„Liebe Kindlein, / Kauft ein!“

Zum bilateralen Verhältnis von Literatur und Markt um 1800

Von Thomas WegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wegmann

Der Markt ist wohl der Topos schlechthin, mit dem das Verhältnis von Kultur und Ökonomie verhandelt wird – wohlgemerkt: mit dem, nicht auf dem, zumindest zunächst einmal. Und das gilt auch und gerade für die Literatur um 1800, also für jenes moderne, sich allmählich autonomisierende System, das sich anschickte, möglichst nach eigenen Regeln und nicht mehr nach den Gesetzen der vermögenden Mäzene und tradierten Poetiken zu funktionieren.[1] Der Markt übernahm in diesem Prozess eine ebenso wichtige wie ambivalente Funktion: Er erlaubte zum einen die Emanzipation von feudalen Abhängigkeiten und drohte gleichzeitig mit dem Diktat des bloß Kommerziellen, wie es etwa Herder 1781 in seiner Preisschrift Von der Würkung der Dichtkunst in neueren Zeiten perhorreszierte:

Und schreibts [gemeint ist das Genie, T.W.] nun gar dieses traurigen Gewinnst wegen, zerret, feilschet, verkauft, veranstaltet Subsriptionen und Pränumerationen; der Dichter der Nation ist Letternkrämer geworden, er muß schreiben, Genie und Würkung ist verhandelt. Ists nicht Schande beinah Dichter zu seyn, wo so schändliche Wege zum Tempel der Dichtkunst führen?[2]

Dem antagonistischen Ausblick auf zunehmende Autonomisierung wie neue Abhängigkeiten, auf ästhetische Emanzipation und ökonomische Unterwerfung, den der Markt um 1800 der Literatur und die Literatur ihrerseits dem Markt bot, soll im Folgenden so kursorisch wie exemplarisch nachgegangen werden.

Am 20. Oktober 1778 wurde am Ettersburger Liebhabertheater die zweite Fassung seines durch die Auseinandersetzung mit Hans Sachs angeregten Knittelversspiels Das Jahrmarkts-Fest zu Plundersweilern uraufgeführt. Das Stück zeigt die Welt als eine Folge von Guckkasten-Bildern, als Raritätenkasten und Jahrmarktstreiben, wobei der Jahrmarkt den Rahmen abgibt für ein Spiel im Spiel, das mit dem Esther-Stoff – neben zwei Dramen von Hans Sachs – eine biblische Quelle bearbeitet.[3] Der Autor selbst trat bei der Premiere u. a. in der Rolle des Marktschreiers auf, der gleichzeitig ‚Quacksalber‘ (von niederdeutsch ‚kwakken‘: schwatzen, prahlen) und Prinzipal einer Theatertruppe ist. Vom Doktor erhält er die Erlaubnis, seine Heil- und Wundermittel auf dem Markt anpreisen und verkaufen zu dürfen: Läßt sich die Krankheit nicht kurieren, / Muß man sie eben mit Hoffnung schmieren.“[4] Von sich selbst sagt er, dass er Verstellung als Handwerk betreibe, allen schmeichle und in fremde Seelen spreche und schreibe. Und so rühmt er zwischen Tirolern („Kauft allerhand, kauft allerhand, / Kauft lang‘ und kurze War!“), Bauern („Besen kauft, Besen kauft!“), Nürnbergern („Liebe Kindlein, / Kauft ein! / Hier ein Hündlein, / Hier ein Schwein…“) und Milchmädchen („Kauft meine Milch! / Kauft meine Eier!“) seine diversen Arzneien lautstark durch den vorgeblichen Verzicht auf’s Rühmen:

Sind auch viele meiner Vorfahren,
Die leider! nichts als Prahler waren.
Ihr könntet’s denken auch von mir,
Drum rühm ich nichts und zeig euch hier
Ein Päckel Arznei, köstlich und gut;
Die Ware sich selber loben tut.
Wozu es alles schon gut gewesen,
Ist auf’m gedruckten Zettel zu lesen;
Und erhält das Päckel ganz
Ein Magenpulver und Purganz,
Ein Zahnpülverlein, honigsüße,
Und einen Ring gegen alle Flüsse.
Wird nur dafür ein Batzen begehrt;
Ist in der Not wohl hundert wert.[5]

Noch in der Farce skizziert Goethes Stück exakt die Rolle der umherziehenden ‚Pfuscher‘ oder ‚Quacksalber‘, die seit der frühen Neuzeit auf den Mangel an ausgebildeten Ärzten und die fehlenden medizinischen Standards reagierten und eigene Heilkünste und -mittel anboten.[6] Medizinisch meist unzureichend ausgebildet, agierten sie als Zahnbrecher und Operateure oder verkauften verschiedene Arzneien, die sie meist lautstark anpriesen. In der Regel umgaben sie sich dabei mit einer Theatergruppe, mit Seiltänzern oder Musikern, um ein Publikum und damit auch mögliche Abnehmer für ihre Dienstleistungen und Produkte anzulocken. Bei den akademisch ausgebildeten ‚Physici‘ stießen sie meist auf Ablehnung, und auch bei der Obrigkeit galten sie häufig als Betrüger oder Scharlatane. So heißt es etwa 1548 in einem Beschluss des Augsburger Reichstags:

Marktschreier, Ruf-Ärzte, Zahnbrecher, Murmeltier-Schmelzer, die sich wegen ihrer großen Kenntnisse der Heilkünste fast heiser rufen, bis sie den Leuten genug Heller abklauben und abgaunern, mögen zwar bei denen Zähne brechen, die ihr Einverständnis geben, auch dürfen sie das Murmeltier-Schmalz verkaufen. Wenn sie dabei aber betrügen oder verbotene Sachen und solche anbieten, die leicht zu fälschen sind, […] so sollen ihre Waren beschlagnahmt und sie selbst außerdem ernsthaft bestraft werden.[7]

Dennoch konnten zumindest einige dieser fahrenden Heilmittelhändler und Wunderdoktoren durchaus erfolgreiche Behandlungen aufweisen, waren aber auch und vor allem frühneuzeitliche Marketingexperten.[8] Neben den Buchhändlern gehörten somit die Hersteller von Wunder- und Heilmitteln zu den ersten, die systematisch für ihre Angebot warben, wenn sie durch Theater, Musik und Artistik die Dorf- oder Stadtbewohner anzogen, um dann ihre Arzneien und Tinkturen lautstark zu bewerben und zu verkaufen. An diesen werblichen Fähigkeiten der Marktschreier, die vor allem rhetorische Fertigkeiten waren, lässt auch Das Jahrmarkts-Fest zu Plundersweilern keinen Zweifel.

Doch Goethes Knittelversdrama geht noch einen Schritt weiter, wenn es das spöttisch imitierte Jahrmarkttreiben nicht nur in barocker Tradition als Spiegelbild der Eitelkeit des Lebens modelliert, sondern auch als Parodie auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb gestaltet,[9] mithin zeitgenössische Frühformen von Reklame mit der Vermittlung von Literatur in Verbindung bringt. Diese literatursatirischen Tendenzen, welche sich im Jahrmarkts-Fest vor allem im Lied des Bänkelsängers finden und dort eher angedeutet als ausgeführt sind,[10] greift Goethe nur wenige Jahre später erneut auf und arbeitet sie 1781 zu einem satirischen Überblick in Versen über die damalige Literatur und den damaligen Literaturbetrieb aus. Die komische Topographie, die unter dem fiktiven Ortsnamen ‚Plundersweilern‘ zu einer festen Größe im Weimarer Kreis geworden war, wird bewusst beibehalten. Unter dem Titel Das Neueste von Plundersweilern werden nun allerdings die Eitelkeiten des Jahrmarkts vollends zum Jahrmarkt der Eitelkeiten, genauer: der Literatur und des Literaturbetriebs. Ob populäre Leihbüchereien („Auswahl und Urteil sind verbannt“), illegitimer Nachdruck („ein Mädchen von schlechten Sitten“) oder der Hofstaat der sogenannten „Frau Kritik“ („Ein jeder, er sei groß und klein, / Wird ihr gar sehr willkommen sein“), ob Autoren wie Wieland, Klopstock („Kaum ist das Lied nur halb gesungen, / Ist alle Welt schon liebdurchdrungen“) oder dessen Bewunderer und Biograph Karl Friedrich Cramer (Klopstock. Er; und über ihn) – zahlreiche Instanzen und Aktanten des literarischen Feldes werden zur Zielscheibe von Spott und Scherz, genau wie der Autor selbst, der mit der Romanfigur seines einzigen Bestsellers schwer bepackt den Leichenzug Werthers anführt.[11]

In diesen und den anderen Versen geht es zwar am Rande auch um Geld, in erster Linie aber – ironisch und scherzhaft – um das symbolische Kapital, das im Literaturbetrieb schon am Ende des 18. Jahrhunderts zu verdienen war, und damit zugleich um die Positionen von Autoren und Kritikern, Verlegern und Vermittlern in eben diesem Betrieb. Folglich ist das gesamte Gedicht dem schon aus dem Jahrmarktsfest bekannten Marktschreier in den Mund gelegt, nur dass dieser frühe Fachmann für Marketing und Eitelkeiten nunmehr keinerlei Heilmittel anpreist, sondern das Eitle derer bespottet, denen es angeblich nur um das Gute, Wahre und Schöne zu tun ist. Die mokante Beobachtung des Eitlen wird dabei selbst zu einer Art Heilmittel, weil es Distinktionsgewinne für die eigene Autorschaft erzielt, die sich mit überlegener Ironie von allen literarischen Moden distanziert.[12] Und der Autor Goethe war es denn auch, der Das Neueste von Plundersweilern einmal mehr in der Rolle des Marktschreiers selbst deklamierte, als diese kleine Satire Weihnachten 1781 im Beisein der Herzogin-Mutter Anna Amalia zu einer szenischen Aufführung kam. Zumindest literarisch ist die Literatur damit auf ihrem eigenen (Jahr-)Markt angekommen. Und der Literaturbetrieb mit all den Selbstdarstellungen seiner Protagonisten wird nicht von ungefähr mit der marktschreierischen Praxis des reclamare in Verbindung gebracht: Autoren mit ihren Positionskämpfen im literarischen Feld sind wie Wunder- und Heilmittelhändler auf den Jahrmärkten nicht nur Marketingexperten avant la lettre, sondern auch Fachleute, was das Wissen um und die Erzeugung von Illusionen, Images und Aufmerksamkeit betrifft.

Ökonomisch mag der Markt als Umschlagplatz von Waren dienen, er ist aber genauso auch der naheliegende Ort, an dem imaginäre Ferne umgesetzt wird, wie etwa in Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855), der im sechsten Kapitel des vierten Buches genau dieses Potenzial des Marktes entfaltet:

Seit uralter Zeit war der Markttag für die Landleute der Umgegend ein Fest von besonderer Bedeutung. Fünf Tage der Woche mußte der Bauer seinen Kohl essen oder dem gestrengen Herrn fronen, am Sonntage war sein Herz geteilt zwischen der Jungfrau Maria, seiner Familie und der Schenke, der Markttag trieb ihn über die Grenze seiner Feldmark hinein in die große Welt. Dann fühlte er sich auch gegenüber den Fremden als ein schlauer Mann, welcher schafft und einkauft, er sah Bekannte wieder, die er sonst niemals getroffen, er erblickte neue Dinge aus der Fremde, er hörte von andern Städten und Ländern und genoß, was andere für ihn erfunden hatten, in vollen Zügen. Und am Abend dieses Tages flogen die Neuigkeiten aus der weiten Welt bis in das entfernte Walddorf, in jede Hütte, in jede einzelne Menschenseele des Kreises.[13]

In Gustav Freytags stereotypgesättigtem Bestseller ist der Käufer nicht allein, sondern Teil einer großen Zirkulation. Kaufen und Verkaufen sind dabei wie der Austausch von Neuigkeiten systemische Anschlusshandlung, die den einzelnen in einen kollektiven Kontext namens Markt oder Warenzirkulation stellt. Besucher von Märkten werden angeschlossen an die sich allmählich ausweitenden internationalen Handels- und Tauschbeziehungen, wobei Nähe und Ferne tendenziell die Rollen tauschen: „Die Verhältnisse des modernen Menschen entwickeln sich im ganzen so, daß er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu nähern.“[14] Marktbesucher und Konsumenten, so geographisch fern sie sich auch sein mögen, bilden dennoch eine über Waren und Geld vermittelte „Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindungen alle räumliche Nähe ersetzen.“[15] Entsprechend spielt das Fiktive oder Imaginäre bei jedem – und vor allem beim monetär vermittelten – Tauschakt eine entscheidende Rolle: Nur wer gelernt hat, mit Fiktionen umzugehen, weiß sich auch im Tauschakt nicht singularisiert, sondern als Teil einer „Gedankengemeinschaft“, tauscht eben nicht nur Waren gegen Geld, sondern trägt lustvoll bei zu einer ebenso mobilen wie nunmehr selbstverschuldeten Kultur, deren „feine Unterschiede“ (Bourdieu) nicht länger von Gott, sondern von Menschen gemacht sind.

Entsprechend nimmt eine Literatur, die sich – selbstbestimmt und selbstverschuldet – seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend aus der Obhut von Mäzenatentum und Gelehrtenrepublik löst und in den Einflussbereich des freiem Marktes und eines unspezifischen, weil allgemeinem Lesepublikum begibt, auch das Bedrohliche des Marktes wahr. Märkte werden in der Literatur häufig dann problematisch, wenn sie auf Literatur selbst bezogen, also zum Gegenstand literarischer Selbstreflexion werden. Und das hängt damit zusammen, dass Autoren um 1800 per geistigem Eigentum und Urheberrecht auch de jure zu Eigentümern ihrer Werke und damit gleichzeitig zu Marktteilnehmern auf der Angebotsseite deklariert worden sind.[16] Die von der Regelpoetik befreiten Autoren entdecken dann in der wirtschaftlichen Produktivität, figuriert im Symbol des Geldes, „einen feindlichen (und zweifellos erfolgreicheren) Bruder“.[17] Der Marktplatz dient dann nicht der Schaffung eines ästhetischen bzw. imaginären Mehrwerts von Kauf- und Vergesellschaftungsakten oder der Formulierung ästhetischer Programme. Er wird vielmehr zum symbolischen Ort, an dem nicht mehr Kennerschaft, sondern Massengeschmack über den Wert eines Kunstwerks entscheidet. So klagte schon der in der Klassik angekommene Goethe 1798 angesichts einer verstärkten Kommerzialisierung von Literatur sowie der mangelnden Beachtung und vor allem Verkäuflichkeit der eigenen Werke, dass „der gemeine Liebhaber“ vom „in sich Vollendete[n] […] keinen Begriff“ besitze, „er behandelt ein Kunstwerk wie einen Gegenstand, den er auf dem Markte antrifft“.[18] Auch Heinrich Luden wertete 1814 in seinem Aufsatz Vom freien Geistes-Verkehr den neuzeitlichen Literaturmarkt im Vergleich zum antiken Marktplatz ab, weil er den Beifall der Kenner durch den Beifall der Kauflustigen ersetze und zudem den Zugang zur veröffentlichten Rede eher erschwere als erleichtere.[19] Für Eichendorffs Berufsschriftsteller Faber ist in Ahnung und Gegenwart (1815) das Leben der meisten „eine immerwährende Geschäftsreise vom Buttermarkt zum Käsemarkt“[20], während Hölderlin im Menschenbeifall klagen lässt: „Ach! Der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt […].“[21]

Wenn Preise, wie Immanuel Kant in der Metaphysik der Sitten konstatierte, das öffentliche Urteil über den Wert einer Sache sind,[22] ist der Marktplatz die Inkarnation einer wertenden, aber eben nicht zwangsläufig auch kundigen Öffentlichkeit schlechthin. Folglich besteht die Dystopie Hölderlins darin, dass der ganze Wert von Kunst in ihrem (Markt-)Preis und damit im Urteil der Menge aufgehen könnte. Im diesem Befund ist die Lösungsstrategie zumindest implizit bereits enthalten, und die lautet seit dem 18. Jahrhundert: Autonomisierung. „Die symbolische Revolution, mit der sich die Künstler von der bürgerlichen Nachfrage lösen, indem sie keinen anderen Herrn und Meister anerkennen wollen als ihre Kunst, bringt den Markt zum Verschwinden.“[23] Dem zugrunde liegt ein symbolischer Umschuldungsprozess: Kunst im emphatischen Sinne wird entlastet und Ökonomie gleichzeitig verschuldet, um die Kunst als rares Residuum für die Produktion autonomer Artefakte zu deklarieren. Das eigene materielle Desinteresse distinguiert eine zumindest nach Autonomie tendierende Literatur von populären Romanen, Theaterstücken und Sachdarstellungen, die an den Erwartungen eines breiten Publikums orientiert und an ökonomischem Gewinn durchaus interessiert sind. Doch auch das materielle Desinteresse emphatischer Kunst muss glaubwürdig kommuniziert und inszeniert werden, und so eröffnet gerade die Verwerfung des Marktes neue Märkte, auf denen zunächst weniger die Einnahme von Geld als vielmehr die Beachtung und Wertschätzung von anderen Künstlern und diversen Kennern zählt: Kritik an marktgängiger Literatur als Marketingstrategie, die nicht den kurzfristigen Erfolg bei Publikum und Kritik, sondern den dauerhaften Einzug in den Kanon des kulturellen Gedächtnisses sucht.

So wird der Markt einerseits zum Synonym für ökonomisches Kalkül und als Symbol für den Geschmack der gemeinen Menge diskriminiert; dennoch oder gerade deswegen können literarische Texte auf der Sensualität des gesamten Marktgeschehens beharren – mit allen Konsequenzen und Zumutungen. Während ökonomische Theorien der Komplexität moderner Märkte durch Abstraktionsleistungen gerecht zu werden suchen,[24] inszenieren literarische Texte diese Komplexität nicht selten durch sensorische Überforderung. Und die tritt besonders dann ein, wenn die sensorischen Reize des Marktes potenziert werden durch die sensorischen Reize großer Städte – oder die Stadt selbst zum Markt wird. Letzteres hat Ernst Moritz Arndt bereits 1799 in Paris gefunden:

Hier ruft ein hübsches Mädchen ihr ‚Venez, mon petit ami!‘, dort schreit aus dem Auktionssaal eine Stentorstimme ‚Quinze francs, douze centimes!‘, hier zieht euch eine hübsche Zeichnung, ein geschmackvolles Muster an, dort eine weiche Hand und ein wogender Busen, hier klingt die herrliche Musik der Blinden in das Geklingel der Tassen und Bouteillen, dort hallen die Flüche der Spieler in das Heidideldideldei eines elenden Violinkratzers, der seines Kellers Tanzgesellschaft doch in Bewegung zu halten weiß. […] Wer kann in diesem Schreien, Stoßen, Klingen, Schieben, Ziehen und Locken bleiben, wenn er nicht mit seinem Besseren in sich selbst zu bleiben weiß?[25]

Demnach eignet den großstädtisch verdichteten Waren- und Menschenströmen auch etwas von Fest und Karneval, also von jenen temporären Veranstaltungen, in denen die gewöhnliche Ordnung aufgehoben scheint, etwas Außergewöhnliches und Unvertrautes, das zwischen Zudringlichkeit und Verlockung schwankt. Dem Andrang sinnlicher Reize ausgeliefert, droht das souverän wahrnehmende Subjekt buchstäblich im eigenen Wahrnehmungssog zu verschwinden. Auf diese drohende Dekonturierung des eigenen Ich reagiert der Beobachter am Schluss der oben zitierten Passage mit einem moralischen Appell in Form einer rhetorischen Frage. „Moralität und Autonomie, das Bewußtsein eines besseren Selbst, das in der Innerlichkeit seinen befestigten Grund hat, werden […] vom Autor in eben dem Maße gegen den Markt beschworen, in dem der Text ihn, das wahrnehmende Subjekt, als vom Strom des Warenverkehrs umbrausten, von Liebesblick und -berührung der Waren getroffenen und verzauberten Kunden vorstellt.“[26] Die Oberflächenreize von Waren- und Menschenmengen, wie sie gerade Marktszenarien geballt bereithalten, stellen Versuchung und Zumutung zugleich dar, da dem versuchten bzw. verführten Subjekt ein Kontrollverlust droht. Der „verzauberte Kunde“ ist nämlich auch der – zumindest temporär – von außen gesteuerte Mensch, der die Einladung zum Konsum aus diesem Grunde als oktroyiert darstellt. Arndts Reaktion auf solche taktilen Reize ist dabei paradigmatisch: Er sucht Zuflucht vor derlei berückenden und kontingenten Zumutungen in der gefestigten Innerlichkeit des eigenen Subjekts, dem besseren Teil seiner selbst.[27]

Grosso modo lassen sich in der heterogenen Gestaltung von Märkten in literarischen Texten, die stets zwischen Faszination und Distanzierung schwankt, mindestens vier zentrale Aspekte resümieren. Erstens kommen selbst frühneuzeitliche Märkte nicht ohne spezielle (Vor-) Formen von Reklame aus, die dort wiederum nicht nur ihren etymologischen Hintergrund findet, sondern in der Figur des Marktschreiers auch von Anfang an mit Betrug bzw. Schwindel auf der einen und einer gewissen Zudringlichkeit respektive Lautstärke auf der anderen Seite konnotiert ist. Zweitens werden auf Märkten nicht nur Waren und Geld getauscht; Märkte dienen vielmehr nolens volens auch als Generatoren und Umschlagplätze für Imaginäres, für Fiktionen und ästhetische Verfahren, wenn etwa E. T. A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster ausgerechnet dem Markt eine neue Beobachtungs- und Erzählkunst abgewinnt.[28] Drittens kann der Markt zum Synonym für ökonomisches Kalkül und Massengeschmack werden just in jener historischen Situation, in der Literatur um 1800 mit und gegen den Markt die eigene Autonomie behauptet. Viertens können Märkte zur sensorischen Überforderung führen, wenn ganze Stadtkerne sich zu Marktplätzen transformieren und mit ihrem üppigen Angebot die Risiken von selbstkontrollierter Innerlichkeit evident werden lassen, weil sie Passanten wie Ernst Moritz Arndt schlicht die Kontingenz der eigenen Bedürfnisse vorführen. Diese semantische Vielschichtigkeit wie das damit verbundene diskursive Polarisierungspotenzial garantieren dem Topos des Marktes bis heute eine prominente Stellung, wenn es um das Spannungsfeld von Ökonomie und Kultur geht.

Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu bspw. aus systemtheoretischer Perspektive Schmidt, 1989.

[2] Herder, 1877ff., Bd. 8, S. 428f. Zitiert wird die Manuskriptfassung von 1778, die wesentlich schärfer formuliert als die 1781 von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften publizierte Preisschrift.

[3] Die erste Fassung dieser Farce entstand bereits 1772/73, als sich Goethe mit Hans Sachs und dessen Versifikation vertraut machte, und erschien 1774 bei dem Leipziger Verleger Weygand. Das Stück greift einen beliebten Stoff der italienischen, französischen und deutschen Bühnendichtung auf: Vor allem in den Opern des Barocktheaters wurde das Jahrmarkttreiben gern dargestellt und als Hintergrund für das dramatische Geschehen genutzt. Vgl. dazu Goethe, MA 1.1, S. 946ff. (Kommentar v. Gerhard Sauder) und MA 2.1, S. 638ff. (Kommentar v. Hartmut Reinhardt).

[4] Goethe, MA 2.1, S. 213.

[5] Ebd., S. 227f. Im Übrigen bleibt die – bis auf Horaz zurückgehende – Vorstellung eines für sich selbst und ohne fremde Worte werbendes Produkt zumindest in Deutschland bis in die 1870er Jahre Credo in der gewerblichen Wirtschaft (vgl. D. Reinhardt, 1993, S. 25).

[6] Vgl. dazu Partington, 2000.

[7] Zit. n. Schramm, 1985, S. 38. Murmeltierschmalz wurde spätestens seit dem Mittelalter vor allem bei rheumatischen Erkrankungen, Gelenkentzündungen und Ekzemen, aber auch bei Asthma und Tuberkulose angewandt und traditionell von fahrenden Händlern vertrieben.

[8] Ein weithin bekannter Prototyp des fahrenden Wunderdoktors, Marktschreiers und Chirurgen war Johannes Andreas Eisenbarth (1663-1727), ein lediglich handwerklich ausgebildeter Wundarzt, der eine durchdachte Werbung betrieb, aber auch auf zahlreiche erfolgreiche Operationen verweisen konnte und 1717 zum Preußischen Hofrat ernannt wurde (vgl. dazu Partington, 2000, S. 38f.).

[9] Vgl. dazu die detaillierten Ausführungen von Franziska Herboth, die das Stück in erster Linie als Literatursatire liest, in der der Jahrmarkt negativ konnotiert ist und der Illustration des literarischen Lebens im Zeichen von Konkurrenz und Markt dient (Herboth, 2002, S. 157ff.). Vgl. dazu auch Stockhorst, 2002, passim.

[10] Vgl. dazu Goethe, MA 2.1, S. 218 und S. 642ff.

[11] „Unter dem Leichnam auf seinem Rücken / Seht ihr einen jungen Herrn sich drücken, / Ein Schießgewehr in seiner Hand; / So trug er seinen Freund durchs Land, / Erzählt den traurigen Lebenslauf / Und fordert jeden zum Mitleid auf.“ (Ebd, S. 241.) Die anschließende Distanzierung vom Werther-Roman dürfte indes weniger durch seine Machart als durch seine unvorhergesehene Breitenwirkung motiviert sein.

[12] Norbert Christian Wolf hat – unter Verwendung Bourdieu’scher Theoreme – Goethes Position im literarischen Feld seiner Zeit nachgezeichnet – vom selbstmächtigen Vertreter des Genie-Diskurses und „Vorreiter der ersten Avantgarde“, des Sturm und Drang, der die Abgrenzung vom herrschenden Tradierten und die Verfechtung des ästhetisch Neuen geradezu zum Gesetz erhob und damit große Popularität errang, zum Vertreter eine klassischen Ästhetik, der angesichts der – nicht zuletzt von ihm selbst initiierten – Fülle des Neuen nunmehr wieder die Verfechtung des Alten bzw. Zeitüberdauernden zu einem neuen kulturellen Gestus ausarbeitet (vgl. Wolf, 2004).

[13] Freytag, 1855/2002, S. 592f.

[14] Simmel, 1900/1989, S. 663.

[15] Simmel, 1900/1989, S. 663.

[16] Diesen Aspekt reflektiert etwa Felix Philipp Ingold, wenn er den Autor mit einem Manager, den Text mit der Unternehmenskultur und die Schreibstrategien mit systematischer Unternehmensführung vergleicht – und das nicht etwa nur für die Gegenwart, sondern auf der Basis auktorialer Selbstreflexionen seit Baudelaire und Rimbaud (vgl. Ingold, 1993).

[17] Hörisch, 1996, S. 21.

[18] Goethe, MA 4.2, S. 95.

[19] Vgl. Bosse, 1981, S. 45ff. Die Liste solcher Befunde und Klagen ist um 1800 lang, was aber zumindest voraussetzt, dass der Markt im literarischen Leben bereits eine erhebliche Rolle spielte.

[20] Eichendorff, Werke 2, S. 37. Eine solche Kritik an der Marktorientierung hat Peter Bürger auch für den literarischen Betrieb im Frankreich des 19. Jahrhunderts nachgewiesen, jedoch mit einer Ausnahme: Emile Zola. Der nämlich sieht in der gewachsenen Orientierung der Literatur am Markt keine Verfallsgeschichte, sondern insistiert bspw. mit Nachdruck auf der entwürdigenden Abhängigkeit des feudalen Schriftstellers von seinem Mäzen und betont, dass erst der Markt den Schriftsteller aus dieser erniedrigenden Position befreit habe (Bürger, 1982, S. 251ff.).

[21] Hölderlin, SW I, S. 222.

[22] Preis ist nach Kant „das öffentliche Urtheil über den Werth (valor) einer Sache in Verhältnis auf die proportionirte Menge desjenigen, was das allgemeine stellvertretende Mittel der gegenseitigen Vertauschung des Fleißes (des Umlaufs) ist.“ Kant, Werke VI, S. 288 (Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Die Rechtslehre Erster Theil. Das Privatrecht. Zweites Hauptstück).

[23] Bourdieu, 2001, S. 134.

[24] Ökonomische Theorien beschäftigen sich im 19. Jahrhundert weniger mit ohr- und augenfälligen Tauschakten als vielmehr mit Preisen und Kosten, Werten und Arbeit, beobachten also zunehmend Einzelkomponenten von Märkten (vgl. dazu Priddat, 2002, S. 136ff.). Hermann Heinrich Gossens ökonomische Studie über die Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln (1854) ist ein frühes Beispiel dafür, dass sich die Regularien menschlicher Bedürfnisse und ökonomischen Handelns nicht mehr ästhetisch oder philosophisch darstellen, sondern nurmehr in mathematischen Formeln abbilden lassen.

[25] Arndt, 1982, S. 224, 244. Unschwer lassen sich in dieser Schrift auch erste antifranzösische Ressentiments erkennen, für die Arndt schon wenige Jahre später bekannt werden sollte.

[26] Brüggemann, 1985, S. 92.

[27] Ein solches Verhalten wird später kennzeichnend sein für bürgerliche Intellektualität angesichts der „geheimen Verführer“ – so der berühmte Titel von Vance Packards einflussreicher Darstellung der Werbung aus den 1950er Jahren, auf die noch zurückzukommen sein wird – in Gestalt von Markt und Reklame.

[28] Vgl. dazu Pabst, 2004; Oesterle, 2004; Neumann, 2005; Vowe, 2005.

Literaturverzeichnis

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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt a. M. 1989.

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Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag greift zurück auf ein Kapitel in Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000.  Wallstein Verlag, Göttingen 2011.