Lob der Leseausgabe

Die Edition der Brecht-Notizbücher geht weiter und ist großartig, wirft aber Fragen auf

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Frage, die Notizbücher Bertolt Brechts dem interessierten Publikum vorzulegen, ist äußerst sinnvoll. Sie zudem intensiv editorisch aufzuarbeiten, kann auch niemand wirklich bemängeln. Das außerdem nach den Usancen zu tun, die von Peter Staengle und Roland Reuß durchgesetzt worden sind (Faksimile plus Transkription), ist gleichfalls positiv zu bemerken.

Die nun vorgelegten Notizbücher des Jahres 1920 betreffen eine brennend interessante Phase in der Werkbiografie Brechts: Der junge Autor hatte seine Lehrjahre absolviert, nur kurze Zeit später erlangte er mit seinen ersten umfassenderen Projekten „Baal“ und „Trommeln in der Nacht“ größte Aufmerksamkeit, was ihm den Wechsel nach Berlin ermöglichte. Die Notizbücher des Jahres 1920 lassen davon aber noch nichts erkennen: Brecht arbeitet am „Galgei“-Projekt, das er erst 1927 zu „Mann ist Mann“ umarbeiten sollte, er schreibt an Gedichten, die in das Umfeld der „Hauspostille“ gehören, an einem Roman, der ihn davon überzeugt, dass er fürs Romane schreiben noch zu jung ist (Notizbuch 6), und notiert Essayentwürfe, in denen sich schon echter Brecht erkennen lässt: das Schreiben gegen die Denkkonventionen. Hier finden sich erhellende Notizen wie die, dass es unter „Wörtern und Wortfamilien“ „Feindschaften“ gebe „wie unter andern Lebewesen“. Im achten Notizbuch ist auch jene Sentenz nachzulesen, die als Ausdruck der überbordenden Egozentrik Brechts gelesen werden kann wie als Verweis auf seine bereits jetzt schon ausgebildete Fähigkeit zum Rollenspiel: „Wiewohl ich erst 22 Jahre zähle, / aufgewachsen in der kleinen / Stadt Augsburg am Lech und nur / wenig von der Erde gesehen habe, außer / den Wiesen um diese Stadt mit / Bäumen und einige andere Städte, / aber nicht lang, trage ich den Wunsch, / die Welt vollkommen überliefert / zu bekommen. Ich wünsche alle / Dinge mir ausgehändigt, sowie / Gewalt über die Tiere und ich be- / gründe meine Forderung damit, / daß ich nur ein Mal vorhanden / bin.“ Das ist rechter Brecht und nicht auf den ersten Blick zugänglich.

Die Notizbücher geben Einblick in die Werkstatt des frühen Brecht und machen in umfassenden Kommentaren mit dem Denk- und Schreibhorizont des Autors vertraut. Das ist aufregend und aufschlussreich, und kennzeichnet den Wert der Edition. Denn sie ermöglicht die Rekonstruktion von Schreibprozessen – was ja eben (und das immer schon) den Wert der historisch-kritischen Ausgaben ausmacht.

Die Edition der vier Notizbücher umfasst etwa 500 Seiten, wobei das Notizbuch 4 den größten Raum einnimmt, Notizbuch 7 hingegen nur eine kurze Notiz und ein paar eingelegte Blätter enthält. Edition und Kommentar zum vierten Notizbuch dominieren den Band.

Wen nicht das elitäre Gefühl der taktilen Kontaktaufnahme mit dem Leben und Werk der bearbeiteten Autoren anspricht, wird sich mit den Faksimiles der Notizbuchseiten zufrieden geben, erst recht, wenn – wie hier wohl geschehen – ihre Lesbarkeit erhöht worden ist. Die Notizbücher mögen also in Frieden im Archiv ruhen, Brecht-Forscher können sich nun auch diesen Materialien zuwenden, ohne gleich eine längere Archivreise unternehmen zu müssen. Wer hat noch soviel Zeit und Geld, um sich das zu gönnen? Und wer will die zahllosen Archivalien schützen, wenn jeder wissenschaftliche Hinz und Kunz Zugriff auf verderbliches Material hat?

Bis vor Kurzem zumindest konnte noch jeder im Archiv der Studentenbewegung der FU Berlin in Lankwitz die wenigen Exemplare der Kommune I-Flugblätter in die ungeschützte Hand nehmen und mit den mittlerweile fragilen Papieren hantieren. Wie lange halten die das noch aus? Digitalisieren um zu schonen, heißt es da. Die Musil-Forscher können mittlerweile ihre Archivalien schützen, und die Brecht-Forscher dürfen das nun auch.

Die Brecht-Notizbücher können also von allen Seiten beäugt werden, im Buchdruck in Schwarzweiß, in der elektronischen Edition auch in Farbe. Die Ausgabe gibt alle möglichen Deskriptionen und selbstverständlich auch eine Umschrift, die ihre eigenen Regeln hat, in die man sich jedoch schnell findet.

Allerdings wird diese Umschrift von den Editoren gleich wieder und ohne Not entwertet: Sie sei lediglich als Annäherung gedacht und nicht als belastbares Material. Die Editoren selbst verneinen ihre Zitierfähigkeit und fordern zur Auseinandersetzung mit der Widerständigkeit des Materials, will heißen: mit der Handschrift Brechts auf.

Nun ist die Kompetenz, deutsche Kurrentschriften zu lesen, selbst in der Germanistik nicht allzu verbreitet. Zwar ist auch sie kein Hexenwerk, braucht aber ihre Eingewöhnung. Hinzu kommen freilich Eigenheiten des Handschreibers, die – bei welcher Schrift auch immer – ins Unlesbare tendieren. Wer es sich antun möchte, versuche sich etwa an der Handschrift Carl Hauptmanns (dem älteren Bruder Gerharts) oder anderer Größen der Literatur des 20. Jahrhunderts. Umso mehr ist man auf die Vorarbeit von Editoren angewiesen, die solche Lektüreaufgaben stellvertretend auf sich nehmen. Dafür gebührt ihnen Dank. Im Fall der Brecht-Notizbücher können sie sich gar auf eine Arbeitstranskription Herta Ramthuns stützen, die im Brecht-Archiv vorliegt.

Dennoch können bei der Transkription Fehler unterlaufen sein, damit müssen beide Seiten, Editoren und Nutzer, leben. Immerhin ist das, was die Editoren zustande gebracht haben, jederzeit am Abdruck der Originalseiten prüfbar. Wer mag, kann sich also behelfen.

Was aber fängt man mit solchen Hinweisen an: „Auf die Unterscheidung sicherer von unsicherer Entzifferung wird verzichtet; die Transkription ist insgesamt ein Lesevorschlag, der im Kontinuum von ganz sicherer bis ganz hypothetischer Lesung bei jedem Graphem anders zu verorten ist. Grundsätzlich sollte die Umschrift das von Brecht Notierte nicht festschreiben, sondern erschließen. Der Blick des Lesers soll zur Reproduktion als der eigentlichen Referenz gehen, statt sich bei der Umschrift zu beruhigen. Ein Lese- und Zitiertext wird nicht konstituiert.“ Wasch Dich nicht damit, und mach mich nicht nass?

Wenn die Umschrift nur ein „Lesevorschlag“ ist, an dem Nutzer sich nicht beruhigen sollen, warum sind die Editoren dann nicht so konsequent und präsentieren nur die Originalseiten? Weil das nun wirklich keiner mehr mitmachen würde? – So kann man wenigstens annehmen. Wenn sie aber Nutzern soweit entgegen kommen, dass sie einen Lesevorschlag machen, sollten sie es auch dabei belassen und auf solche Kommentare einfach verzichten. Dem Nutzer ist durchaus die Kompetenz zuzutrauen, mit dem Material, das die Editoren ihm bieten, selbständig umzugehen. Was eben auch bedeutet, dass sie eigene Fehler gelassen hinnehmen und sie in der elektronischen Edition korrigieren. Dafür ist sie doch da. (Bei dieser Gelegenheit: Die elektronische Edition bietet neben den doppelseitigen Abbildungen sämtliche verwandten Materialien und ein Forum, in dem der Kommentar erweitert werden kann. Da kann man dann debattieren.)

Sicher, es hat seine guten Gründe, warum die editorische Praxis sich mittlerweile auf die Reuß/Staengle-Machart eingelassen hat, waren doch die editorischen Entscheidungen der Vergangenheit zum Teil haarsträubend bis hanebüchen. Ausgaben erster und letzter Hand wurden gemischt, Ergänzungen wurden vorgenommen, über deren Herkunft später nur spekuliert werden konnte, Texte wurden weggelassen, weil sie in der Edition an anderer Stelle bereits gedruckt waren. Die Texte der Höfischen Klassik – alles unhistorische Leseausgaben, die nur einen fiktiven Text präsentieren (mit dem man leben muss, weils anders kaum geht).

Außerdem wurden Editionen über Jahrzehnte verzögert, weil Bearbeiter und Finanziers nicht wirklich an ihnen interessiert waren. Eine solche Szene kann und muss man aufmischen. Aber wenigstens in dieser Brecht-Edition und ganz nebenbei auch in diesem Band schlägt das Pendel dann doch arg auf die andere Seite aus. Die Edition ist zu loben, man will sie nutzen, Respekt für die intensive Arbeit zollen, die in der Ausgabe steckt. Aber angesichts solcher Zurechtweisungen lobt man sich die Editoren alten Schlages, die viele falsche Entscheidungen getroffen mögen, aber dazu auch gestanden haben.

Titelbild

Bertolt Brecht: Notizbücher. Band 2: 1920.
Herausgegeben von Martin Kölbel und Peter Villwock.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
658 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424315

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