Auf der Bühne des Textes

Zum Tagungsband „Imaginative Theatralität – szenische Verfahren und kulturelle Potentiale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie“, herausgegeben von Manfred Kern

Von Rostislav TumanovRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rostislav Tumanov

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich bei dem ersten Blick auf den Titel dieses Buches, das im Rahmen einer gleichnamigen Tagung in Salzburg publiziert wurde, stellen sich zwei Fragen. Wie ist einerseits der vergleichsweise moderne Begriff Theatralität auf die Literatur und Kunst einer Epoche anzuwenden, die das Theater – wie wir es heute verstehen – nicht kannte? Und was ist andererseits eigentlich als imaginative Theatralität zu verstehen?

In einem Vorwort sucht Herausgeber Manfred Kern diese beiden Fragen zu beantworten. Hierzu zeichnet er einen methodischen Horizont, vor dem die folgenden Artikel zu verstehen sind. Bei der Definition des Terminus Theatralität stützt sich Kern auf drei Ansätze.

Es handelt sich dabei zum einen um die Überlegungen Paul Zumthors, der die Literatur des Mittelalters als inhärent theatralisch begreift. Denn mittelalterliche Poesie sei, so Zumthor, primär in Form mündlicher Vorträge dargeboten worden. Dabei wurden die Texte durch die Stimme und die Bewegungen des Vortragenden akzentuiert und ausgestaltet. So wurden sie ihrem Publikum immer in einer theatralen Form präsentiert. Ein weiterer Punkt ist die Frage, ob die mittelalterliche höfische Gesellschaft, in der diese Werke präsentiert und rezipiert wurden, nicht selbst eigentlich von Theatralität durchzogen ist. Denn hier, so nimmt man an, ging es darum, zu sehen und gesehen zu werden, sich selbst in Szene zu setzen und die Inszenierung der anderen richtig zu deuten.

Der direkte Bezug auf die historische Praxis ist zugleich der größte Vorteil wie auch der offensichtlichste Nachteil von Zumthors Ansatz. Zweifelsohne ist es sinnvoll, den historischen Kontext zu beachten. Möchte man diesen aber rekonstruieren, so ist man fast ausschließlich auf Annahmen und teilweise unklare Indizien angewiesen. Die Texte, mit denen sich die AutorInnen dieses Bandes beschäftigen, sind heute einzig in Handschriften – zum Teil von Bildern begleitet – überliefert.

Neben Zumthor bezieht sich Kern auf die Forschung der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die viel dazu beigetragen hat, den Begriff der Theatralität in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu etablieren. Ausgehend von modernen Theaterformen begreift Fischer-Lichte die Theatralität als einen zentralen Modus der menschlichen Kultur. Die gleichzeitige körperliche Gegenwärtigkeit von Akteuren und Publikum ist für sie ein zentraler Aspekt des Theatralen. Damit ist ihr Ansatz ebenfalls nur schwer mit der großen klaffenden Wissenslücke zu verbinden, die sich auftut, wenn man nach der konkreten mittelalterlichen Aufführungspraxis von literarischen Texten fragt.

Als letztes wird Gerhard Neumanns Konzept der Theatralität angesprochen. Er fasst diese als eine erste Grundlage aller Kommunikation auf. Jede Aussage könne nach Neumann als eine Art Theater der Zeichen verstanden werden, das sich im inneren Schauraum des Empfängers abspielt. In diesem Ansatz, so faszinierend er als Metapher auch sein mag, kommt dem Begriff der Theatralität aber eine fast schon zu breite Bedeutungsdimension zu. Wenn jede Kommunikation inhärent theatral ist, macht es dann noch Sinn, Theatralität als ein besonderes Kriterium herauszustellen?

Im Konzept der imaginativen Theatralität versucht Kern Elemente dieser drei Theorien zu vereinen. Statt Annahmen über Aufführungspraktiken zu treffen, deren Details wohl unwiederbringlich verloren sind, soll der Fokus auf bestimmten Besonderheiten der auf uns gekommenen Werke liegen. Imaginative Theatralität bezieht sich demnach in erster Linie auf einen inneren Vorstellungsvorgang, der durch bestimmte Verfahren in Texten und auch Bildern ausgelöst werden kann. Als Leser, Zuhörer und/oder Zuschauer soll das Publikum dazu angeleitet werden, sich Personen und Handlungen konkret und panoramaartig vorzustellen. Die Stimme des Erzählers, die Komposition des Textes oder Bildes lenkt den Blick des Publikums durch diese Handlung. Möglicherweise regt sie das Publikum auch dazu an, sich als wirkliche Augenzeugen des imaginierten Geschehens oder gar als aktive Teilnehmer daran zu begreifen. Wie das Adjektiv imaginär erahnen lässt, ist es demnach kein Theater der körperlichen Anwesenheit, das in einem wirklichen physischen Raum seinen Platz hat. Vielmehr ist es ein inneres Theater der Vorstellungsbilder und Zeichen, das sich in Gedankenkulissen abspielt.

Die 22 Beiträge des Tagungsbandes sind in fünf Gruppen unterteilt. Die ersten beiden Gruppen sind jeweils einer literarischen Gattung gewidmet und befassen sich mit Lyrik beziehungsweise höfischer Epik. Die Aufsätze der dritten Gruppe drehen sich um die Frage, wie Theatralität erzählende Texte als eine Art Metaebene durchziehen kann. Die Beiträge der folgenden Sektion beschäftigen sich mit Aspekten der Theatralität in historiographischen Werken sowie theatralen Aspekten historischer Ereignisse. Im fünften und letzten Teil des Bandes wird schließlich ausgelotet, wie Kombinationen von Text und Bild ihren Leser und Betrachter zu einer Form szenisch gestalteter Vorstellungen anregen können.

Ein Großteil der Beiträge folgt zumindest in seinen Grundzügen Kerns Arbeitsdefinition. So werden immer wieder mittelalterliche Texte auf die Frage hin untersucht, wie darin Handlungen und Personen szenisch beschrieben und so dem Publikum möglichst anschaulich präsentiert werden. Artikel, die sich mit konkreten Geschehnissen beschäftigen, die man als theatral oder theaterähnlich bezeichnen könnte, sind aus oben genannten Gründen selten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bietet hier der Artikel Anja Beckers, der sich mit den Geißler-Prozessionen in Straßburg im Jahre 1349 beschäftigt.

Fast durchgängig greifen die AutorInnen zu Beginn ihrer Beiträge die Frage auf, warum denn nun die Auseinandersetzung mit Theatralität einen neuen, besseren Zugang zum Quellenmaterial ermöglicht. Hier wird immer wieder eine Schwäche dieser Prämisse deutlich: Theatralität erweist sich als ein nahezu unendlich dehnbarer Begriff, der sich direkt oder metaphorisch auf nahezu alle Erzählverfahren anwenden lässt. Charaktere werden einfach als Rollen, Gegenstände, die zum Teil als Metaphern dienen, als Requisiten bezeichnet, ohne dass sich dadurch unbedingt ein nennenswerter Mehrwert ergibt. Der Begriff der Theatralität schafft es in dieser unklaren Form nicht, eine einheitliche methodische Arbeitsgrundlage zu bilden. Immer wieder werden einzelne Aspekte aus verschiedenen Theorien herausgegriffen. Und manchmal spielt die ganz persönliche Auffassung der AutorInnen, was denn Theater eigentlich auszeichne, in die Begriffsbildung mit hinein.

Dennoch versammelt der Band zahlreiche Beiträge, die eine neue Perspektive auf die Untersuchungsobjekte ermöglichen. Die Frage nach der Theatralität gerät dabei jedoch häufiger in den Hintergrund und scheint die Argumentation manchmal eher zu beschweren als zu inspirieren.  

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Manfred Kern (Hg.): Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
477 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362331

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