Schon Shakespeare war Charlie

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Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Der 450. Geburtstag William Shakespeares, der letztes Jahr bei literaturkritik.de begangen wurde, ist in unserer ersten Ausgabe des Jahres 2015 Anlass für einen bilanzierenden Rückblick. Eine andere Rubrik greift auf die zahllosen Erinnerungen an den Beginn des Ersten Weltkriegs zurück, denen wir im Januar, im Juli und im August 2014 Schwerpunkte gewidmet hatten: Was vor 100 Jahren geschah und durch ein mörderisches Attentat ausgelöst wurde, wird uns weiterhin beschäftigen. Denn die weltweit eskalierenden Kriege der Gegenwart lassen sich im Spiegel vergangener Kriege besser begreifen.

Auch das Werk eines der berühmtesten Dichter aller Zeiten verspricht Erkenntnisse: „Es wird mit Blut kein fester Grund gelegt, / kein sicheres Leben schafft uns Andrer Tod.“ So steht es in einem der Königsdramen Shakespeares. Beinahe ein halbes Jahrtausend währt dessen Rezeption nun schon. Bereits vor über 200 Jahren verbeugte sich August Wilhelm Schlegel in seinen „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“, die er 1808 in Wien hielt und 1809-1811 veröffentlichte, vor seinem Idol. Der Übersetzer, Schriftsteller, Indologe und Philosoph betonte seinerzeit, Shakespeare sei „der Stolz seiner Nation“. Ein neuerer Dichter habe ihn „mit Recht den Genius der brittischen Insel genannt“.

Schlegel gibt einen Überblick über die wechselvolle Rezeption des Dichters in England: Shakespeare sei schon der Liebling seiner Zeitgenossen gewesen, und nach „dem Zwischenraume des puritanischen Fanatismus, der ungefähr ein Menschenalter nach ihm eintrat und alle freye Geistesbildung verbannte, nach der Regierung Carls des zweyten, während welcher man ihn entweder gar nicht oder sehr entstellt auf die Bühne brachte“, sei sein Ruhm „etwa zu Anfange des vorigen Jahrhunderts aus dem Dunkel der Vergessenheit glänzender auferstanden“. Dieser Ruhm, so Schlegels prophetische Worte, sei seitdem „immer mit dem Fortgange der Zeiten“ gewachsen und werde „auch in den folgenden Jahrhunderten, dieß sage ich mit größter Zuversicht voraus, fortfahren gewaltig anzuwachsen, wie eine von den Alpen herunterrollende Schneelawine.“

Was für ein Bild! Andererseits ist der nicht nur positiv auffassbare Vergleich der Kanonisierung Shakespeares mit einem Naturereignis, das die Menschen im Gebirge seit jeher eher fürchten als dass sie es bewunderten, im Blick auf die Jubiläumsaktivitäten des letzten Jahres nicht ohne Komik. Die Bamberger Anglistin Christa Jansohn hat die unterschiedlichsten Feierlichkeiten und Nebeneffekte des Shakespeare-Jahres 2014 für unsere Zeitschrift mitverfolgt. Neben illustrierten Erlebnisberichten und einer Zusammenfassung der letztjährigen Shakespeare-Theaterinszenierungen hat sie weitere Rezensionen zum Thema gesammelt. Wir möchten der Betreuerin dieses Schwerpunkts unserer Januar-Ausgabe für ihre Mitarbeit danken.

Vor wenigen Tagen hat sich nun noch ein neuer, furchtbarer Kontext unserer Ausgabe aufgedrängt. Angesichts des Massakers islamistischer Terroristen in der Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo muss daran erinnert werden, dass die Freiheit der Kunst und der Satire auch schon vielen Zeitgenossen Shakespeares verhasst war und gegen sie verteidigt werden musste. Die Frage, was ein Autor kritisieren oder vespotten dürfe, wird seit Jahrtausenden gestellt. Die Antwort gab der Satiriker Kurt Tucholsky, dessen 125. Geburtstag gerade gefeiert wird: alles.

Schon Schlegel schreibt in seiner zitierten Vorlesung über die Kritik an Darstellungen in Shakespeares Dramen, die mancher Leser zu seiner Zeit für krankhafte Entgleisungen eines „beynah verbrannten Gehirns“ hielt: „Wollen wir einen großen Zweck, so müssen wir auch die Mittel wollen, und unsre Nerven sollten sich schon einigermaßen schmerzliche Erschütterungen gefallen lassen, wenn unser Gemüth zur Entschädigung dafür erhoben und gestärkt wird. Die beständige Rücksicht auf ein kleinliches Geschlecht muß alle Kühnheit des Dichters lähmen.“

Dass ein solches „kleinliches Geschlecht“ einmal mit einer solchen Grausamkeit auf Darstellungen reagieren könnte, die ihm nicht passen, wie es die Attentäter in Paris getan haben, ist mehr als ein Rückschlag. Es ist ein abscheuliches Verbrechen, das uns in Zustände zurückversetzt, die schon zu Zeiten Schlegels – im Sinne der Aufklärung – überwunden schienen. Nicht nur für die Pressefreiheit hat das Jahr 2015 mit einem brutalen Angriff begonnen, der noch lange nachhallen wird. Jeder unabhängige Redakteur, Autor oder Karikaturist auf der ganzen Welt kann im Moment tatsächlich nur darauf antworten: „Je suis Charlie.“

Eine andere Frage ist, warum sich das öffentliche Mitgefühl für die vier jüdischen Opfer des Anschlags zunächst so merklich in Grenzen hielt. Der Antisemitismus, der eine der Grundlagen des islamistischen Terrors auch in Frankreich ist, wie die weitere Entwicklung der Anschlagserie von Paris unterstrich, ist zudem ein Thema, das Shakespeares Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ (1600) in Verruf brachte. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom urteilte sogar, aufgrund des antisemitischen Stereotyps der rachsüchtigen und grausamen Figur Shylocks in diesem Drama solle Shakespeares Stück nach Auschwitz besser gar nicht mehr aufgeführt werden.

Formulieren wir es so: Wie witzig Karikaturen im Einzelfall sein mögen und inwiefern sie berechtigt sind, wird ohnehin diskutiert. Es wird stets jemanden geben, der sich darüber empört, der sie für dumm hält, sie gemein oder diskriminierend findet. Eine derartige Kritik kann in einer freien Welt jederzeit berechtigt sein. Nur darf sie eben nicht mit Gewalt vorgebracht werden.

Solche Debatten sind sogar ein wesentlicher Grund dafür, dass es die Literatur und die Kunst in einer liberalen und toleranten Gesellschaft überhaupt weiter gibt und geben muss: Sie gehören zu den letzten Orten in unserer Welt, an denen noch Abweichungen und Irritationen von kaum durchschauten Ideologien und erneut bedenklich mächtig gewordenen Religionen ausdenkbar sind. Das muss man als aufgeklärter Mensch aushalten können, ohne mit Attentaten darauf zu reagieren: „Kunst bringt das Leben in Unordnung“, schreibt Karl Kraus. „Die Dichter der Menschheit stellen immer wieder das Chaos her; die Dichter der Gesellschaft singen und klagen, segnen und fluchen innerhalb der Weltordnung.“

Terroristische Anschläge sind jedoch niemals auch nur im Ansatz zur rechtfertigen, durch nichts auf der Welt. Wie Deniz Yücel in der „taz“ zu Recht schimpfte, gibt es im Blick auf Paris kein „aber“: Wer auch nur andeutet, die Karikaturen bei Charlie Hebdo seien in irgendeiner Weise mit Schuld an der Liquidation der Zeichner und Redakteure gewesen, ist definitiv nicht Charlie. Und wenn unmittelbar nach dem Massaker an zwölf Mitarbeitern der Satirezeitschrift bereits wieder Verschwörungstheorien in den sozialen Netzwerken und sogar in einer „seriösen“ Zeitung kursierten, hinter alledem stecke Israel, so ist das ein Charkteristikum des Antisemitismus unserer Tage, über dessen frühneuzeitliche Grundlagen der Leser bei Shakespeare immerhin einiges lernen kann. Gerade weil für eine wachsende Zahl von Menschen ,der Jude’ sowieso immer ,der Böse’ ist, der hinter allem Übel der Welt stecken soll, gibt es auch für derartige Verbrechen von Seiten der Presse keine Entschuldigung.  

Herzlich
Ihr
Jan Süselbeck