Ein paar Monate Glück und Freiheit

In seinem neuen Roman „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ erzählt André Kubiczek eine Geschichte aus dem Übergangsjahr 1990

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich am 18. März 1990 bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR 40,8 Prozent der Wähler für die alte Blockpartei CDU mit Lothar de Maizière an der Spitze und damit auch für das die Deutsche Einheit anpeilende Wahlprogramm der christdemokratisch geführten „Allianz für Deutschland“ entscheiden, steht für drei junge Potsdamer fest: Nicht mit uns! Seine Heimat als „Paradies für reaktionäre Touristen“ – Andreas, der Ich-Erzähler in André Kubiczeks neuem Roman „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“, hat sich das Leben nach dem Zusammenbruch der DDR anders vorgestellt.

Mit Arnd, einem Freund, war er vor den Wahlen der Vereinigten Linken (VL) beigetreten, einer basisdemokratischen Bewegung, die sich die Erneuerung des Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hatte. Gegen die vollmundigen Versprechungen der Kanzlerpartei, die mit „blühenden Landschaften“, endlich dem „richtigen“ Geld und „nie wieder Sozialismus“ warb, kamen die jungen Idealisten allerdings nicht an. Nachdem ihre Partei gerade mal ein Prozent der Wählerstimmen bekam, verfiel man in Katerstimmung: „Alle gaben sich die Kante, denn jeder wusste, dass es keine zweite Chance geben würde für eine bessere Welt oder für eine weniger schlechte.“

Kubiczeks Held zieht daraus den Schluss, der Politik den Rücken zu kehren. Und weil er frisch verliebt ist in Arnds drei Jahre ältere Schwester Ulrike, geht er auf deren Vorschlag, die Zelte in Potsdam abzubrechen und mit ihr in ein Lausitzer Dörfchen zu ziehen, wo es einen vom Großvater geerbten Hof zu versorgen gilt, nur zu gerne ein. Ihr Studium lassen die beiden für ein Semester ruhen. Arnd, der sich noch nicht entschieden hat, wie es weitergehen soll mit ihm nach drei Armeejahren, fungiert als Verbindungsmann zur großen Welt und ansonsten versucht man, sich in dem ländlichen Idyll einzurichten.

Neu Buckow heißt der Ort, in dem Andreas und Ulrike die Monate April, Mai und Juni 1990 verbringen. Während sich Deutschland immer schneller verändert, man auf Währungsunion und Beitritt zusteuert, scheint sich hier, in der Nähe der Kreisstadt Senftenberg, die Welt noch im Vorwendetempo zu drehen. Ein kleiner Dorfkonsum versorgt die paar Dutzend Einwohner mit dem Nötigsten. Das Pärchen beginnt, sein Domizil zu renovieren. Ein Garten wird angelegt. Hühner ziehen in die Scheune ein. Und an den Abenden stellt man ein Tischchen und zwei Stühle auf die Straße vor das Küchenfenster, raucht, trinkt, liest ein Buch und genießt sein kleines Glück. Alles in allem: ein Hauch von „Rheinsberg“ in der untergehenden DDR.

Aber die Ruhe ist trügerisch. Das markige „Macht’s gut, ihr Trottel!“, mit dem sich das Pärchen aus dem städtischen Trubel verabschiedet hat, gilt nur für kurze Zeit. Dass die der Besitzerin des kleinen Lebensmittelgeschäfts abgekauften Hühner, die eigentlich zum Inventar des großväterlichen Hofes gehört haben, partout keine Eier legen wollen, ist nur ein erstes Zeichen. Wie sich schnell herausstellt, macht sich statt des verdächtigten Fuchses ein deutschstämmiger Sowjetsoldat, der seiner in der DDR stationierten Einheit den Rücken gekehrt hat, nächtens über alles Essbare in dem Dörfchen her. Weil dieser Hermann Schmidt der Liebe wegen desertiert ist, rührt er die Herzen der beiden Stadtflüchtlinge und wird in den kleinen Kreis von Aussteigern aufgenommen, zu dem an manchen Wochenenden auch noch Arnd mit den neuesten Informationen über den Fortgang der Weltgeschichte auf deutschem Boden stößt.

Nach dem groß angelegten und dementsprechend umfangreichen Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ (2012), in dem Kubiczek sich mit der Geschichte seiner Familie auseinandersetzte, ist „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ über weite Strecken eine mit leichter Hand geschriebene Romanze. Sie entführt ihre Leser in ein Interregnum. Während die eine Ordnung im Schwinden begriffen ist und die andere sich noch nicht etabliert hat, scheint vieles möglich – von Weltflucht aus enttäuschten Erwartungen bis zum zornigen Aufbegehren gegen eine Entwicklung, die man sich anders vorgestellt hat.

Dass ihr ländliches Idyll auf Dauer freilich keine Lösung darstellt, merken Andreas und Ulrike schnell. Dazu braucht es kaum der Anrufe bei den Eltern, die „sich wie Kaninchen verhielten vor der Zukunft, die ihnen eine Schlange zu sein schien“. Denn auch in dem kleinen Dörfchen und der nahe gelegenen Kreisstadt gehen Veränderungen vor sich, die ein baldiges Ende der Anarchie signalisieren. Und so bricht man am Ende des Romans das Kapitel „Stadtflucht“ erst einmal ab – noch ohne klare Vorstellungen über die Zukunft, aber doch in der Überzeugung, dass man sich ihr nicht auf ewig verweigern kann.

Titelbild

André Kubiczek: Das fabelhafte Jahr der Anarchie. Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2014.
272 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347740

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