Belegen und weiteren Literaturhinweisen. Eine Monographie mit beispielgebenden ökonomischen Lektüren literarischer Texte ist in Planung.

Literatur

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