Würde ist kein Konjunktiv

Rolf Gröschner, Antje Kapust und Oliver W. Lembcke haben ein „Wörterbuch der Würde“ herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Wörterbuch der Würde ist allemal einer Würdigung wert. Zumal das jüngst von Rolf Gröschner, Antje Kapust und Oliver W. Lembcke herausgegebene. Schließlich ist es das erste seiner Art.

Bevor das HerausgeberInnentrio den Anspruch des Nachschlagewerks darlegt, misst es zunächst einmal das „Wortfeld der Würde“ aus. „Zwischen Poesie und Prosa erstreckt es sich von der Sprache der Dichter und Denker über die Alltags- zur Wissenschaftssprache“ und „reicht von Begriffsbestimmungen in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften bis zu deren Streit mit den Naturwissenschaften“. Um diesem weiten Feld gerecht zu werden, haben die HerausgeberInnen ihrem „Kompendium des wissenschaftlich disziplinierten Denkens und Sprechens im Sinnhorizont des Würdebegriffs“ den „Charakter eines interdisziplinären Handbuchs“ verliehen. So erläutert es gleichermaßen Fremd- und Fachworte, ohne einen enzyklopädischen Anspruch zu erheben.

Der Band gliedert sich in die vier Segmente „Ideengeschichte“, „Moderne Theorien“, „Leitbegriffe“ und „Problemfelder“, deren erstes und letztes sich in jeweils sechs beziehungsweise dreizehn Rubriken auffächert. Diejenigen des Segments „Ideengeschichte“ sind von der „Antiken Philosophie“ bis zur „Materialismus, Existentialismus“ chronologisch angeordnet. Zu den dreizehn Rubriken des Segments „Problemfelder“ wiederum zählen „Bio-/Lebenswissenschaften“, „Interkulturalität“, „Neurowissenschaften“, „Recht“, „Politik“, „Tier“ und „Umwelt“. Merkwürdigerweise sind unter „Medizin“ sowohl „Sterben“ als auch „Sterbeprozess“ mit eigenen Artikeln vertreten, Sterbehilfe aber weder dort, noch unter „Recht“ oder sonst irgendwo. Somit fehlt eines der zentralen, ja existenziellen Problemfelder würdevollen Daseins des Menschen überhaupt.

Innerhalb der drei Segmente „Moderne Theorien“, Leitbegriffe“ und Problemfelder“ sind die Rubriken alphabetisch angeordnet; ebenso die Stichworte innerhalb der Rubriken. Damit haben Gröschner, Kapust und Lembcke eine wohldurchdachte Anordnung gefunden. Warum allerdings der Willensmetaphysiker Arthur Schopenhauer im Segment „Ideengeschichte“ die Rubrik „Materialismus, Existenzialismus“ eröffnet, erschließt sich nicht. Offenbar mochte man ihn nicht der vorangehenden Rubrik „Deutscher Idealismus“ zuschlagen, was wiederum durchaus verständlich ist. Ebenso, dass man ihn schwerlich ganz unterschlagen konnte.

Die einzelnen Lemmata des Segments „Ideengeschichte“ stehen jeweils unter dem Namen eines Philosophen beziehungsweise in einem Fall unter dem einer Philosophin. Die einzige Ausnahme bildet der Kirchenmann Martin Luther. Einer der Einträge steht zudem nicht unter dem Namen einer Person, sondern einer philosophischen Schule: der „Stoa“.

Eine besonders prominente Stellung fällt Immanuel Kant zu, der nicht nur einen eigenen Eintrag in der „Ideengeschichte“ erhält, was selbstverständlich ist. Er spielt zudem in dem Schopenhauer gewidmeten Lemma eine gewichtige Rolle und ist auch noch einmal im Titel eines Eintrags im Segment „Leitbegriffe“ zu finden, das neben dem Lemma „Autonomie“ noch ein zweites „Autonomie (Kant)“ enthält. Fast könnte man von einer Polypräsenz des Königsberger Weltweisen und Alleszermalmer reden. Eine Ehre, die nur ihm zuteil wird.

Der Aufbau der Artikel selbst folgt insgesamt keinem einheitlichen Schema, was Anbetracht ihrer Heterogenität auch schwerlich sinnvoll wäre. Doch werden sie stets mit einem kleinen Verzeichnis weiterführender Literatur beschlossen. Dabei informieren die Lemmata fast ausnahmslos ebenso klar wie instruktiv über ihr Thema. Zu nennen wären hier etwa die Einträge zu den Leitbegriffen „Achtung“, „Beschämung“, Demütigung“, „Diskriminierung“ und „Verletzlichkeit“ oder auch Susanne Schmetkamps Artikel zur „Toleranz“, in dem sie weit mehr leistet, als den Unterschied zwischen politischer Toleranz und persönlicher Toleranz zu erklären und den Toleranzbegriff von denjenigen der ebenfalls in das Wörterbuch aufgenommenen Termini „Anerkennung“ und „Achtung“ abzugrenzen. Für diese Demarkation, so legt sie dar, ist Toleranz als „Akzeptanz bei gleichzeitiger Ablehnung“ zu fassen. Mit anderen Worten: „Was wir tolerieren, akzeptieren wir, aber wir bewerten es negativ, teilen es nicht.“ Toleranz reicht mithin nicht aus, „um den Anderen als Anderen in seiner Partikularität anzuerkennen“. Für die Beantwortung der Frage, wann Intoleranz gerechtfertigt ist, bietet Schmetkamp zufolge das „Zusammenspiel von Rechtfertigung, Respekt und Würde“ eine tragfähige Grundlage. Wer Toleranz einfordert, bindet sich damit selbst an deren Prinzipien. Denn die der Toleranz impliziten „Bedingungen der Respektkonzeption“ sind „reziprok und allgemein“. All das – und einiges mehr – erklärt und begründet die Autorin konzis, verständlich und plausibel auf nicht einmal drei Spalten.

In dem bereits erwähnten Verzicht auf enzyklopädische Vollständigkeit liegt die Absenz einiger Artikel beschlossen, deren Aufnahme manche vielleicht erwartet haben würden. So erklären die HerausgeberInnen etwa, dass „Themen wie Versklavung, Suizid, Obdachlosigkeit, Missbrauch, Ubuntu, oder Werbeselbstkontrolle“ zwar keine eigenen Lemmata bekommen haben, immerhin aber „im jeweiligen Sachzusammenhang reflektiert“ werden. Das ist im Ganzen durchaus nachvollziehbar. Im Detail jedoch nicht immer. So enthält die Rubrik „Leitbegriffe“ etwa den Eintrag „Rasse“; warum dann aber nicht ebenso „Geschlecht“? Immerhin findet sich unter dem Segment „Problemfelder“ die Doppelrubrik „Feminismus/Gender“ mit den vier Einträgen „Gleichberechtigung“, „Pornographie“, „Vergewaltigung“ und „Zwangsverheiratung“. Im „Problemfeld“ „Medizin“ taucht zudem der „Schwangerschaftsabbruch“ auf. Und unter „Soziales/Gesellschaft“ der Artikel „Genitalmutilation/Beschneidung/Zirkumzision“.

Dass es unter „Moderne Theorien“ einen Eintrag „Postfeminismus: Judith Butler“, nicht aber zu Feminismus gibt, könnte vermuten lassen, dass letzterer den HerausgeberInnen als nicht mehr modern gilt. Doch auch in Segment „Ideengeschichte“ sucht man ihn vergeblich. Ins Auge fällt zudem, dass Butler im Titel des Lemma „Postfeminismus: Judith Butler“ dem Postfeminismus, in seinem von Lars Distelhorst verfassten Text hingegen dem „poststrukturalistischen Feminismus“ zugeordnet wird, was bekanntlich nicht dasselbe ist. Neben dem Judith Butler zugeordneten Postfeminismus enthält das Segment noch nahezu drei Dutzend weitere Einträge. Darunter etwa einen zur „Diskursethik“, der im Stichwort-Titel selbstverständlich Jürgen Habermas zu geordnet wird, die „Diesseitigkeitstheorie“ (Gesa Lindemann), die „Recht-auf-Rechte-Theorie (Hannah Arendt) oder die „Empowerment-Theorie“ (Martha Nussbaum). Meist, jedoch nicht immer nennt der Titel eines Artikels neben der modernen Theorie auch eineN ihrer ProtagonistInnen. Weder bei den „Naturrechtstheorien“ noch beim „Utilitarismus“ ist dies der Fall. Auch nicht beim Eintrag zur „Postkolonialen Theorie“, bei dem es sich um ein Gemeinschaftsprodukt von Franziska Dübgen und Ina Kerner handelt.

Ebenfalls von Kerner stammt der Eintrag „Pornographie“ im Problemfeld „Feminismus/Gender“, in dem sie konzis und kenntnisreich über die innerfeministische Kontroverse zum Thema informiert. Vielleicht hätte sie jedoch etwas deutlicher herausarbeiten können, dass der ablehnenden Haltung der PorNo-Kampagne eine andere Pornographie-Definition als die des Dudens oder des „sogenannten ‚sexpositiven‘ Feminismus“ zugrunde liegt. Verdienstvoll aber ist alleine schon ihr abschließender Hinweis, dass die feministischen „Akteurinnen des PorYes-Awards“ Schwarzers PorNo Kampagne ausdrücklich unterstützen. Denn dies dürfte ist weithin unbekannt sein. Zu ergänzen wäre vielleicht noch, dass Schwarzer umgekehrt Film-Produktionen, mit dem „PorYes-Label“ ausgezeichnet werden, keineswegs als pornographisch qualifiziert.

Im Eintrag „Vergewaltigung“ changiert Susanne Heynen zur Charakterisierung dieses Verbrechens zwischen den Begriffen „sexualisierte Gewalt“ und „sexuelle Gewalt“. Mag ersterer in einigen feministischen Kreisen auch bevorzugt werden, so ist er doch zumeist irreführend, wenn nicht gar verharmlosend. Denn das sexuelle Moment ist dieser Form von Gewalt keineswegs kontingent, sondern wesentlich. Im Zentrum ihrer Darlegungen stehen die psychischen Auswirkungen, die Vergewaltigungen für die Opfer haben.

Einzelne Einträge werden ihrem Thema nicht wirklich gerecht. Negativ sticht etwa hervor, dass sich Günter Jerouschek im Lemma „Genitalmutilation/Beschneidung/Zirkumzision“ weit mehr für die „männliche Beschneidung“ interessiert als für die „Mädchenbeschneidung“, der er gerade mal 16 Zeilen widmet, während ihm diejenige, die seine Geschlechtsgenossen betrifft, über 100 wert ist.

Ungeachtet der Kritik an einzelnen Lemmata ist das „Wörterbuch der Würde“ alle mal der Anschaffung wert und dies nicht nur aufgrund des ausgesprochen günstigen Preises. Doch muss abschließend noch auf ein echtes Manko hingewiesen werden. Denn bedauerlicherweise haben die HerausgeberInnen darauf verzichtet, ein Personen- und ein Sachverzeichnis zu erstellen. So scheint es zumindest, wenn man sich auf das Inhaltsverzeichnis verlässt. Tatsächlich aber finden sich beide sehr wohl am Ende des Buches. Ebenso wie ein AutorInnen-Verzeichnis, dass vom Inhaltsverzeichnis ebenfalls unterschlagen wird. Diese letzte Kritik gilt also nicht der vermeintliche Absenz der Register, sondern dem in diesem Punkt unvollständigen Inhaltsverzeichnis.

Titelbild

Rolf Gröschner / Antje Kapust / Oliver W. Lembcke: Wörterbuch der Würde.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2013.
402 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783825285173

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch