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Wolfgang Braungart und Lothar von Laak stellen mit ihrem Sammelband zur Diskussion, was ‚Gegenwart‛ in der Literatur bedeuten kann

Von Svenja FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Svenja Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle Literatur ist Gegenwartsliteratur. Denn Gegenwart ist immer und überall. Inwieweit literarische Texte ihre politische, soziale oder kulturelle Zeitgenossenschaft auch artikulieren, darin unterscheiden sie sich freilich erheblich. Mit einem Zuviel an Zeitgenossenschaft riskiert der Text seine langfristige Gegenwärtigkeit und läuft Gefahr, schon bald allein noch als historisches Dokument von Belang zu sein. Die Frage, wie sich Literatur zu ihrer eigenen Zeit verhält und was ihr zugleich allgemeinmenschlich oder poetisch fortwährende Gegenwärtigkeit verleiht, kann dabei grundsätzlich an das Korpus jeder Epoche gestellt werden. Die Germanisten Wolfgang Braungart und Lothar von Laak jedoch verknüpfen ein solches Forschungsinteresse in ihrem jüngst erschienenen Sammelband Gegenwart Literatur Geschichte mit dem geläufigen Verständnis von „Gegenwartsliteratur“ als Epochenbegriff und wenden sich gezielt der Literatur nach 1945 zu. Bleibt zu sehen, wie aufschlussreich eine solche Verbindung sein kann, die zuletzt auch ein Forschungsband von Silke Horstkotte und Leonhard Herrmann zur Ästhetik der deutschsprachigen Gegenwartsprosa in manchen Beiträgen voraussetzte (Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, 2013).

Unter drei Fragestellungen haben die Herausgeber präzise Einzeluntersuchungen namhafter deutscher und internationaler Literaturwissenschaftler versammelt: Auseinandergesetzt werden darin (1) Gegenwart als politisch-historische Reflexion der Literatur über ihre eigene Zeit sowie als Vergegenwärtigung einer vergangenen Epoche (2) Gegenwart als selbstreflexive Gegenwärtigkeit des Textes und (3) Gegenwart als Literatur unserer Zeit.

Mit dem ersten Themenkomplex reagiert der Band vor allem auch auf die Bedeutung, die historischen Ereignissen in der deutschsprachigen Erzählprosa nach 1945 zukommt (vgl. etwa Erik Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne,2012) und wird somit anschlussfähig für aktuelle kulturwissenschaftliche und narratologische Forschungszusammenhänge. Im Unterschied dazu geht es den Beiträgen jedoch nicht um die Untersuchung von Erinnerungsmodellen oder um den Transformationsprozess vom historischen Ereignis zur literarischen Erzählung, sondern um die doppelte Lesbarmachung des Textes hinsichtlich seines zeitgeschichtlichen Moments und dessen übergeschichtlicher Literarisierung.

Mit der Frage nach der „Ästhetik der Präsenz“ (Hans Ulrich Gumbrecht) beziehungsweise der „Ästhetik des Erscheinens“ (Martin Seel) richtet der zweite Teil des Bandes den Fokus auf Epiphanie-Erleben in der Literatur und die Selbstreflexion des poetischen Textes. Dieses Erkenntnisinteresse ließe vielleicht eine Konzentration auf Lyrik und Kurzprosa erwarten, doch werden entsprechende Beispiele durch mehrere Romananalysen, wie etwa zu Arnold Stadlers Komm, gehen wir (2007), ergänzt. Diese Ausgewogenheit des Bandes wird auch im dritten Teil deutlich, der entfaltet, welche ästhetischen Strategien und zeitgeschichtlichen Phänomene die Literatur unserer Gegenwart prägen. Eine aufschlussreiche Deutung von Juli Zehs Theaterstück Corpus Delicti (UA 2007) vervollständigt hier die übrigen Untersuchungen, indem sie ihnen die Gattung „Drama“ hinzufügt, die beim Blick auf den Begriff ‚Gegenwart‛ besonders naheliegt. Die sinnliche Präsenz der Aufführung werde wie Birte Giesler zeigt, in Corpus Delicti durch das Wegfallen der ‚vierten Wand‛ noch potenziert. Darüber hinaus sei, folgt man den Ausführungen in Zehs Tübinger Poetik-Vorlesung, das Drama als Gemeinschaftsprojekt, über das sich vom Schauspieler bis zum Bühnenbildner stets mehrere Beteiligte abstimmen müssen, die politischste und damit gegenwartsbezogenste Gattung überhaupt.

Beinahe ausnahmslos argumentieren die Beiträge des Bandes stichhaltig und stellen ihre fundierten und textpräzisen Beobachtungen konzis und stilistisch klar zur Diskussion. Zumeist Einzelstudien, sind sie aufgrund ihrer kenntnisreichen Verweise vor allem auch für den Werkkontext der untersuchten Autoren – unter ihnen Bertolt Brecht, Uwe Johnson, Norbert Gstrein – von entscheidender Bedeutung.

Dem Fachgebiet der beiden Herausgeber und dem Publikationsrahmen der Beihefte zum Euphorion entsprechend stammen die Beiträge zwar hauptsächlich aus der Germanistik, werden jedoch sinnvoll ergänzt durch einen Aufsatz aus der Romanistik, der sich Antonio Tabucchis spätem Erzählband Il tempo invecchia in fretta (2009) widmet und durch eine Analyse postkolonialer englischsprachiger Literatur am Beispiel von Salman Rushdie und Amitav Ghosh.

Gerade die zweite Untersuchung gibt Zeugnis davon, wie fruchtbar eine solche Gegenüberstellung für die Beschäftigung mit der Gegenwartsliteratur sein kann, denn hier werden die transnationalen Parallelen besonders deutlich. Wenn die Germanistin Shaswati Mazumdar zeigt, wie sich die beiden indischstämmigen Autoren mit der Literaturgeschichtsschreibung der Gegenwart aktiv auseinandersetzen, indem sie Kritik an der Rubrik ‚Commonwealth-Literature‛ üben, dann ließen sich diese Erkenntnisse teilweise auch auf den deutschsprachigen Kontext übertragen: Der Begriff ‚Migrationsliteratur‛ steht gleichfalls unter Verdacht, die ihr zugeordneten Texte als paraolympische Disziplin von der ‚eigentlichen‛ Literatur abzugrenzen anstatt sie primär für ihre ästhetische Leistung zu würdigen. Diesen Distinktionsprozessen selbst innerhalb der Nationalphilologien auf der einen Seite scheint die Internationalisierung des Gegenwartsromans auf der anderen Seite entgegenzustehen. Rushdies naheliegende Beobachtung, die zeitgenössische Literatur sei internationaler denn je, relativiert Mazumdar allerdings überzeugend, indem sie ihr Ghoshs Perspektive gegenüberstellt: Er verweist auf die historische Kontinuität, die das Genre bereits seit mehr als einem Jahrhundert als internationales auszeichne.

Wie an diesem Beispiel deutlich wird, zeigt sich das Innovationspotential des Bandes gerade im dritten Teil, der seinem Ziel entsprechend einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung der Gegenwartsliteratur leistet. Hier wäre beispielsweise auch Volker Wehdekings Intermedialitäts-Studie zu nennen, die sich keinesfalls auf die thematische oder narrative Repräsentation von Medien in der Literatur beschränkt, sondern etwa auch auf die Chronologie der Rezeption von Romanen und deren Verfilmungen eingeht und so auf neue Lektürebedingungen der Gegenwart aufmerksam macht.

Innerhalb der Konzentration des Bandes auf Einzeltextanalysen bildet Michael Brauns Brückenschlag eine Ausnahme, der darauf abzielt, die allgemeine raumzeitliche Vorstellung von Präsenz mit dem Gegenwartsliteraturkorpus zu verknüpfen, indem er Hans Ulrich Gumbrechts Beschreibung der Jetztzeit als „breite Gegenwart“ mit George Steiners Idee einer „tiefen Gegenwart“ kontrastiert und für die Gegenwartsliteraturforschung fruchtbar macht: So wird versucht, Gegenwart in der Literatur zwischen den beiden Polen einer fortwährend andauernden Zeitgenossenschaft und einer diese überschreitenden literarischen Gültigkeit zu verorten.

Von diesen Neuansätzen abgesehen, gestalten sich auch die beiden anderen Teilgebiete des Bandes vielseitig und entwerfen über die Beschreibung der ästhetischen Strategien zeitgeschichtlicher Repäsentation und poetischer Epiphanie hinaus auch philosophische Bestimmungen der Gegenwart. Stephanie Waldow etwa führt überzeugend aus, wie der Roman Blumenberg (2011) der Büchner-Preis-Trägerin Sibylle Lewitscharoff Kontingenz als ästhetische und ethische Aufgabe nach der Postmoderne darstellt.

Dabei leuchtet es in Bezug auf das Korpus „Gegenwartsliteratur“ durchaus ein, auch zu reflektieren, was die langfristige Gegenwärtigkeit eines Textes eigentlich ausmacht. Denn Literaturkritik und Gegenwartsliteraturforschung sind maßgeblich an Kanonisierungsprozessen beteiligt und sollten deshalb in der Lage sein, künftige Leserrezeptionen näherungsweise zu antizipieren und das ästhetisch oder gedanklich über den zeitgenössischen Kontext hinaus Bedeutsame zu erkennen.

Wie sich Gegenwart als epiphanisches Erlebnis, das momentan auch im Forschungsdiskurs im Umfeld des Themas „Aufmerksamkeit“ wieder vermehrt Beachtung findet, in diese Zusammenhänge eingliedert, erschließt sich allerdings nicht von selbst. Vielleicht ließe sich argumentieren, dass die Literatur in dieser momenthaften Präsenzerfahrung ein utopisches Gegenmodell zur permanenten Ablenkung durch soziale Kommunikationsmedien entwirft, das in der jüngsten Literaturgeschichte erneut zentrale Bedeutung gewinnt.

Solche möglichen Verbindungen zwischen den drei gewählten Blickwinkeln auf „Gegenwart“ im literarischen Text hätten sich im Band auch hinsichtlich des Beobachtungszeitraums deutlicher hervorheben lassen. Indem Gegenwart, Literatur, Geschichte jedoch bereits durch seine Konzeption und die Zusammenstellung der Beiträge zur Reflexion solcher Fragen anregt, geht seine Leistung weit über die Summe seiner facettenreichen Einzeluntersuchungen hinaus und leistet dadurch nicht zuletzt auch einen Beitrag zu einer noch weitgehend unbestimmten Theorie der Gegenwartsliteraturforschung.

Titelbild

Wolfgang Braungart / Lothar van Laak (Hg.): Gegenwart, Literatur, Geschichte. Zur Literatur nach 1945.
Beihefte zum EUPHORION, Heft 74.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
312 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362270

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