Mein Buch zwischen den Jahren

Das Winter-‚Special‘ der Gegenwartskulturen – mit wärmsten Empfehlungen für die kalte Jahreszeit

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Navid Kermani (Autor, Kulturwissenschaftliches Institut Essen)

Für die längsten Nächte des Jahres empfehle ich dringend Tausend und Ein Tag. Die Andere Bibliothek hat diese andere, viel weniger bekannte, aber nicht minder begeisternde Sammlung morgenländischer Märchen soeben in einer absolut grandiosen Ausgabe veröffentlicht – mit der hielte ich den Winter selbst am Nordkap aus und wünschte mir, daß die Nächte niemals kürzer würden.

Claus Leggewie (Politikwissenschaftler, Kulturwissenschaftliches Institut Essen)

Frank Bascombe, Anti-Held in Richard Fords großen neunziger Jahre-Romanen The Sportswriter, Independence Day und The Lay of the Land, ist in vier starken Geschichten wiederauferstanden. In Let Me Be Frank With You ist er mit dem schweren Verlust konfrontiert, den Hurricane Sandy 2012 über die amerikanische Ostküste gebracht hat. Eindringlich, zum Innehalten und Nachdenken, was wir mit der Welt veranstalten, trotz allem komisch und unterhaltsam.

Maria Behre (Germanistin, Jurymitglied des Walter-Hasenclever-Literaturpreises)

Das Werk Kant für Kinder von Salomo Friedlaender aus dem Jahre 1924 ist in zwei Ausgaben erhältlich, in der Bibliothek verbrannter Bücher (2008) und jüngst in der Werkausgabe (2014). Diese Schrift unterscheidet sich von Bänden wie Kant für Anfänger (1998) oder Was konnte Kant, was ich nicht kann? Kinder fragen – Philosophen antworten (2006). Walter Hasenclevers Briefpartner mit dem ‚Anonym‘-Anagramm ‚Mynona‘ schafft es, Kants Fragen nach dem Guten, Wahren und Zu Erhoffenden dialogisch zeitlos und zeitnah aufzugreifen – ein ideales Familien-„Fragelehrbuch“ für die Zeit zwischen den Jahren, für die 12 Rauhnächte.

Michael Kohtes (WDR-Redakteur, Jurymitglied des Walter-Hasenclever-Literaturpreises)

Lange vergriffen, jetzt neu aufgelegt und also endlich wieder zu lesen: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn von Wilhelm Waiblinger. Ab 1822 besuchte Waiblinger, damals Student am Tübinger Stift, den von ihm bewunderten Dichter regelmäßig in seinem legendären Turmzimmer. Hölderlin galt da schon seit anderthalb Jahrzehnten als geistig umnachtet. ,,Ein langer fünfjähriger Umgang mit dem Unglücklichen hat mich mehr als jeden andern in Stand gesetzt, ihn zu beobachten, ihn kennen zu lernen, seinem so wunderlichen Ideengange, und selbst den ersten Ursprüngen und Ursachen seines Wahnsinns nachzuspüren“, schreibt Waiblinger in seiner 1827/28 entstandenen Biographie des Unglücklichen. Es ist die erste Hölderlin-Biographie überhaupt und von allen die authentischste: Aus so unmittelbarer Anschauung, so lebendig und einfühlsam wie Waiblinger, selbst ein Dichter (wenn auch heute ein weitgehend vergessener), hat niemand den mit sich und der Welt entzweiten Hölderlin porträtiert. Dabei erscheint ihm der Turminsasse nicht eigentlich verrückt. Vielmehr diagnostiziert er dessen ,,Narrheit“ als einen Zustand der seelischen und physischen Erschöpfung, der ihn daran hindere, einen klaren Gedanken zu fassen und die Ordnung in seinem Kopf wiederherzustellen. Was die Lektüre dieser schmalen Bio-Pathographie, auch und zumal für uns Heutige, umso interessanter macht!

Britta Caspers (Germanistin, Universität Duisburg-Essen)

Schlägt man in einem Artenbestimmungsbuch auf der Suche nach der Kronentaube nach (denn dieses wunderschöne Tier ist in licht schieferblauem Federkleid auf dem Cover des Taschenbuchs Dorothee Elmiger – Einladung an die Waghalsigen abgebildet), dann heißt es dort, sie lebe nach Art der Fasanen am Boden. Die Gefangenschaft ertrage sie gut. Für die Schwestern Margarete und Fritzi – letzte Zeugen eines einstmals prosperierenden Industriegebietes, dessen unheilvolle Geschichte dem Verschwinden und Vergessen anheim zu fallen droht – gilt das nicht. Sie machen sich aus ihrer Gefangenschaft im kollektiven Verdrängen auf, den in einem Schluckloch verborgenen Fluss Bonaventura – und damit zugleich die eigene ‚gute Zukunft‘ – dort zu suchen, wo sie einzig zu finden ist: im archäologischen Entziffern rätselhaft gewordener Zeichen nicht nur untergegangener Zeiten, sondern auch der eigenen Geschichte.

Bert Theodor te Wildt (Oberarzt der Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum)

Ich empfehle das Buch Die Stunden von Michael Cunningham. Auf den Roman, seine Verfilmung durch Steven Daldry und die Filmmusik von Philip Glass komme ich immer wieder zurück. Es geht darum, wie Literatur das Leben von drei Frauen zu unterschiedlichen Zeiten miteinander verwebt. Das leise Buch ist der passende Begleiter für die Ruhezeit, die im besten Fall zwei Jahre miteinander verbindet.

Wolfgang Imo (Linguist, Universität Duisburg-Essen)

Als literarisch gestützte Entspannungsphase zwischen den Jahren ist dieses Jahr das Meisterwerk des Slackertums avant la lettre, nämlich Oblomow von Iwan Gontscharow, an der Reihe. In diesem Sinne: Faule Weihnachten!

Alexandra Pontzen (Redaktion „Gegenwartskulturen“)

Man muss Christa Wolf nicht mögen und über den Fortbestand ihres Werkes jenseits der sog. DDR-Literatur mag man streiten; doch sollte der (Literatur-)Streit, der sich an der Autorin in den frühen 1990er Jahren entzündete, das letzte Wort über sie nicht sein.

Christa Wolf hat von 1960 bis zu ihrem Tod 2011, einem Aufruf Gorkis folgend, an einem Tag im Jahr Tagebuch geschrieben; ihr über 50 Jahre hin jeweils am 27. September über die Schulter zu sehen, den Alltag als junge, dann zunehmend etablierte DDR-Schriftstellerin, Mutter, Ehefrau, politische Zeitgenossin, Brief- und Gesprächspartnerin zu verfolgen, die mit dem Sozialismus verbundenen Hoffnungen, das Leiden an der DDR, vor allem seit der Biermann-Ausbürgerung, die schnelle Desillusionierung nach 1989, die wachsende Resignation, schließlich ein mehr und mehr von Altersgebrechen und Depressionen überschattetes Leben mit langen als Sucht empfundenen Fernsehabenden, außer bei den TV-Exzessen immer an der Seite von Gerhard Wolf, dem Lebensgefährten im umfassenden und emphatischen Sinne, – das ist eine Lektüre, die viel deutsches Leben bezeugt und eine weibliche Stimme, die von vielen gehört wurde – auch etwas, „was bleibt“.

Maren Jäger (Redaktion „Gegenwartskulturen“)

Jetzt gibt’s was auf die Ohren!

Ich empfehle –

ob für die Staus auf den verschneiten und vorweihnachtlich überfüllten Autobahnen,

Bahnreisen, die man in vollen Zügen genießen darf,

ob beim Bügeln der Festtagsgarderobe,

beim Plätzchenausstechen – oder (am besten und schönsten)

zum puren multitaskingfreien Zu-Hören:

die Reihe „Erzählte Welt“ des Supposé-Verlags.

Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um ‚Hörbücher’, sondern um Literatur, die nur in gesprochener Form existiert.

Ein großes Glück sind die erzählten Werke Peter Kurzecks, Ein Sommer der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit (2007), aber auch Da fährt mein Zug (2010), Mein wildes Herz (2011).

Herta Müller (Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat, 2009) und Dieter Wellershoff (Schau dir das an, das ist der Krieg. Dieter Wellershoff erzählt sein Leben als Soldat, 2010; Ans Ende Kommen. Dieter Wellershoff erzählt über Altern und Sterben, 2014) hat der Supposé-Verlag ebenfalls im Programm sowie – dies als lokalpatriotische Empfehlung aus der Redaktion Duisburg-Essen – Willi Fährmann: Beeck. Willi Fährmann erzählt das Duisburg seiner Kindheit (2014).

Fährmann, Willi: Beeck. Willi Fährmann erzählt das Duisburg seiner Kindheit. Konzeption, Dramaturgie, Regie: Thomas Böhm u. Klaus Sander. Berlin: Supposé, 2014.

Kurzeck, Peter: Da fährt mein Zug. Peter Kurzeck erzählt. Regie: Klaus Sander. Berlin: Supposé, 2010.

Kurzeck, Peter: Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit. Konzeption, Regie und Produktion: Klaus Sander. Berlin: Supposé, 2007.

Kurzeck, Peter: Mein wildes Herz. Peter Kurzeck erzählt. Regie: Klaus Sander. Berlin: supposé, 2011.

Müller, Herta: Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat. Konzeption, Dramaturgie, Regie: Thomas Böhm u. Klaus Sander. Berlin: Supposé, 2009.

Wellershoff, Dieter: Ans Ende Kommen. Dieter Wellershoff erzählt über Altern und Sterben. Konzeption/Regie: Thomas Böhm u. Klaus Sander. Berlin: Supposé, 2014.

Wellershoff, Dieter: Schau dir das an, das ist der Krieg. Dieter Wellershoff erzählt sein Leben als Soldat. Konzeption/Regie: Thomas Böhm u. Klaus Sander. Berlin: Supposé, 2010.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Cunningham: Die Stunden. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen vonGeorg Schmidt.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
296 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3630870619

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Titelbild

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000.
Luchterhand Literaturverlag, München 2003.
640 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3630871496

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Salomo Friedlaender: Kant für Kinder. Fragelehrbuch zum sittlichen Unterricht. Mit einem Essay „Kants Kinder“ von Detlef Thiel.
Vorwort von Hartmut Geerken.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2004.
138 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3487128063
ISBN-13: 9783487128061

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Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2010.
145 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783832196127

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Vera Bischitzky (Hg.) / Iwan Gontscharow: Oblomow.
Aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
848 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238749

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Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001-2011.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
160 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423608

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Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn. Eine Biographie.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2014.
80 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783863510800

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Richard Ford: Let Me Be Frank With You. A Frank Bascombe Book.
HarperCollins Publishers, New York, NY 10022 2014.
256 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-13: 9780061692062

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Titelbild

Rainer Schmitz (Hg.): Tausend und ein Tag. Morgenländische Erzählungen.
Eichborn Verlag, Berlin 2014.
1092 Seiten, 129,00 EUR.
ISBN-13: 9783847700159

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