Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

Zum 100. Todestag erscheinen die „Sämtlichen Gedichte“ von Georg Trakl in einer Neuausgabe

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Genau einhundert Jahre nach dem Tod Georg Trakls hat der Insel Verlag die „Sämtlichen Gedichte“ neu veröffentlicht, diesmal in „chronologisch-thematischer Reihenfolge“. Wie soll man aber Trakl begegnen, wenn dessen Texte klischeehaft als „schwer“, „morbid“ oder gar „depressiv“ bezeichnet werden? Wie lässt sich ein Zugang zu ihm herstellen, wenn er durch biographische Eigenheiten wie dem (mutmaßlich) inzestuösen Verhältnis zu seiner Schwester verstellt ist? Die Antwort ist möglichst einfach: lesen. Dem Rauschhaften dieser Verse nachspüren. Die Eindrücke in sich aufnehmen.

Trakls Gedichte bedienen sich einer immer wiederkehrenden Motivik. Sehr oft handeln sie von Herbst- und Abendlandschaften oder sind Beobachtungen, denen auch in lichten Momenten Verzweiflung innewohnt. Doch all das Negative gründet in einem tiefen Verständnis von Menschlichkeit, das Trakls Gedichten erst ihre Klarsicht verleiht. Diese hat mit den Hochgesängen der Romantiker nichts zu tun; zu gewiss ist sie sich ihres eigenen Untergangs, wie etwa in dem Gedicht „Siebengesang des Todes“

O des Menschen verweste Gestalt: gefügt aus kalten Metallen,
Nacht und Schrecken versunkener Wälder
Und der sengenden Wildnis des Tiers;
Windstille der Seele.

Der Mensch ist für Trakl ein in der Weite der Welt ausgesetztes Wesen, das sich seines fehlenden Obdachs bewusst ist: „Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“ Einen Gott, an den er sich in seiner Not wenden kann, gibt es nicht. Unkontrollierte Kräfte üben ihre Herrschaft über ihn aus; er erkennt, dass er nur aus Fleisch und Knochen besteht und die Vorstellung der Seele lediglich ein längst vergangener Windhauch in der Wüste der Welt ist. Diese Einsicht lähmt ihn. Der Trübsinn gibt seinem Leben eine wechselhafte Kontur und treibt den Menschen immer weiter ins Dunkel, ist aber eine Form überdeutlicher Wahrnehmung, die alles in sich klammert und es gleichzeitig umhegt: „An Weiden baumeln Kätzchen sanft im Wind.“

Eine derartige Formulierung würde anderen Autoren als fehlerhaft angelastet, bei Trakl ist sie stilbildend. Dass hier „Weidenkätzchen“ gemeint sind, wird schnell offenbar; ein eigentlich heiterer Frühlingstag zeigt einen Riss, durch den die Vergänglichkeit düster aufscheint. Ähnlich lassen sich auch die Lichter betrachten, die „in der Irre gehn“; sie sind einerseits Gespenster, andererseits Menschen, die trotz einer Laterne in der Hand vom Weg abgekommen sind: Mit dem einen Fuß stehen sie noch im Reich der Lebenden, mit dem anderen im Reich der Toten. Trakl ist sich dieser möglichen Grenzüberschreitung ständig bewusst. Aber er schafft sich auch ein Gespür für die Objektivierung, die vom Menschen Besitz ergriffen hat: „Für Einsames ist keine Schenke da“. Die persönlichen Eigenheiten des Individuums lösen sich auf, zurück bleiben nur noch abstrakte Größen wie das Alleinsein.

Bei solchen Gedanken mag es zutreffend erscheinen, Trakl als einen depressiven Dichter zu bezeichnen. Doch seine Gedichte lösen sich von eindeutigen biographischen Zuschreibungen. Das Leid geht mit der Erkenntnis über die Ausgesetztheit des Menschen in der Welt einher, doch immer wieder durchbricht Trakl seinen Pessimismus. Er fügt ihn in die poetische Form, die ihn erträglich macht und sogar eine Art Trost bietet.

Wer diesen Autor kennenlernen möchte, ist mit der Neuerscheinung aus dem Insel Verlag gut bedient. Wer sich allerdings tiefergehend für das Werk interessiert, sollte sich die dtv-Ausgabe besorgen. Denn die Herausgeber haben – obwohl der Klappentext eine chronologische Reihenfolge ankündigt – keine Publikationsdaten angegeben. Die Texte sind in Kapiteln gruppiert, die jeweils eine von Trakl vorgesehene Überschrift tragen. Es mag eine passende Geste des Verlags sein, zum Todestag des Lyrikers eine Neuausgabe zu publizieren; die fehlenden Informationen hinterlassen allerdings einen bescheidenen Gesamteindruck, den die Wirkungskraft der Gedichte zum Glück ein wenig aufheben kann.

Titelbild

Georg Trakl: Sämtliche Gedichte.
Insel Verlag, Berlin 2014.
205 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783458360377

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