Von 68er-Bewegung bis Zeitzeuge

Das Metzler Lexikon moderner Mythen steht in Barthes’scher Tradition

Von Daniel BorgeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Borgeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Günter Grass hat einst in einer Rede mit dem Titel „das Elend der Aufklärung“ das postmoderne Klima als so mythophil bezeichnet, dass heute „jeder Scheißhaufen ein Mythos genannt wird“. Was der Literaturnobelpreisträger mit seiner Fäkalmetapher gemeint hat, ist schlicht die Konsequenz aus einer schwierigen Begriffsbestimmung. Die Vielschichtigkeit dessen, was mit Mythos gemeint ist, gewinnt in der Postmoderne durch die in die Krise geratenen abendländischen „Wahrheitscodes“ und dem Ende der „Großen Erzählungen“ (Lyotard) den Beigeschmack der Beliebigkeit, da „die Frage nach Stil den Vorrang vor der Frage nach Wahrheit“ bekommt, wie Jacob Taubes meint. Dies sind jedoch komplexe Vorgänge, die das Wesen des Mythos und dessen Vielschichtigkeit betreffen und die Gelehrten schon lange vor der Postmoderne beschäftigt haben. Und man macht es sich sehr einfach, wenn man sich wie Grass darüber lustig macht. Dass Mythos nicht so einfach in Begriffen aufzulösen ist, wusste auch schon ein Blumenberg.

Trotz oder gerade wegen dieser Komplexität reißt die Forschung zum Mythos nicht ab. Nun legen die Herausgeberinnen Stephanie Wodianka und Juliane Ebert mit dem Metzler Lexikon moderner Mythen eine Veröffentlichung vor, die gleich zwei komplexer Begriffe – Moderne und Mythos – gerecht zu werden versucht. „In der Moderne kann alles zum Mythos werden – aber nicht alles wird in der Moderne zum Mythos“, so die Herausgeberinnen in dem Vorwort des Bandes. Dementsprechend setzen sie anstatt auf Vollständigkeit eher auf „Exemplarität und Repräsentativität“. Der Band versammelt 123 nachantike Mythen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Was genau jedoch die „Repräsentativität“ gerade dieser Mythen vor anderen ausmacht, bleibt leider offen – abgesehen davon, dass sie einem bekannt vorkommen oder, wissenschaftlich gesprochen, Eingang in das „Kulturelle Gedächtnis“ gefunden haben. Das Lexikon „versteht das Mythische als einen subjektiven Wahrnehmungsmodus von überindividueller, kollektiver Bedeutung im Sinne des kulturellen Gedächtnisses, der sich auf verschiedenste Phänomene beziehen kann.“ Somit ist auch erklärt, warum die Artikel sowohl Personen, Figuren, Ereignisse, Orte als auch Konzepte, Ideen und Institutionen umfassen. Roland Barthes, auf dessen Untersuchung „Mythen des Alltags“ (1957) sich die Herausgeberinnen berufen, hat konstatiert, „dass sich das Mythische an prinzipiell alle Phänomene anheften kann […].“ Daher findet man in dem Lexikon Artikel zu wissenschaftlich bereits gut erforschten Themen wie den „Hitler-Mythos“ (Ian Kershaw), aber auch zu Popikonen wie Marilyn Monroe oder Michael Jackson; Phänomene, die bisher noch nicht so stark im akademischen Sinne erforscht worden sind. Gerade bei letztgenanntem Mythos wird ein interessanter Aspekt auf die gendertheoretische Bedeutung Michael Jacksons gelegt. Der wohl erste weltbekannte Popstar, der keinem gängigen Schönheitsideal entsprach, sondern der durch Operationen seine Verwandlung vom schwarzen Jungen zu einer „weißen Frau“ vollzog, lässt ihn für die Öffentlichkeit eher „zu seinem eigenen Frankenstein“ (Jan-Oliver Decker) werden, was seiner Popularität keinen Abbruch tut.

Daneben findet man auch Artikel zu politischen Mythen wie 9/11, 68er-Bewegung/Pariser Mai, Atomkrieg, Globalisierung, Che Guevara, Holocaust, Kalter Krieg und Mauerfall/Wende sowie zu anderen Popikonen wie Marlene Dietrich, Elvis Presley oder den Beatles. Was sie vereint, ist ihr Grad von Inszenierung bzw. Medialisierung, die sie einem breiten Publikum bekannt gemacht haben. Auch erfolgreiche Fernsehsendungen fallen unter dieses Verständnis von Mythos wie die Kriminalserie „Derrick“, bei der im Rahmen der internationalen Rezeption (die Serie lief in 93 Ländern) die Perspektive auf die Figur als „gütiger Vater“, der gleichzeitig die „Mittelmäßgikeit“ (Umberto Eco) verkörpert, liegt. Derrick, der die Fälle mit seinen psychologischen Fähigkeiten und seiner Empathie löst, steht, besonders im Ausland, als Sinnbild des „neuen“ Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Methode „das Verstehen von Schuld vor dem Hintergrund moralischer und ethischer Imperative“ (Lothar Mikos) bildet.

Die Autoren des Buches sind renommierte Wissenschaftler wie Claus Leggewie, Wolfgang Benz oder Heinrich Detering. Die Artikel sind in einer wissenschaftlichen, aber verständlichen Sprache verfasst. So richtet sich diese Publikation an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften und darüber hinaus ebenso an interessierte Laien, die sich einmal jenseits des Alltagsverständnisses über Mythen wie Fußball, Internet oder Mafia informieren möchten. Das Lexikon versteht sich im Sinne seiner Herausgeberinnen als Anreiz „zur konstruktiven Hinterfragung“ und Weiterdenken von Mythen. In diesem Sinne könnte also nicht nur ein „Scheißhaufen“, sondern auch eine „Blechtrommel“ zum Mythos werden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Stephanie Wodianka / Juliane Ebert (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.
400 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023643

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