Meine Sucht, meine Seele

Rede am Shakespeare-Denkmal in Weimar am 26. April 2014

Von Frank GüntherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Günther

Während der Tagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar hielt der renommierte Shakespeare-Übersetzer und Buchautor, Frank Günther, vor Mitgliedern der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft die traditionelle Rede am Shakespeare-Denkmal im Park an der Ilm. Während zu früheren Zeiten Scharen von Pilgern und Pilgerinnen an diesem traditionellen Morgenspaziergang teilnahmen,[1] belief sich im Jubiläumsjahr 2014 die Teilnehmerzahl auf lediglich rund 100 Personen, von denen viele das Denkmal liebevoll mit Rosen schmückten.

Foto: © Christa Jansohn

Meine Damen und Herrn,

450 Jahre. Man kann sich’s kaum vorstellen. 450 Jahre. Jahrhunderte blicken auf uns herab. Hoch auf einem Felsengipfel sitzend! Zu seinen Füßen Sturm, Ungewitter und Brausen des Meeres; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels – Shakespeare! … Und wir hier unten, am tiefsten Fuße seines Felsenthrones, Haufen, die murmeln, die ihn erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verleumden und übersetzen! – und die ER alle nicht höret! (Das war von Herder.)

Vor 50 Jahren sein 400. Geburtstag. Und ich kann sagen, ich bin damals schon dabeigewesen. Ich war noch ein Knabe im lockigen Haar, als ich erstmals Shakespeare begegnet bin, und zwar in Form einer Schulaufführung von Wie es euch gefällt. Ich spielte den melancholischen Jacques – eine Rolle, die mir bis heute in den Knochen steckt. Und in weiteren 50 Jahren, 2064, wird es wieder einen runden Geburtstag gegeben, den 500sten! Und wieder werden die Mitglieder der Shakespeare-Gesellschaft sich genau hier an diesem Ort um 8.30 Uhr versammeln. Allerdings werde ich dann nicht mehr dabei sein – und wenn ich in die Runde sehe: die allermeisten von uns werden dann nicht mehr dabei sein. Wie es in dem schönen österreichischen Lied heißt: „Es wird a Wein sein… | Und mir wern nimmer sein…“ – nur Shakespeare wird immer sein.

Meine Damen und Herrn, wenn wir mal einen Moment ganz ganz still sind… hören Sie dieses leise Rauschen? Hören Sie’s? Das ist nicht der Wind, nein nein, nicht der Wind: Es ist der Mantel der Geschichte, der gerade vorüberweht. Ein historischer Moment. Der richtige Moment für eine Shakespeare-Apotheose:

William Shakespeare, Licht meines Lebens, Befeurer meiner Leidenschaften. Meine Sucht, meine Seele. Wwwil-liammm-shake-spppeare: die Zunge rollt schmiegsam über den Gaumen, dreimal schließen die Lippen sich kosend um Deinen Namen, und rufen Dich bei Drei im Explosivlaut in die Welt – Will. Jemm. Shake. S-pear. (Das ist Vladimir Nabokovs Lolita nachempfunden)

Oh Du Einzigartiger, Du Weltweiser, Du Weltschöpfer, Du Weltverzauberer, Du Menschheitserfinder, Du Seelenabgrundergründer, Du Alles-Immer-Schon-Gewussthabender, Du Alles-Beweisender, Du Halt in Untiefen, Du Leuchtfeuer im Grauen der Welt, Du Mein-dein-sein-unser-euer-ihr-Shakespeare, der Du mir bist, was Du keinem bist, der Du ihm bist, was Du ihr nicht bist, der Du ihr bist, was Du ihm nicht bist, der Du denen bist, was Du uns nicht bist, der Du uns bist, was Du ihnen nicht bist, der Du Unser Shakespeare, aber nicht Euer Shakespeare bist, Du, der Du jedem alles bist, was Du ihm sein sollst, Du Unfaßbarer, Du Dich Entziehender, Du allen Zwecken Dienender, Du Chamäleon, Du proteischer Verwandler, Du ewig Angepasster, Du Thema für Hausarbeiten, Seminararbeiten, Dissertationen und Habilitationen, Du Stoffgeber für Aufsätze, Essays und Bücher, Du Motto für Festschriften und Gedenkfeiern, Du Anreger für Weltentwürfe und Gedankengebäude, Du Paradeplatz für Theorie-Exerzierer und Hypothesenbauer, Du Gründer von Industrien und Karrieren, Du Arbeitgeber für Generationen von Texthandwerkern, Du Folterknecht gequälter Schulklassen, Du Köder für englische Touristenfallen, Du sinnentleerte Ikone gepflegter kultureller Langeweile, Du immer schon dagewesener Nichts-mehr-Sager – Du Anlass für andere! Du Einer, der Du unzählige Shakespeares bist! Du Mein-dein-sein-unser-euer-ihr-Shakespeare! Der Du nichts bist als – ein Buch.

Dieses Buch, hier in Manuskriptform in Stein gehauen – wie werden unsere Nachfahren, die Mitglieder der Shakespeare-Gesellschaft, in 50 Jahren ihm begegnen? Ich denke, nicht mehr mit Rosen, sondern eher mit Staubwedeln. Denn sie werden zweifellos den Staub von diesem dann nahezu unbekannten Gegenstand ‚Buch’ wedeln müssen. Und nicht nur von seiner Form – auch von seinem Inhalt. Die vorausdenkenden Philosophen des postmodernen und postdramatischen Theaters, die ich im Folgenden zitiere und paraphrasiere, prophezeien uns dieser Tage das Ableben des deutschen Theatersystems in den nächsten zehn Jahren – es wird nicht mehr existieren. Die finale Krise des Theaters naht. Es sei denn, es ändert sich radikal. Und das bedeutet: Es wird ein Theater im Web 2.0 sein oder es wird nicht mehr sein. Es muss vernetzt, transparent, multifunktional sein. Das Theater der digitalen Naissance – nicht der Re-naissance: der Naissance, denn wir erleben die Geburt von etwas radikal Neuem in der Menschheitsgeschichte! Es geht um ein Vorwärts zu neuen Erzählformen, neuen gesellschaftlichen Themen, neuer Relevanz. Es geht darum, neu zu entwickeln, was das Erzählen für das Theater des 21. Jahrhunderts heißen kann.

Dazu gehört als erstes die radikale Abschaffung des antiquierten Autors. Das grauenhafte Konzept von Genie und Autorschaft wandert auf den Müllplatz der Geschichte. Das prometheische Originalgenie hat ausgedient, es soll an den Theatern ersetzt werden durch permanent tagende Schreiber im Writer’s Room, die im gemeinsamen täglichen Brainstorming mit Regisseuren, Schauspielern, Bühnenbildnern, Technikern, im sharing, in co-creation und in collaboration neue Erzählungen in die Welt setzen, von der Qualität amerikanischer Kultserien wie den Sopranos, Mad Men und Breaking Bad. Allenfalls kleinere Teile des Ensembles werden noch die verstaubten Klassiker für gelegentliche Schüleraufführungen aufsagen.

Denn die alte Geselllschaft ist vorbei. Unsere Gesellschaft ist eine Netzgesellschaft, weil unsere Welt eine vernetzte ist. Weil der Mensch des 20. Jahrhunderts ein aussterbendes Exemplar der Evolution ist. Die Shakespeare-Welt geht definitiv unter! Auch die Tschechow-Welt geht unter. Selbst die Brecht-Welt gibt es nicht mehr. Unsere Welt wandelt sich zur Digital-Welt, zur Netzwelt. Und diese neue Welt braucht neue Erzählungen, die es mit ihr aufnehmen können.

Und erste Schritte dahin sind bereits gemacht, Öffnungen des Theaters für alle diejenigen Bewohner der digitalen Welt, für alle digital natives, die physische Entzugserscheinungen bekommen, wenn sie länger als drei Minuten offline sein müssen – und die darum das jetzt gerade noch bestehende Theater meiden wie die Pest. Der neue sozialmedialisierte Zuschauer rezipiert anders als die Menschen des letzten Jahrhunderts. Er rezipiert aktiv. Er ist gewohnt, alles, was er erlebt, sofort zu kommunizieren und zu kommentieren. Er twittert. Er twittert ja heute schon live kommentierend beim Tatort und bei der Talkshow. Und jetzt twittert er endlich auch im Theater: Das Gebot „Bitte schalten Sie Ihre Handys aus!“ ist hinfällig. Man wird vielmehr aufgefordert, die Smartphones einzuschalten. Der digital native verfolgt im Saal simultan das livegestreamte Bühnengeschehen auf dem Smartphone-Display und braucht noch mindestens zwei oder drei offene Fenster fürs Multitasking, weil er simultan twittert und Tweets liest. Er twittert gemeinsam mit anderen Zuschauern live während der Vorstellung. Über einen Hashtag steht er im Theatersaal twitternd im Kontakt mit allen anderen Zuschauern. Er erfährt damit in Echtzeit die Gefühle und Gedanken seiner Sitznachbarn, während er das Bühnengeschehen auf dem Display beobachtet, betwittert wird und selbst Gedanken, Gefühle, Eindrücke zurücktwittert. Beim gemeinsamkeitsstiftenden Livetwittern übt der Zuschauer das Mitdenken und Metadenken, ganz im Sinne der Brecht’schen Radiotheorie. Ein völlig neues Gemeinschaftserlebnis der Twitternden stellt sich im Theater ein, die Aufführung wird nur noch kleiner Teil eines stream of consciousness, der das ganze twitternde Publikum erfasst. Die Aufführung wird bereichert und intensiviert durch die hinzukommenden Bewusstseinsinhalte aller Zuschauer, allen zugleich erfahrbar im Theater-live-Tweet. „Kollektive Spontan-Hermeneutik. Gemeinsam verstehen, teilen, entdecken, dechiffrieren, kontextualisieren, assoziieren. Transparenz und Authentizität. Theater spürbar machen. Vertiefung von Informationen und Ausweitung ins Digitale. Live-Erlebnis nach Außen spiegeln. Switching zwischen Bühne und Display.“

Twittero, ergo sum.

Erste Live-Twitter-Event-Experimente, sogenannte Tweetups, laufen derzeit an Theatern in Berlin, in Bern, Neuss, München, Koblenz, Hamburg, Dessau, Dortmund und Heilbronn. Es wird entweder dauerhaft oder zu einzelnen Vorstellungen das Twittern generell freigegeben oder es werden Twitterzonen in Form einzelner Logen oder Stuhlreihen für Twitternde eingerichtet. Dass das Twittern eine Störung sei, ist abwegig und wird mit Shakespeare begründet: Die austernschlürfenden, nüsseknackenden und bierflaschenöffnenden Zuschauer im Globe Theatre waren wesentlich störender als das Scrollen auf leuchtenden Displays.

Die Royal Shakespeare Company ist da schon wesentlich weiter mit den Experimenten in der digital world, bereits 2010 schrieb der Guardian zu einem RSC-Experiment mit der neuen interaktiven Theaterform „But soft! What tweet through yonder iPhone breaks?“: „The Royal Shakespeare Company today joined with the cross-platform production firm Mudlark and with Channel 4’s digital investment fund to launch Such Tweet Sorrow, a drama in real time and 4,000 tweets, based on Shakespeare’s Romeo and Juliet.“

Und 2013 gab es das Großprojekt Midsummernight’s Dream Dreaming der Royal Shakespeare Company mit Google Tools auf der Platform Google+, das das alte Stück mit social media content aufmöbelte:

Conventional theatre starts with a stage. But why a stage? We don’t need a stage. Our stage is online, it is fragmented, glimpsed, experienced and amplified through sharing. We are inviting everyone on the internet to take part. We’d rather like 10,000 contributors extending the RSC across the world, commenting, captioning, or penning a lonely heart column for Helena. Maybe people will invent their own characters. Or make fairy cupcakes; share photos of their dearest darlings as changelings; compose poetry to Lysander‘s sister.

Meine Damen und Herrn, das ist die Zukunft des Shakespeare-Theaters! Die Zuschauer komponieren ihre neuen Shakespeare-Stücke twitternd kollektiv selber!

Stellen wir uns nur vor: Shakespeares Romeo und Julia, aufgeführt vom balinesischen Tanztheater und als Livestreaming auf der Plattform Google+ weltweit simultan erreichbar, mit hunderttausenden von Tweets kommentiert von der Weltgemeinde der digital natives zwischen Lofoten, Patagonien und Wanne-Eickel, in einer großen unio mystica, einem weltumspannenden Bewusstseinsprozess der gemeinsam Twitternden. Das, meine Damen und Herrn, ist endlich der wahre globale Shakespeare! Shakespeare – jetzt erst wahrhaft aktuell im digitalen here and now.

Und so müssen wir uns fragen: Wie sehen die künftigen Mitglieder der Shakespeare-Gesellschaft 2064 zum 500. Geburtstag aus? Werden sie den Chip noch im Smartphone haben? Werden sie ihn nicht eher implantiert unter der Kopfhaut tragen, direkt von der Großhirnrinde ansteuerbar? Werden sie sich ihre eigenen Shakespeare-Stücke in kollektiven, global-mentalen Twitter-Sessions komponieren?

Wer will es wissen. But just listen, Ladies and Gentlemen, listen, listen, listen to the twittering of the birds! What do their tweets us foretell? Prognosen sind bekanntlich schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Und so wollen wir es den künftigen Mitgliedern der Shakespeare-Gesellschaft überlassen, was sie sich in der schönen neuen digitalen Welt des Web 2.0 oder 3.0 oder 4.0 für einen Shakespeare ausdenken wollen. Derweil wollen wir uns lieber hier und heute an dem Shakespeare erfeuen, den wir uns selber erfunden haben. So, let’s celebrate our Shakespeare now!

Foto: © Christa Jansohn

Hinweis:

Der Text zitiert und paraphrasiert folgende Quellen: Ulf Schmidt: „Warum Autoren am Theater nicht mehr gebraucht, Schreiber aber dringend benötigt werden: Raus aus der Krabbelstube, rein in die Theater“, nachtkritik.de; Anne Peter: „Twitter und Theater – Wie die Sozialen Medien im Theater funktionieren (könnten). Der digitale Spiralblock“, nachtkritik.de; die Presseschau vom 13./15. Dezember 2013 „Die SZ und die FAZ berichten über die Twitter-Theater-Woche #TTW13: Unsocial Media?“, nachtkritik.de; www.theguardian.com/commentisfree/2010/apr/13/tweet-romeo-juliet-140-characters; http://dream40.org; www.theguardian.com/stage/2013/may/01/rsc-google-midsummer-nights-dream (Zugriff: 21. Oktober 2014).

Anmerkungen:

[1] Wir danken Frank Günther für die Abdruckgenehmigung. Das komplette Programm der Tagung findet sich unter: http://shakespeare-gesellschaft.de/fileadmin/media/programm14.pdf (Zugriff: 21. Oktober 2014).