Deutsch-russische Literatur nach dem Mauerfall

Versuch einer Bestandsaufnahme

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als vor 25 Jahren die Berliner Mauer fiel, hat kaum jemand daran gedacht, dass sich dies ein Dutzend Jahre später auf dem deutschen Buchmarkt bemerkbar machen würde. Mittlerweile sind Veröffentlichungen aus der Feder von Autorinnen und Autoren, die in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden, in einem deutschsprachigen Land leben und als Sprachwechsler in deutscher Sprache schreiben, nicht mehr aus dem deutschsprachigen Literaturbetrieb wegzudenken. Darunter sind (1) AutorInnen jüdischer Herkunft – Vladimir Vertlib, Julya Rabinowich, Lena Gorelik, Olga Martynova, Olga Grjasnova und natürlich Wladimir Kaminer, der Liebling der Deutschen –, deren Werke die Identitätsthematik im Dreieck russischer, jüdischer und deutscher Kultur artikulieren, und (2) Russlanddeutsche, von denen insbesondere Eleonora Hummel einen größeren Bekanntheitsgrad erlangte. Die Wahrnehmung einer ganzen Reihe weiterer AutorInnen – Nelly Däs, Wendelin Mangold, Alexander Reiser, Nelly Wacker, Ilona Walger, um nur einige zu nennen, – geht dabei kaum über den Kreis der Russlanddeutschen-LeserInnen hinaus.

Bevor im Folgenden einige AutorInnen beider Gruppen vorgestellt werden, sei zunächst vorausgeschickt, dass sie die vierte Welle der russischen Migration in den deutschsprachigen Raum darstellen. In der Forschung werden drei Wellen unterschieden: (1) Die erste wurde durch die Oktoberrevolution 1917 verursacht und erreichte 1920 ihren Höhepunkt. (2) Die Emigranten der zweiten Welle verließen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges oder unmittelbar danach. Viele von ihnen wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert und blieben aus Angst vor Repressalien, die sie im Falle einer Rückkehr befürchteten. (3) Die dritte Emigration erfolgte aus der Enttäuschung über „die Kurzfristigkeit des ‚Tauwetters‘ nach Stalins Tod“ (Kasack, S. 11). Die sowjetische Regierung jener Zeit praktizierte Ausweisungen und genehmigte Ausreisen, um politisch aktive und Regime kritische Bürger loszuwerden.[1]

Von den drei vorausgegangenen Wellen unterscheidet sich die vierte darin, dass auffallend viele AutorInnen einen Sprachwechsel vollzogen haben und ihre Werke auf Deutsch schreiben. Die Mehrheit der EmigrantInnen der ersten drei Wellen hatte dagegen weiterhin auf Russisch geschrieben und die russischsprachigen Emigranten und das Lesepublikum in Russland bzw. in der ehemaligen Sowjetunion vor Augen gehabt. Von den AutorInnen der ersten Migrationswelle legten lediglich Fedor Stepun, Wladimir Lindenberg und Alja Rachmanowa ihre Bücher in deutscher Sprache vor. Vergleicht man ihre Werke mit denen der gegenwärtigen auf Deutsch schreibenden AutorInnen russischer Herkunft, so avanciert biografisches Schreiben zu ihrer zentralen Gemeinsamkeit.

1. Deutsch-russisch-jüdische Literatur

Der Beschluss der Innenministerkonferenz vom 9. Januar 1991 über die Ausweitung des Kontingentflüchtlingsgesetzes – Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge (HumHaG) – auf Juden und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus der ehemaligen Sowjetunion bildete die rechtliche Grundlage für die Einwanderung von Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, Olga Martynova, Julya Rabinowich u.a., die als Kinder mit ihren Familien postsowjetische Länder verlassen durften.

Der gemeinsame Nenner dieser AutorInnen und die Besonderheit ihrer Werke bestehen darin, dass sie neue Schauplätze in die deutsche Literatur einführen und neue, dem deutschen Leser unbekannte Themen und Ereignisse in das kollektive Gedächtnis der deutschsprachigen Literatur einschreiben. Die Ereignisse, die in diesen Werken oft zum ersten Mal in deutscher Sprache artikuliert werden, sind z.B. die Leningrad-Blockade, Hungersnot und die russischen Kindertransporte im zweiten Weltkrieg, Antisemitismus und antijüdische Prozesse in der Sowjetunion, um nur einige zu nennen. Neben thematischen Gemeinsamkeiten zeigen diese Werke auch Ähnlichkeiten in der Erzählstruktur auf.

Für die meisten dieser Texte ist das Ausbleiben der Großväter typisch. Die Großmütter sind zwar am Leben, aber sie sind dement oder schweigen über die Vergangenheit, so dass die Generation der Enkelkinder bezüglich der Vergangenheit ihrer Familie im Dunkeln tappt und oft mit einem Familiengeheimnis konfrontiert ist. Die Umgangsweise der Großmütter mit ihrer Geschichte steht für das nicht gelebte, verdrängte und fremd gewordene Judentum der Großelterngeneration zu Sowjetzeiten. Neben der Krankheit als Symbol lassen sich andere Motive feststellen, die neu konnotiert bzw. transformiert werden: Reise, Hochzeit, Grab, Flugzeug, Essen u.a. So kann die Hochzeit in Lena Goreliks Roman „Hochzeit in Jerusalem“ als Metapher für das selbstgewählte Lebensprojekt, für das sich MigrantInnen ausgehend von ihren interkulturellen Erfahrungen entscheiden, verstanden werden.

Darüber hinaus lassen sich in vielen Werken von Lena Gorelik, Olga Martynova, Julya Rabinowich und Vladimir Vertlib zwei typische Aspekte der Migrationserfahrung hervorheben: 1. nicht bewusste bzw. nicht gewusste Migration im Kindesalter und 2. Fremdzuschreibungen, die eine Identitätskrise auslösen. Die Entscheidung auszuwandern trafen die Eltern, die ihre Kinder mitnahmen, oft ohne sie darüber ins Bild zu setzen, wohin die Reise gehen würde, wie z.B. im Fall der Protagonistin Mischka im Roman „Spaltkopf“ von Julya Rabinowich oder des Ich-Erzählers im Roman „Zwischenstationen“ von Vladimir Vertlib. Die später ausgebrochenen Konflikte zwischen den Protagonisten und ihren Eltern spiegeln die Auseinandersetzung der MigrantInnenkinder mit ihren Eltern wider, die mittlerweile zu einem wichtigen Motiv der interkulturellen Literatur avanciert ist. Die Fortsetzung dieses Motivs ist die Reise der ProtagonistInnen als Erwachsene in das Land ihrer Eltern. Diese Reise ist mit den aus Märchen bekannten Proben und Versuchungen der Helden vergleichbar. Diese sind notwendig, um sich zu behaupten und zu beweisen, dass man gut genug ist und es verdient hat, im neuen Land heimisch zu werden. Der zweite typische Aspekt in der Migrationserfahrung dieser AutorInnen – Fremdzuschreibungen, die ihre Identitätskrise auslösten – ist die Erwartung der aufnehmenden Gesellschaft, in den Kontingentflüchtlingen gläubige Juden anzutreffen. Diesen Erwartungen konnten die Auswanderer aus der Sowjetunion, wo Religion ein Tabu und „Jude“ ein Schimpfwort war, sodass ihnen eine beinahe vollständige Assimilation erstrebenswert erschien, kaum gerecht werden. Die von deutschen „Gutmenschen“ geschenkte Menora (Gorelik) und das koschere Essen (Vertlib, Rabinowich) werden in den Romanen als humoristische Erlebnisse dargestellt, sind aber bei genauem Hinschauen der Stolperstein, an dem die Kategorien des Eigenen und des Fremden, Kulturunterschiede und Identitätskrisen aufgezeigt werden. Mehrere Textstellen illustrieren die Vorstellung der aufnehmenden Gesellschaft, wie „der“ Zuwanderer zu sein hat. Die Kategorien Loyalität, Toleranz und Interkulturalität werden nicht nur als Hauptmotive vieler Werke exponiert, sondern in diesen Romanen als „Rezepte“ für gelungene Interkulturalität bzw. „Protokolle“ der misslungenen Interkulturalität verifiziert, wodurch neue Erkenntnisse über die Inklusion der Zuwanderer in die Mehrheitsgesellschaft aus der Perspektive der Zuwanderer selbst angedeutet werden.

Die Sprache dieser Werke zeichnet sich dadurch aus, dass Ergänzungen der Lexik und Erweiterungen der Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache des Einwanderungslandes festzustellen sind. Die Sprachwechsler produzieren eine neuartige „Esoterik des Ausdrucks“ (der deutsche Leser bemerkt, dass eine Anspielung und mithin eine Sinnerweiterung vorliegt, muss aber glauben, dass deren Verständnis dem Kreis von Eingeweihten vorbehalten bleibt, der die gleiche Migrationserfahrung teilt). Das führt zu sprachlichen Vorgängen der Auratisierung, denen an anderer Stelle Entauratisierungen entgegenstehen, z.B. durch den spezifischen Sprachwitz der Mehrsprachler, der an der deutschen Sprache Denkgewohnheiten aufdeckt, die gar nicht mehr bewusst und darum umso unbeirrter vollzogen werden. Die Präsenz der Erstsprache der AutorInnen in ihren deutschsprachigen Werken ermöglicht ihnen eine fruchtbare Neuschöpfung von Metaphern sowie einen kreativen Umgang mit kultur- und sprachimmanenten Besonderheiten.

Ein weiteres Merkmal vieler Werke stellt die außergewöhnlich intensive Intertextualität dar. Damit geht der stiftende Beitrag der russischen Literatur bei der Entstehung der Werke deutsch-russisch-jüdischer AutorInnen einher. Dies zeigt sich besonders deutlich im Werk Olga Martynovas, die 2012 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. Im Roman „Sogar Papageien überleben uns“ (2010) schildert sie ein ungewöhnliches Sowjetrussland mit Leningrader Bohèmiens, mittelasiatischen Hippies und skurrilen Dichtern um Daniil Charms und Alexander Wwedenskij. Die Autorin nimmt Bezug auf jene russische Literatur des 20. Jahrhunderts, die in der Sowjetzeit nur in Samisdat verbreitet wurde und nur wenigen bekannt war: Leonid Aronson, Nikolaj Sabolozkij, Daniil Charms, Alexander Wwedenskij, Leonid Lipawskij, Elena Schwarz.

Die neuen, exotischen und oft befremdlichen Bilder in den deutschsprachigen Werken russischer MigrantInnen gehen dabei auf ganze Reihen von Kulturtransfers zurück. Es geht um die Produktivität im Hinblick auf die Umgestaltung von Traditionen der Herkunftskultur wie auf deren Geltung in der neuen Kultur, um Kontinuität und Diskontinuität beim Fortschreiben bzw. Ineinanderschreiben mehrerer Kulturen, sodann um die besondere Rolle von Bildersprache und Metaphorik.

2. Russlanddeutsche Literatur

Als „Russlanddeutsche“ im engeren Sinne gelten laut Grundgesetz „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist.“[2] Während die Autoren der ersten Gruppe Publizität genießen und mit Preisen ausgezeichnet werden, fristen die russlanddeutschen Autoren ein viel bescheideneres Dasein. Dem breiteren Publikum sind sie kaum bekannt, und auch die Forschung zeigt kein sonderliches Interesse für ihre Literatur. Während Engel-Braunschmidt der Meinung ist, dass man bezüglich der russlanddeutschen Literatur nur in Ausnahmefällen von einem „ästhetische[n] Phänomen“ ausgehen kann,[3] weist Nayhauss der russlanddeutschen Literatur lediglich den Platz einer Minderdichtung zu.[4]

Dass russlanddeutsche Literatur keine ihr gebührende Berücksichtigung erfahren hat, hängt mit ihrer besonderen historisch-gesellschaftlichen Entwicklung – diese verlief „prinzipiell unter anderen historischen Bedingungen“ als die „Gegenwartsliteratur in der europäischen Literaturgeschichte nach 1945“[5] –, der daraus resultierenden Komplexität und nicht zuletzt der sprachlichen Pluralität dieser Literatur zusammen. Engel-Braunschmidt definiert russlanddeutsche Literatur als jene Literatur, „die seit der Ansiedlung unter Katharina d. Gr. (seit 1764) in den über das Russische Reich verstreuten deutschen Sprachinseln entstand, vor allem an der Wolga und in der Ukraine“,[6] und in der russlanddeutsche Geschichte aufgehoben sei.

Die erste Besonderheit der russlanddeutschen Literatur besteht darin, dass sie an zwei verschiedenen Orten mit unterschiedlichen kulturhistorischen Bedingungen entstand bzw. entsteht. Vor der Ausreise der Spätaussiedler nach Deutschland hieß sie „sowjetdeutsche Literatur“ und war, wie der Name bereits andeutet, in der ehemaligen Sowjetunion, vor allem in Kasachstan, Kirgistan, Sibirien und an anderen Orten zu Hause. Der Begriff „Russlanddeutsche Literatur“ etablierte sich nach der Rückwanderung der Spätaussiedler und ihrer Nachkommen nach Deutschland und verweist auf Russland als Diaspora- bzw. Herkunftsland. In beiden Begriffen ist dabei der zweite Teil des Kompositums, „deutsch“, erläuterungswürdig. Als „sowjetdeutsche Literatur“ galten hauptsächlich Werke, die in deutscher Sprache verfasst waren. Nicht die deutsche Volkszugehörigkeit also, sondern die Sprache bestimmte die Bedeutung dieses Namens. Dies hatte zur Folge, dass Werke deutschstämmiger AutorInnen, die in anderen Sprachen schrieben – russischer, kasachischer, ukrainischer – zu den jeweiligen Nationalliteraturen gezählt wurden, um dadurch die Assimilation der Deutschstämmigen voranzutreiben. Auch russlanddeutsche Literatur wird in der Forschung nur selten in einer anderen als der deutschen Sprache berücksichtigt. Somit wird die zweite, zentrale Besonderheit der sowjetdeutschen bzw. russlanddeutschen Literatur – ihre sprachliche Pluralität – weitgehend ignoriert. Dabei besteht diese Literatur nicht nur aus Werken, die in verschiedenen Sprachen verfasst wurden, sondern zeichnet sich durch die Latenz einer je anderen Sprache in der Literatursprache der Werke aus. D.h. diese Literatur bzw. der Schreibprozess vieler russlanddeutscher AutorInnen konstituiert sich aus dem Wechselspiel von zwei oder drei Sprachen. Dieses kommt in verschiedenen Formen zum Ausdruck und wurde bislang in der Forschung weder im Kontext der Zwei- bzw. der Mehrsprachigkeit berücksichtigt noch in den ohnehin wenigen Arbeiten zur russlanddeutschen Literatur thematisiert.

Zwei AutorInnen russlanddeutscher Literatur – Eleonora Hummel und Waldemar Weber – sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Eleonora Hummels (geb. 1970 in Zelinograd) stark autobiografisch geprägter Debütroman „Die Fische von Berlin“ erschien 2005. Seitdem legte die Autorin weitere Romane vor und wurde mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Der Roman thematisiert die Geschichte einer russlanddeutschen Familie, insbesondere die verdrängte, ja tabuisierte Vergangenheit des Großvaters der Protagonistin, die Ausgrenzung der Deutschstämmigen und ihren Assimilationswunsch (Irma) bzw. die Bereitschaft, die Vergangenheit zu kennen und diese in eigenes Leben zu integrieren (Alina). Die Handlung entfaltet sich vor dem Hintergrund der Großen Säuberungen und thematisiert die Situation der Deutschstämmigen in den von NS-Truppen besetzten Gebieten.

In ihrem jüngsten, 2013 erschienenen Roman „In guten Händen, in einem schönen Land“ widmet sich Eleonora Hummel dem Schicksal zweier Frauen in sowjetischen Arbeitslagern. „In einem schönen Land“ herrscht das Gebot „Vergiss, wer du bist, vergiss, wo du herkommst, wir helfen dir dabei, ein neuer Mensch zu werden. […] Wir formen aus dir einen zukunftstauglichen Menschen, einen guten Bürger für dieses Land.“ Dabei hat „dieses Land“ der Mutter das Kind weggenommen und sie für den angeblichen Verstoß gegen die Gesetze jahrzehntelang als kostenlose Arbeitskraft für Schwerstarbeit in Lagern missbraucht. Der Alltag der Häftlinge, ihre schweren Arbeitsbedingungen und große Verzweiflung stehen zwar nicht im Mittelpunkt des Buches, jedoch gelingt der Autorin eine sehr plastische Schilderung der Zustände, denen die „Volksfeinde“ ausgesetzt waren. Kurz vor der Befreiung ihrer Mitgefangenen Nina bittet Olessia Lepanto diese, ihre ihr weggenommene Tochter Viktoria zu suchen. Diese Bitte wird sinnstiftend für Nina, die keine Mühe und kein Geld scheut, um das fremde Kind zu finden. Schließlich wird Viktoria Olessia Lepanto von Nina zum zweiten Mal weggenommen. Eleonora Hummel schildert die Tragik dieser Geschichte ohne Pathos und unnötiges Psychologisieren. Mit wenigen Kunstgriffen gelingt der Autorin ein realistischer, ja dokumentarischer Epos von drei starken und lebenswilligen Frauen.

Waldemar Weber (geb. 1944 in Westsibirien) ist ein zweisprachiger Autor, der neben Lyrik auch Kurzprosa und Essays schreibt. Sowohl für deutschsprachige Werke als auch für Texte in russischer Sprache, sowohl für Lyrik als auch für Prosa erhielt er Preise, so beispielsweise 2002 den Liechtenstein PEN-Preis für deutsche Lyrik und den Internationalen Anatolij Makowskij-Preis für russische Prosa. Sehr früh avancierte Weber zu einem anerkannten Literaturübersetzer aus dem Deutschen ins Russische. Unter den übersetzten Autoren sind sowohl Klassiker der deutschen Literatur als auch weniger bekannte Schriftsteller, darunter auch Gegenwartsautoren – Otto Heinrich Graf von Loeben, Justinus Kerner, Gertrud Kolmar, Georg Maurer, Richard Pietraß, Christoph Meckel u. a. Mit den Übersetzungen russlanddeutscher Dichter wie z. B. Viktor Heinz, Reinhold Leis, Oswald Pladers, Arno Pracht, Elsa Ulmar, Lia Frank u. a. ins Russische trug Weber zur Sichtbarkeit und Popularisierung der russlanddeutschen Literatur in der ehemaligen Sowjetunion entscheidend bei.[7]

2006 erschien Webers Lyrikband „Scherben. Gedichte“, in dem einige Gedichte aus dem russischen Band „Tscherepki“ enthalten sind. Ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Russischen handelt, fehlt, und dies zu Recht, denn es sind nur formal Selbstübersetzungen. Der dichterische Prozess findet in zwei Sprachen statt und zwar nicht parallel, unabhängig voneinander, sondern mittelbar, in direktem Zusammenhang. So entstanden manche russischen Gedichte aus dem deutschen Entwurf, und die meisten deutschen Gedichte haben einen russischen „Zwilling“. Dabei zeigt sich, dass der dichterische Prozess Webers von Zweisprachigkeit inspiriert wird und dass seine Kreativität von der Überlagerung der Sprachen und den damit verbundenen Effekten entscheidende Impulse erhält. Thematisch weisen seine Gedichte ein sehr breites Spektrum auf: Kindheitserinnerungen, Landschaften, Naturbetrachtungen; immer wieder werden auch Verlust und Unbehaustsein lyrisch verarbeitet.

Für die Lyrik Waldemar Webers kann behauptet werden, dass diese nicht nur in zwei Sprachen vorliegt, sondern sich jeweils auch aus zwei Sprachen konstituiert. Dabei sind die russischen und die deutschen Texte gleichermaßen Originale. Sie gehören in die jeweilige Literatur und werden von den Lesern der jeweiligen Sprache unabhängig von ihren Kenntnissen der anderen Sprache rezipiert. Wenn der Leser jedoch – wie der Autor – in zwei Sprachen zu Hause ist, eröffnet sich ihm eine Metaebene dieser Lyrik: Die Gedichte wirken ineinander, und der Gedanke, die Botschaft des Textes, eingegossen in die jeweilige Sprache, lässt sich nicht nur auf den Reim und Rhythmus ein, sondern scheint vom Autor aufs Neue gedacht und erlebt zu sein. Demnach muss die in der Forschungsliteratur oft pauschale Bewertung der russlanddeutschen Literatur relativiert werden, denn insbesondere die kürzlich erschienenen Werke zeichnen sich durch thematische Vielfalt und sprachliche Kreativität aus.

Texte, in denen Erfahrungen aus zwei Sprachen und Kulturen verdichtet sind, wie dies für die deutsch-russische Literatur in den letzten Dezennien kennzeichnend ist, gehören zum nicht wegzudenkenden Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Anmerkungen:

[1] Wolfgang Kasack bietet einen umfangreichen Überblick über die Emigration russischer Schriftsteller nach Deutschland. Vgl. Wolfgang Kasack: Die russische Schriftsteller-Emigration im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte, den Autoren und ihren Werken. München 1996, S. 11-19. Ferner dazu auch: Elena Tichomirova: Literatur der russischen Emigrant/innen. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2000 (2007), S. 166-176; Weertje Willms: „Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett.“ Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren. In: Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hgg.): Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2012, S. 121-141, insbesondere Fußnote 5, S. 122-123.

[2] (Art. 116.2). In: http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_116.html, Zugriff am 19.11.2014.

[3] Vgl. Annelore Engel-Braunschmidt: Rußlanddeutsche Literatur kritisch betrachtet. In: Karlsruher pädagogische Beiträge 32 (1994), S. 112-123.

[4] H.-C. Graf v. Nayhauss: Aspekte rußlanddeutscher Literatur nach 1990. In: Durzak, Manfred / Kuruyazici, Nilüfer (Hgg.): Die andere Deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Würzburg 2004, S. 181-188, hier S. 188.

[5] Vgl. Ljubow Kirjuchina: Sowjetdeutsche Lyrik (1941-1989): zu den Themen „Muttersprache“ und „Heimat als narrativer Identitätsakt“. Wiesbaden 2000, S. 25.

[6] Annelore Engel-Braunschmidt: Literatur der Rußlanddeutschen. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2000, S. 153-165, hier S. 153f.

[7] Herold Belger: Rußlanddeutsche Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Biographien und Werkübersichten. Ins Deutsche übersetzt und ergänzt von Erika Voigt. Berlin 1999, S. 181.  

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Vladimir Vertlib: Zwischenstationen. Roman.
dtv Verlag, 2005.
304 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3423133414
ISBN-13: 9783423133418

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Waldemar Weber: Scherben. Gedichte.
Verlag an der Wertach, Augsburg 2006.
76 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3981103904
ISBN-13: 9783981103908

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Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem.
SchirmerGraf Verlag, München 2007.
256 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783865550378

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Titelbild

Eleonora Hummel: Die Fische von Berlin. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2010.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865213488

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Titelbild

Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2010.
208 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207658

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Julya Rabinowich: Spaltkopf. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2011.
202 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061774

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Olga Martynova: Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte.
Übersetzt aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova.
Literaturverlag Droschl, Graz 2012.
96 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208310

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Eleonora Hummel: In guten Händen, in einem schönen Land.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
362 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306629

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