Die Geburt Eurasiens ist eine Chimäre

Maxim Kantors Essay über das „Gespenst Eurasiens“ ist ein Appell an die russische Politik, die Freiheit nicht der Willkür zu überlassen

Von Anastasia MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anastasia Müller

Als der russische Schriftsteller Maxim Kantor im Jahre 2006 sein zweibändiges Werk „Lehrbuch der Malerei“ vorlegte, das die reformerischen Versuche der postsowjetischen Eliten unter die Lupe nahm, ist nicht vorauszusehen gewesen, wie bald sich Veränderungen im Umgang mit Russland ergeben würden. Die lang ersehnte Demokratisierung des östlichen Nachbarn, auf die nicht zuletzt die westeuropäischen Eliten gesetzt hatten, in deren Bewusstsein die Gegensätze der Ost-West-Konfrontation präsent waren, ist nunmehr zu einem Terminus wie aus romantischer Vorzeit verkommen.

Ein „Herausfallen“ des russischen Staates aus der gesamteuropäischen Geschichte war bis dato nicht denkbar, droht aber, ein eminent politisches Faktum zu werden. In Anlehnung an die Smena-Wech-Bewegung der 1920er-Jahre, die sich in eine Apologetik des Sowjetregimes verwandelt hatte, könnten die Ereignisse, derer wir heute in Russland gewahr werden, mit einem Wechsel der Wegzeichen beschrieben werden, der sich oftmals in Details manifestiert. Schon Karl Schlögel attestierte solchen nuancierten Schattierungen eine symbolische Wirkung, die nicht unterschätzt werden dürfe – die Differenz in den Details, schrieb er, werde zum Beleg für eine Wesensdifferenz von Russland und Europa, von Kommunismus und Außenwelt, von Westen und Osten.

Führt man diesen Gedanken weiter, stünde Russland nach einer relativen Periode westlicher Lehrjahre vor einem Umbruch, der in eine offene Feindschaft mit dem Westen münden könnte. Ein neuer Essay von Maxim Kantor mit dem Titel „Gespenst Eurasiens“, der in der russischen Zeitschrift „Polit“ veröffentlicht wurde, siedelt das Land zeitlich zwischen vorrevolutionärem Imperialismus und Stalinismus an – und dies aus mehreren Gründen. Zum einen hat das Ende des Ost-West-Gegensatzes daran Anteil, das bestimmte Wahrnehmungsmuster entstehen ließ, die sich verkürzt in der Formel „Kommunismus = Nationalsozialismus“, „Kommunismus = Totalitarismus“ und schließlich „Kommunismus = Stalinismus“ äußerten. Fortan wurde der Kampf mit totalitären Systemen – ideologisch, militärisch, ökonomisch – vor allem als Überwindung des Totalitarismus in Russland begriffen.

Zum Zweiten – und dies ist wichtig – hat die postsowjetische Kulturelite dazu in einem bestimmenden Maße beigetragen, dass der Liberalismus in Russland einen feudalen Anstrich bekam; die Vorwürfe reichen von der Aushöhlung der demokratischen Grundsätze bei der Beschießung des russischen Parlamentes durch Boris Jelzin 1993 (als „blutiger Putsch“ bekannt) über die Entfesselung des Kapitalismus der 1990er-Jahre bis hin zur Unterwanderung von Rechtsstaatlichkeit und Moral. An Ende dieser Kette stand der entmündigte und gedemütigte Bürger, und als auch der Staat sich endgültig von der Bühne zu verabschieden drohte, wurden jene Narrative bemüht, die das Gerechtigkeitsempfinden einer ganzen Nation trafen.

Kantor geht es in seinem Essay um nichts weniger als um den Versuch einer gesellschafts-politischen Gesamtdeutung seit dem Machtantritt Putins im Jahre 2000. Der Spross der eurasischen Idee beginnt zu keimen, als der korporativen Moral die neue Kombination von Staatlichkeit und Nation entgegentritt. In ihr, so Kantor, verbindet sich das Pathos des Staates mit der Akzeptanz des Bürgers. Es liegt nahe, auf dieser Basis den Staat als den legitimen Antipoden der Oligarchie anzusehen. Die Fähigkeit Putins, den Kontrollverlust über den privaten Sektor wettzumachen, wird durch die Zerschlagung des russischen Ölriesen „Yukos“ von Michail Chodorkowski eindrücklich vor Augen geführt.

Kantor glaubt zu wissen, dass das wirkmächtigste Instrument der Machtkonsolidierung jener Mythos ist, der neuerdings eine kaum gerechtfertigte Renaissance in Russland erlebt: Eurasien. Eurasien komme nicht nur eine weltgeschichtliche Aufgabe zu, die an das Selbstverständnis einer geeinten Nation appelliert. Daraus scheint sich zugleich Putins politische Legitimität zu speisen, die eine spezifisch russische Freiheit für sich reklamiert und gleichzeitig dichotomisch einer westeuropäischen Kultur gegenübergestellt wird. Die Einführung des Begriffes habe seitdem zu einer sukzessiven Radikalisierung der russischen Gesellschaft geführt, die durch den militärischen Einsatz in Tschetschenien 1999, den Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland im Sommer 2008 und die Annexion der Krim 2014 Fakten schuf. Die Regierung habe jeden Konflikt als unabwendbaren Kampf Russlands um die Bewahrung seines geistigen Wesens zu legitimieren versucht, unter welchem die nationalen Eigenschaften der Slawen wie Friedfertigkeit, Empathie, Toleranz gegenüber anderen und die Fähigkeit zu positiven Veränderungen subsumiert werden.

Doch wie lassen sich die positiv besetzten Zuschreibungen eines friedfertigen Slawentums mit der Vision eines Russischen Weltreiches, das eine moralische Erneuerung des im Niedergang begriffenen Westens vorsieht, zueinander in Verhältnis setzen? Es ist erhellend zu lesen, wie Kantor im Bewusstsein seiner Zeitgenossen Widersprüche erkennt, in die sie sich mit einer unnachahmlichen Verve hineinmanövrieren. Denn abgesehen von vereinzelten Stimmen, die Zweifel am staatlichen Dogma äußern, sind gerade große Teile der gesellschaftlichen und politischen Eliten Russlands offenbar nicht mehr in der Lage, die Handlungslogik der Regierung zu hinterfragen.

Wo liegt Eurasien?

Doch wer hatte Anteil an der weltanschaulichen Konstruktion eines Begriffes, der auf der Vorstellung einer grundsätzlichen Inkongruenz von Russland und dem Westen gründet? Die Anfänge der ersten „eurasischen“ Bewegung reichen in die 20er Jahre zurück. Das politische Engagement der Intellektuellen, die sich seit dem Ausbruch der Oktoberrevolution ins Abseits gedrängt sahen, ist auf den ersten Blick nicht weiter verwunderlich. Im Untergrund oder im Exil – politische Proklamationen und Manifeste wurden zu einem festen Bestandteil der Arbeit in politischen Zirkeln. Die Theoretiker der ersten Stunde wie die Künstlerin Natalja Gontscharowa, Trubezkoj, Frolowskij und andere sind in vielfacher Hinsicht vom philosophischen und publizistischen Erbe der Slawophilen (Homjakow, Danilewskij) und vom nationalistischen Œuvre Dostojewskis angeregt und beeinflusst worden. All die wissenschaftlichen Debatten und publizistischen Auseinandersetzungen interessierten sich jedoch nicht für eine politische Domestikation Eurasiens – allein die geographische Ausdehnung Eurasiens, die sich mal auf die Eroberung des Bosporus und der Dardanellen, mal auf die Einflussnahme auf alle Kontinente ausdehnte, blieb vage. Vielmehr kreisten die Kontroversen um die Frage der Erneuerung der westeuropäischen Gesellschaften und richteten den Fokus auf die tiefe Gläubigkeit Russlands. So lamentiert Natalja Gontscharowa, dass es an der Zeit sei, die Asche des Westens von den Füßen abzuschütteln und den Blick gen Osten zu richten. Eurasien erschien als unvermeidbare Konsequenz einer sich von Grund auf reformierenden Welt, die in unversöhnlicher Opposition zum Westen stand. Nationalstereotyp, so resümiert Kantor folgerichtig, adaptierte die „eurasische“ Bewegung das Dogma einer heilsgeschichtlichen Lehre, deren Zweck in der Synthese von Staat und Kirche bestand, während die Säkularisierung des Westens entschieden zurückgewiesen wurde. Nicht die ratio war demnach die Alternative zur Entwicklung einer sozial gerechten Gesellschafsordnung, sondern einzig und allein der wahre christliche Glaube. Das Ergebnis, zu dem die „Eurasier“ gelangten, musste zwangsläufig zur Überhöhung des Staates führen, die eine Unverfügbarkeit der politisch Mächtigen und gesellschaftlich Einflussreichen nach sich zog. Im Blick auf die selbst gestellte Frage nach der politischen und kulturellen Zugehörigkeit Eurasiens, als dessen Beschützerin Russland sich heute wieder versteht, wirkt der verzweifelte Ausruf des russischen Religionsphilosophen Solowjew nach wie vor aktuell: „Ex oriente lux. Russland zwischen Xerxes und Christus“ revidiert das seit der Aufklärung geltende universale Recht auf Freiheit und Gleichheit zugunsten der uneingeschränkten Macht des Staates.

Plädoyer für die Demokratie

Angesichts der auf Unterschiede bedachten und die Verteidigung des Eigenen ausgerichteten politischen Linie der Regierung Putins, die in Russland zusehends zum Entstehen einer revanchistischen Denkweise beiträgt, klingt die Botschaft des Essays mahnend und beunruhigend zugleich. Kantor wird nicht müde zu unterstreichen, dass die Divergenzen in der russischen und westeuropäisch-amerikanischen Politikauffassung nicht als Status quo fixiert werden sollten, sondern dass im Gegenteil das auf Freiheit und Gleichheit angelegte westliche Staatenmodell ziel- und richtungsweisend für Russland sein müsse.

Auch wenn Kantors Kritik die Behauptung von der Unverrückbarkeit und Dauerhaftigkeit der westlichen Leitvorstellung gegen Russlands Rückfall in den Obskurantismus ins Feld führt, so spiegelt sein Essay letztlich die Enttäuschung eines liberalen Intellektuellen und Bürgers wider, der im libertären Geist einen Ausweg für die politischen und sozialen Irrungen und Wirrungen seines Landes zu entdecken glaubt. Auch die Rolle Dostojewskis, der in der westlichen Vorstellung als einer der ersten Wortführer des Nationalismus in Russland gilt, verkürzt Kantor insofern, als dass er die Dialektik seiner Romane verkennt – in den „Dämonen“ präsentiert Dostojewski die „Achillesferse“ des russischen Messianismus, indem er den wahren christlichen Glauben von dem Glauben an den Staat unterscheidet.

Letztlich bleibt festzuhalten, dass Kantors Diagnose historischer Verfehlungen Russlands in eine Apotheose des Westens umzukippen droht, die seit dem Ende des weltpolitischen Gegensatzes zwischen Ost und West zu einem unhinterfragten Dogma avanciert ist. Lapidar resümiert Kantor: „Die Tragik der eurasischen Bewegung besteht darin, gegenüber denjenigen Forderungen zu erheben, die das Glück hatten, ein sich selbst genügender Westen zu sein, der letztlich den Club der Auserwählten bildet.“

Indem Kantor den seit der Aufklärung allgemeingültigen Universalismus von Freiheit und Gleichheit, den einzig und allein der Westen vertrete, als nicht verhandelbar darstellt, wird die russische Geschichte in ihrer Geltung nivelliert. Angesichts der allgemeinen Orientierungslosigkeit, welche die politischen und sozialen Lebenswelten Russlands seit den 1990er-Jahren kennzeichnen, kann jedoch keine eigenständige Demokratie gedeihen. Dass eine große, allumfassende Idee der Einheit zwischen Staat und Nation gerade heute einem breiten Bedürfnis in Russland entspricht, ist nicht zuletzt einer allzu raschen Rezeption der westlichen „Philosophie“ seit der Implosion der Sowjetunion geschuldet.

Besprochener Essay:
Maxim Kantor, Gespenst Eurasiens

Forschungsliteratur:
Aleksandr Medvedev, Россия Ксеркса иль Христа? Русский мессианизм в рефлексии русской эмиграции 1928-1933 г. // Toronto Slavic Quarterly. Academic Electronic Journal in Slavic Studies. 2013. №44. C. 268-285. URL: http://www.utoronto.ca/tsq/44/index.shtml

Nikolaj Berdjajew, Stawrogin, erstmals ersch. in Russkaja mysl, 1914. Bd. V, S. 80-89. URL: http://krotov.info/library/02_b/berdyaev/1914_175.htm#111