„Alles wird schräg, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt!“

Die Abschlussveranstaltung des Essener Poet in Residence-Spezial, oder: 90 Minuten zu Gast im poetischen Universum von Steffen Popp

Von Maren JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maren Jäger

Mit seiner Eloquenz und der hohen Geistesblitzfrequenz wirkt Steffen Popp auf sein Publikum immer etwas einschüchternd; dabei ist er kein gewiefter alter Fuchs, kein weißhaariger Lyrikdoyen, sondern ein junger Mann, der seine Zuhörerschaft in Erstaunen versetzt, wenn er Querverbindungen zwischen Knotenpunkten der internationalen Geistes- und Literaturgeschichte herstellt, die Möglichkeiten poetischen Denkens und dessen Verhältnis zum Diskursiven auslotet – und seine eigenen Äußerungen zugleich (sprach)kritisch kommentiert.

Einen Moderator braucht Steffen Popp eigentlich nicht, um in Fahrt zu kommen, bestenfalls einen Stichwortgeber – ein Luxus also, dass die Veranstalter des Duisburg-Essener Poet in Residence-‚Spezials’: Zwischenspiel Lyrik für die Abschlussveranstaltung Norbert Wehr eigeladen hatten: Mit seiner Zeitschrift Schreibheft, die seit 1977 (seit 1982 unter seiner Leitung) „avancierte Literaturkonzepte in internationalen Literaturen aufzuspüren versucht“, ist Wehr ein Leuchtturm inmitten der literarischen Unternehmungen im Ruhrgebiet – und könnte selbst abendfüllend erzählen.

Popp wurde 1978 in einem Land geboren, dessen Gesellschaftsform er – im Gegensatz zum nur wenige Jahre älteren Tom Schulz – nicht erlebt, sondern eher schemenhaft geahnt hat; seine ostdeutsche Biographie war „nicht lang genug, um in diese Gesellschaftsform einzusteigen“. Nun begab es sich aber, dass Steffen Popp auf der Mathe-Spezialschule, die er in Dresden besuchte, „auf einmal nicht mehr so gut wie andere Mathespezialschüler“ war, weil seine Interessen ihn auf einen anderen Weg führten, dessen Anfang indes nicht mit Erfolgen gepflastert war: Beim ersten Anlauf hatte seine Bewerbung am Deutschen Literaturinstitut Leipzig keinen Erfolg, aber seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Ein Jahr später wurde Popp zugelassen und studierte dort für drei Jahre u.a. bei Katja Lange-Müller; Harald Hartung und Kerstin Hensel, bevor er sein in Dresden begonnenes Studium der Germanistik und Philosophie an der HU Berlin fortsetzte.

Bei Brecht heißt es zwar (in dem kleinen Aufsatz „Über das Zerpflücken von Gedichten“), in der Anwendung von Kriterien läge ein Hauptteil des Genusses; doch bereits Popps Hauptfachwechsel von der Literaturwissenschaft in die Philosophie war ein erstes Symptom seines Leidens an der germanistischen Begrifflichkeit. Im Studium seien vor allem Romanisten wie Erich Auerbach oder Anglisten wie Wolfgang Iser für ihn wichtig gewesen; eine Ausnahme unter den Germanisten war der Literaturwissenschaftler-Philosoph Peter Szondi.

Popp hat den Sprung aus der Wissenschaft als eine Befreiung erlebt: „Ich hatte das Gefühl, jahrelang mit einem Bleigürtel trainiert zu haben – und bin dann dorthin gegangen, wo es die besseren Begriffe gab.“ Dabei bieten Popps Gedichte doch stets (so ihr Autor in der Dankesrede zum Peter-Huchel-Preis) die „Möglichkeit, an Expeditionen in Unbegriffliches, Unbegriffenes teilzunehmen und Wort für Wort, Zeile für Zeile dabei zuzusehen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln sie vorankommen, etwas erreichen oder auch scheitern.“

Wer aber waren die poetischen Helden, die Steffen Popp, ähnlich wie Nicolas Born damals Norbert Wehr, ‚auf die Spur’ gebracht haben? Es sei „keine Einzelperson“ gewesen, entgegnet Popp (für Eingeweihte vielleicht etwas überraschend, s.u.) auf die Frage des Moderators, vielmehr die ersten lyrischen Gehversuche auf Vorlesebühnen in Berlin und bei Wohnzimmerlesungen: „Dort erhielt man Kritik von Leuten, die sich besser auskannten.“ Ferner: das Netzwerk um den kookbooks-Verlag. Bei einem Autorencamp am Müggelsee, das von einer kleinen literarischen Gesellschaft ausgerichtet wurde, kam es zum ersten und folgenreichen Zusammentreffen von Steffen Popp und Daniela Seel. Der später von Seel gegründete Verlag brachte ihn mit Daniel Falb, Hendrik Jackson und Monika Rinck zusammen, mit denen er 2011 im Merve-Verlag Helm aus Phlox vorlegen wird, bei dem auch Ann Cotten mitwirkte, ein eigenwilliges gemeinschafts-poetologisches Unterfangen, das Grundzüge und Probleme möglicher zeitgenössischer Dichtung einkreist, skizziert und mehrstimmig diskutiert. 

Zugleich klären die fünf Lyriker*innen jeweils für sich, aber auch grosso modo die Frage nach den Motiven ihres Schreibens, nach ihren je spezifischen Interessen an bestimmten Modi der Wahrnehmung. Fünf äußerst unterschiedliche Persönlichkeiten seien sich da in der Lyrik begegnet; ihre unterschiedlichen Personalstile und heterogenen Zugriffe auf ihr dichterisches Material hätten sich ausgerechnet das Gedicht als optimales Ausdrucksmedium gesucht. Und welch ein Glück sei so eine Gemeinschaftsarbeit, so Steffen Popp, da nicht wenige Autoren an den hedonistisch-isolierten Produktionsbedingungen von Literatur leiden: allein an einem Tisch arbeiten zu müssen.

Eine Lyrikerin, deren kritischen Blick Steffen Popp ebenso schätzt wie ihr Werk, ist Elke Erb. Als ausgesonderte Buchbestände aus ostdeutschen Bibliotheken wohlfeil zu haben waren, hielt er Vexierbild in der Hand, einen der ersten Gedichtbände der Autorin – und sah hier zum ersten Mal, dass Gedichte sich wie Archipele über die Seiten verteilen können. 2003 habe er in Berlin eine Lesung von ihr gehört – und gemerkt: „Ist die gut!“ Aus dieser Begegnung hat sich eine produktive Dichterfreundschaft entwickelt: Er besucht sie immer mal, sie lesen und beäugen einander mit Wohlwollen. „Es ist eigentlich kaum machbar, aber sie wird immer noch besser!“, sagt Steffen Popp über Elke Erb. Und letztere hat den ersten Zyklus aus seinem jüngsten Gedichtband lektoriert, ihr ist das Titelgedicht gewidmet, das mit Erbs Gedicht „Die wirkliche Möglichkeit“ (aus Sonanz, 2008) in einen Dialog eintritt:

Dickicht mit Reden und Augen

Möglichkeit und Methode überschneiden sich
ein kühner Satz bricht sich im Wald, fortan er hinkt

kein Sprung ins Dickicht dringt, kein Huf hinaus
kein ausrangiertes Fahrrad betet hier um Ruh
kein altes Lama spuckt, kein junges auch

sie hängen in den Tag, in Baumschaukeln
kein Baum, genau besehen, keine Schaukel, nicht mal
ein sie, nur hängen, Tag

Reden, durch nichts gedeckt, doch lebhaft
Lebewesen fast in einem Dickicht
hängend, hinkend eine, darum nicht weniger wahr
nicht wahr, nicht weniger, nicht – ungerührt

schaukeln oder grasen zur Pflege der Landschaft
oder stehen nur in ihr, schauen herüber mit Augen.

für Elke Erb

Aus: Steffen Popp: Dickicht mit Reden und Augen. Berlin: kookbooks, 2013, S. 38.

Steffen Popp versteht zu loben, wo es angebracht ist: Er würdigt Elke Erb als die „größte lebende deutschsprachige Lyrikern – was Männer einschließt!“ Ihr Gesellschaftsbezug, ihre Radikalität, auch diejenige der Synthese von Leben und Werk als „Gesamtkunstwerk“ – all das hat ihn zutiefst beeindruckt, vielleicht auch, weil er in der Lyrikerin seine Formel von „Poesie als Lebensform“ personifiziert findet, die rasch zum Motto von kookbooks avanciert ist. Ein „nicht unproblematischer philosophischer Topos“, findet Popp, der auf das frühromantische Konzept einer progressiven Universalpoesie zurückverweise: „Die Welt muss romantisiert werden“, heißt es in Novalis’ Fragmenten – doch Popp quittiert: „Nein, bitte nicht!“ Für Wittgenstein war das „Sprechen der Sprache [Teil] einer Lebensform“. Übertragen ins 21. Jahrhundert kann man darunter womöglich eine gelungene Synthese von gesellschaftlichem Leben und poetisch-philosophischem Gebäude verstehen, und da kommt (womöglich) wieder Elke Erb ins Spiel: „Elke Erb und Lyrik: Da passt kein Blatt Papier dazwischen! Sie trennt nicht zwischen ‚Schreibtisch’ und ‚Rest’. „Kann mir das auch passieren?,“ fragte sich Steffen Popp – und winkt resignativ (oder: bescheiden?) ab: seine Generation sei „zu profan“.

Von Steffen Popp ist neben drei Lyrikbänden (Kolonie zur Sonne, 2008; Wie Alpen, 2004, und zuletzt Dickicht mit Reden und Augen, 2013) 2006 ein Roman bei kookbooks erschienen: Ohrenberg oder der Weg dorthin, der Autor und Verlag eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis eintrug. Auf diese Doppelexistenz als Erzähler und Lyriker zielt Norbert Wehr mit seiner Frage, wie und woran sich entscheide, „ob etwas erzählt werden muss oder nur zum Gedicht werden kann“. Das hänge nicht vom Stoff, sondern vom Modus der Verarbeitung ab, repliziert Steffen Popp. Sein Roman sei ein schmales Bändchen, nur 144 Seiten umfasst Ohrenberg, in dem er eine als „Gegencharakter“ entworfene Persona als Protagonisten installiert. Die ersten Kapitel habe er – wie er im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt erklärt – monologisch „gesprochen, noch gar nicht mit Blick auf einen Roman“, und jedem Leser des Romans müsse angesichts dieser deutlichen Signatur des Mündlichen sofort „klar“ sein, dass der Autor von der Lyrik herkommt“: „Alles wird schräg, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt.“

Sein mit dem Huchel-Preis ausgezeichneter Band Dickicht mit Reden und Augen besteht aus vier Zyklen („Vom Meer“, „Wälder“, „Narrativ“, „12“) und zwei Abteilungen mit Einzelgedichten („Von Zinnen“, „Agenda mit Tieren“).‚Aha, Natur’, mag man denken. Und Steffen Popp schätzt Naturlyrik; allerdings nicht im naturmagischen Sinne Peter Huchels, dessen Werk ihm (das gibt er in seiner Dankrede zum Huchel-Preis unumwunden zu) letztlich fern ist. „Das Gute an der Natur ist: Sie kann sich nicht wehren, man kann alles in den Naturraum hineintragen.“ Dickicht mit Reden und Augen beginnt mit dem Zyklus „Vom Meer“.

Brandungsnah leben. Meeresgelassenheit, -gestrüpp.
Nah an Ideen, Ideenlosigkeit. Andererseits. Gefühlte
Stille, die im Kopf ausflockt, kippt. Wirkliches Salz.
Davon zerriebenes Licht, das eintrübt, leuchten lässt.

Treibgut durchwühlen, mechanisch, mit dem Zeh.
Gefühlter Sinn. Tang. Tüll (mein liebstes Fossil ist
dein Blick). Elementargeschwätz, windklug wie
Sand. Neben dem Reden Steine, die dort nicht mal
Steine sind. Absencen geben solche See. Man sieht
ohne Augen, ohne zu schwimmen den Grund.

Aus: Steffen Popp: Dickicht mit Reden und Augen. Berlin: kookbooks, 2013, S. 7.

Auf einem Zeltplatz an der Küste Rügens habe er Sommerwahrnehmungen gesammelt, sie erst viel später poetisch verarbeitet, mit den charakteristischen phantastischen Komposita, in einem Prozess der Engführung, Kontrastierung, Ironisierung; dabei setzt er – wie in den ersten vier Zeilen des oben zitierten Gedichtes – „stark auf Wahrnehmungsflächen und die Art der Wahrnehmung.“ „Denke ich, denkt man, Gedichte schreibend, „überhaupt“, und wenn ja, was macht dieses Denken aus?“, fragt Popp in seiner Dankesrede zum Peter-Huchel-Preis – und beantwortet die Frage wie folgt: „Soweit ich es sehe, spielt sich das, was mir an zu Gedichten führendem Handeln denkähnlich vorkommt, in der Tat ‚über Haupt’ ab, mit anderen Worten, es übersteigt die übliche Bühne des Denkens oder steigt zu ihr herab bzw. fällt, mitunter schmerzhaft, auf sie zurück.“

„Frag nicht, was die Poesie für die Gegenwart tun kann. Frag, was die Gegenwart für die Poesie tun kann!“ Unter diesem Motto bestritt Steffen Popp unlängst gemeinsam mit den DichterKolleg*innen Daniel Falb und Katharina Schultens einen Abend im Münchener Literaturhaus – in frecher Kennedy-Verkehrung einer Frage, die die Literaturkritikerin Insa Wilke in ihrer Dankesrede zum Alfred-Kerr-Preis 2014 aufgeworfen hatte: „Muss man es akzeptieren, dass Literaturkritik alle Jahre wieder auf dem Niveau dieser Frage betrieben wird: ‚Wie gegenwärtig ist die Gegenwartsliteratur?‘“

Wie viele junge Lyriker ist Steffen Popp auch Übersetzer – etwa von Ben Lerner, Christian Hawkey. „Entstehen beim Übersetzen Übersetzungen – oder Gedichte von Steffen Popp?“ fragt Norbert Wehr. Übersetzen sei ein Geben und Nehmen: Der Übersetzer gibt die Übersetzung – und bekommt dafür Perspektiven, Verfahren und Einsichten „frei Haus geliefert“. Es sei zudem eine unabdingbare Voraussetzung für eine gelungene Annäherung an den fremden Text, dessen poetische Stimme es in einen fremden Kultur- und Sprachraum „umzutopfen“ gelte, dass einen der fremdsprachige Autor interessiere und eine Verbindung zum eigenen Schreiben aufweise; nur so lasse sich die Spannung zwischen der dienenden Funktion des Übersetzers und seiner Autarkie als eigenständigem Dichter aushalten. Außerdem sei das Übersetzen eine wichtige Übung, um sich gezielt Einflüssen auszusetzen, sich „von sich selbst wegzubringen, damit man nicht ständig in derselben Suppe kocht“.

Wenn es etwa bei Ben Learner heißt: „Gather your marginals, Mr. Specific. The end / is nigh”, so übersetzte Steffen Popp („aus reinem Privatvergnügen”) zunächst: „Pack die Bermudas ein, Dr. Akribisch. Das Ende / ist nah“. Wenngleich das Echo von „Pack die Badehose ein“ und das Wortspiel ‚akribisch-karibik’ verlockend gewesen sein mögen, entschied er sich schließlich doch, die Wendung zu ersetzen („Pack deine Fußnoten ein, Dr. Akribisch. Das Ende / ist nah“), um das Original nicht zugunsten privater Lieblingsbilder zu stark zu verfremden. Und er weist darauf hin, dass der Band ja in einer zweisprachigen Ausgabe vorliegt, so dass jede(r) Leser*in, die/der des Englischen einigermaßen mächtig ist, die Bewegung des Textes nachvollziehen kann.

Ein großer Vorteil beim Übersetzen noch lebender – jüngerer – Dichter sei es, dass man sich erdumspannend per Skype austauschen könne. Auf diese Weise begegne man genialen Einfällen und lerne überdies zahllose kulturelle Details, die sich zu einem veritablen Panoptikum zusammenfügen, da der Autor sie geballt zusammentrage: Ben Lerner zum Beispiel schicke ihm beim Skypen Wikipedia-Links, etwa um die Wendung zu erläutern: „Police declaw your books“. Und tatsächlich erfährt man im entsprechenden Eintrag über „Onychectomy“, dass in den USA etwa 25% der Katzen entkrallt werden, um die Möbel zu schonen.

Von den Krallen („ein Gedicht mit Krallen!“) kommt Popp auf die Sittiche, genauer: auf ein Bild von Ralf Rothmann (das die Autorin jedoch nicht verifizieren konnte): „Wenn man Sittiche ins Licht hält, sieht man ihr Herz schlagen“, von den Sittichen zu Sabine Scho und ihren poetischen Auseinandersetzungen mit Tiere[n] in Architektur, und von den Tieren zur Spezies Eule, die das Cover seines jüngsten Buches ziert. Steffen Popp faltet das Cover seines jüngsten Buches auf, aus dem ein Poster wird – einer von vielen wundervollen Einfällen des kookbooks-Gestalters Andreas Töpfer. Das Tier der Weisheit, der Göttin Minerva als Begleiterin an die Seite gestellt, trägt auf dem Umschlag von Dickicht mit Reden und Augen statt des Kopfes eine Satellitenschüssel; das Gedicht „Im Eulenhag“, das Steffen Popp anschließend liest, schließt an die lyrische Tradition des Dinggedichts an:

Drehen des Kopfs aus einer Vorzeit ins Jetzt
zurück, und zurück. Jetzt wieder – null Augen
die das blicken. Nicht auszumachen sind
hauptsächlich das Gesicht, Linsen und starr

– massive Unterlegscheiben, gewichtlos
in Schweröl gelagert für alle Zeit. Ganz Ruhe
Spannung, Hut, aber auch Gram darin
Kratzspuren einer Verhexten in traumhaft

pludrigem Balg. Rede geht nüchtern, klug
vom Rückenbrechen. Mit Fiederfüßen
Anti-Hermes, ein Eulenherz unter Schneelast

langsam, kühl. Ohren mit Federsatz treiben
Ballistik im Greifraum, umreißen Zukunft
Abendschönheit über ausgewürgten Knochen.

Aus: Steffen Popp: Dickicht mit Reden und Augen. Berlin: kookbooks, 2013, S. 80.

Schwierig sei es, stellt Popp zwischen zwei Gedichten fest, aus Zyklen zu lesen: „Weil sich die Gedichte darin so aneinanderlegen, weniger selbständig sind als Einzeltexte.“ Aber entweder weiß der Autor mit dieser Schwierigkeit gut umzugehen – oder wir, die Zuhörer, merken es nicht, freuen uns über „Einfallsreichtum und Überfallspotential“ der Gedichte Steffen Popps, so Theresia Prammer in ihrer Laudatio zum Huchel-Preis. Natürlich gibt es bei ihm auch diese sperrigen, abstrakten, ‚schwierigen’ Texte, stellen Gedichte doch für Popp „gedankliche Baustellen“ dar, „deren Probleme sie nicht lösen können, ihnen aber Kontur verleihen, sie wider Erwarten selbst zum Leuchten bringen.“ Und immer leuchtet aus Popps Gedichten der Wille „Poesie zu schreiben, die Spaß macht“ – dem Autor wie seinen Lesern.

Mit einem solchen Gedicht sieht sich Popp durch das Publikum konfrontiert, als Prof. Ursula Renner-Henke einen FAZ-Artikel von Wiebke Porombka aus dem Jahr 2011 schwenkt, dem „Das Gedicht existierte nicht ich Dr.“ beigegeben ist – und schmunzelnd (aber nachdrücklich) bittet: „Erklären Sie mir das doch mal…!“ Was tun, wenn ein Student im Rahmen eines Seminars (wie unlängst geschehen) die definitive Interpretation dieses Gedicht einfordert – oder es gar als ‚Universal-Waffe’ gegen die Methoden der Literaturwissenschaft richtet?

Das Gedicht existierte nicht ich Dr.

Das Gedicht existierte nicht ich Dr. Kinnlos
Zartheit, auch ein Geweih
dem du Gesang anhängst, Logik & Wein.

Das Paradigma erhellte
wer wen verbellte, im Gegenlicht, Liebe trug
und, Weichbirnen, weichem Beton entgegen

Orthodoxie, Orthopädie
nachglühend Orthografie, eines Prometheus
Schienbein

Schmerz existierte nicht Dr. Kinnlos
alias Dr. Unkinn, Dr. Kinn alias Dr. Knie

ich promovierte Frollein über Lyrik

Trotzkis Kinn berührt
das Kinn Montezumas 1940.

Aus: Steffen Popp: Dickicht mit Reden und Augen. Berlin: kookbooks, 2013, S. 78.

Gut, dass der Autor zugegen ist – und Rede und Antwort steht. Einen kalauernden Spaß habe er sich hier erlaubt, sagt Steffen Popp, Folglich gehört auch „Frollein“ hier hinein, „ein – wie das Wort ‚Lyrik’ – mit seltsamem Siff überzogenes Wort“. Das Gedicht stelle – zwischen den „Schmerzpunkten“ Knie & Kinn und Wortspielen mit Kinn und engl. unkin’/unkind/akin sowie den Mehrdeutig- und Mehrdeutbarkeiten in seinen bewusst schlingernden syntaktischen Bezügen – eine ausgelassene Aggression gegenüber philologischen Begriffsbildungen zur Schau, um jedes Interpretationsgebaren, mit dem man sich dem Text nähere, bei jeder Wendung der Verse gleich wieder zu konterkarieren.

Erst spät am Abend wird das Geheimnis gelüftet, was nun Steffen Popp und Norbert Wehr vereine – außer der Initiative Andreas Erbs und der anderen Veranstalter des Poet-Spezials: Für die jüngste Nummer von Norbert Wehrs Schreibheft hat Popp sich des in den Jahren nach 1960 „seltsamste[n] Lyriker[s] der DDR“ (so Adolf Endler im Schreibheft 83), Uwe Greßmann (1933-1969), angenommen, der „unter den Lyrikern seiner Zeit“ ästhetisch wie gesellschaftlich ein „Solitär“ war. Greßmann publizierte Zeit seines Lebens nur einen einzigen Gedichtband (Der Vogel Frühling, 1966) und hatte dennoch immensen Einfluss auf die nachfolgenden zweieinhalb Autorengenerationen: „Alle, mit denen ich über Greßmanns Werk spreche, die finden es toll oder kennen ihn nicht.“ Popp stellt sich die Frage: „Warum faszinieren die Gedichte Uwe Greßmanns mich heute, lange nach der Implosion des Gesellschaftsversuchs, in dem – und irgendwo auch für den – dieser Dichter lebte, den er mit der radikalen Auslegung seiner Sache beschämte und dem er in vielen seiner Gedichte den Spiegel vorhielt?“ Auch hier: Poesie als Lebensform. Ein Radikaler, der seit seiner Jugend, die er in Waisenhäusern verbrachte, an Tuberkulose litt und alles für die Lyrik (aus)gegeben hat. „Was blieb da für die elementaren Bedürfnisse?“ fragte Karl Mickel – und gab selbst die Antwort: „Die geistigen waren die elementaren Bedürfnisse!“ (so berichtet Endler in seinem Essay zu Greßmann in Popps Dossier). Steffen Popp hat zum Schreibheft Nr. 83 „beim Wiederlesen seiner Gedichte“ ein empfehlens- und lesenswertes Porträt über den literarischen Einzelgänger – verknüpft mit zahlreichen Gedichten Gressmanns – beigesteuert.

Wie will der junge Mann weitermachen, möchte Norbert Wehr wissen; schließlich drohe ja jedem Autor die Gefahr, einen Personalstil zu entwickeln, diesen fortzuschreiben – „never change a running system“ – und sich nicht mehr zu fragen, warum man das macht, was man macht. Nach einem Abend mit Steffen Popp ist es allerdings kaum vorstellbar, dass dieser von Faulheit, Trägheit oder Reibungswiderstand abgebremst werden könnte, sich auf der Gewissheit zur Ruhe bettend, dass man „das erste Buch ja gehabt hat“. Steffen Popp ist ein im besten Sinne Besessener, der – wie es andernorts heißt – mit dem selbstkritischen und produktiven Eindruck lebt, „dass sich [s]eine Gedichte im Kern einem intuitiven Misstrauen verdanken, das [er] gegenüber eigenen Ideen und Konzepten empfinde[t].“ Es gibt, so Steffen Popp, nur eine Möglichkeit, diesem Misstrauen zu begegnen: „Was man machen kann – ist: Arbeiten.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen