Zehn Minuten Gehör für Herrn Wendriner

Kurt Tucholskys „Herr Wendriner und das Lottchen“ in einer neuen Ausgabe

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Ignaz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter, Kaspar Hauser und manchmal auch als Kurt Tucholsky schrieb er in der „Weltbühne“ seine Meisterwerke der Stilkunst, des Humors und der Satire. Das waren seine „5 PS“, die selbständig ihr Eigenleben, ihr Eigenschaffen entfalteten. „Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? Dem Satiriker Ernst? Dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert. Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre“.

So charakterisierte Kurt Tucholsky in der Einleitung zu dem ersten, von Kurt Rowohlt herausgegebenen Sammelband seiner Schriften die vier Pseudonyme, die verschiedenen Rollen seines Metiers: Ignaz Wrobel ist der stachelige Satiriker, Peter Panter der Theaterkritiker, literarische Rezensent und Reiseschriftsteller, Theobald Tiger der Versemacher, Kaspar Hauser sieht eine Welt, die er nicht versteht.

Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser hat er von 1922 bis 1930 die Monologe des eifrigen, aber charakterlosen Geschäftsmannes Herrn Wendriner veröffentlicht, als Peter Panter schrieb er 1928 bis 1931 für die Vossische Zeitung die Geschichten um Lottchen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Rollenbildern suchte er eine Strategie zu entwickeln, die seiner Enttäuschung über die „Republik ohne Republikaner“ Ausdruck verlieh, die ihn politisch nach links tendieren und insbesondere Justiz und Militär der Weimarer Republik scharf angreifen ließ.

Peter Böthig und Carina Stewen, beide vom Kurt Tucholsky Museum Schloß Rheinsberg, lassen Herrn Wendriner und das Lottchen, die beiden Figuren Tucholskys, wieder zu uns sprechen und haben ihrer Ausgabe ein knappes, informatives Vorwort und den Briefwechsel zwischen Tucholsky und der Verlegerin Edith Jacobsohn zum Wendriner-Buchprojekt beigegeben, das damals nicht zustande kam. In den 17 Wendriner-Texten spricht dieser von Selbstbewusstsein nur so strotzende, seiner Umwelt verständnislos gegenüberstehende großbürgerliche Typus im Berlin der 1920er-Jahre unaufhörlich und lässt seine Gesprächspartner – mal ist das ein Geschäftspartner, die Ehefrau oder die Angestellten in seinem Büro – überhaupt nicht zu Wort kommen. Der Leser ist an deren Stelle getreten und übernimmt die Rolle des Zuhörers. Da der Gegenüber aber zum Schweigen verurteilt ist, gerinnen Wendriners Monologe zu rhetorischen Sprechblasen, substanzlosen Leerformeln, veräußerlichten Ritualen. Dass diese Figur Jude ist, sollte nicht zu einer Irritation führen. Sie steht zeittypisch für den Wertezerfall und die Veräußerlichung, die auf die grundlegenden Mechanismen jener Gesellschaft verweisen, der sich Wendriner zugehörig fühlt.

Herr Wendriner will mit einem Geschäftspartner telefonieren und teilt dem Fräulein vom Amt seine unausgegoren-desolate politische Gesinnung mit. Während der Verkäufer im Laden alle Hände voll zu tun hat, ihn zu bedienen, schwätzt er das Blaue vom Himmel herunter. Er gibt im Restaurant ein Muster der Inkonsequenz und Unbeständigkeit, wie man seine Kinder eben nicht erziehen soll, und fragt sich ungläubig: „Von wem hat der Junge das?“ Die Badefreuden an der Ostsee nutzt er – „nu, ich meine, man kann doch mal drüber reden“ ­–, um seinem Nachbarn zum Verkauf von dessen Grundstück zu überreden. Nach einer Abendgesellschaft führt er üble Nachrede über die geladenen Gäste und widerspricht sich dabei ständig selbst. Froh darüber, dass er die ganze Gesellschaft während der Ferien in Garmisch nicht mehr sehen muss, zählt er auf, wen er dort wiedertreffen wird – „so ist man wenigstens nicht verraten und verkauft, da unten“. Herr Wendriner gibt seine schnoddrigen Kommentare während der Beerdigung ab, beim Friseur, bei der Massage, im Büro am ersten Arbeitstag im neuen Jahr, nach einer Paris-Reise, beim Sonntagsessen in der Familie, während einer Theatervorstellung oder beim Diktieren einer vollmundigen Beschwerde über eine zu hohe Arztrechnung, die am Ende wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Er streitet ab, mit einer „Blondine“ in der Scala gesehen worden zu sein, und erzählt beim Unterschreiben der Geschäftspost genüsslich, wie er seine Frau nach Strich und Faden betrogen hat. Immer wird das Private mit dem Geschäftlichen vermischt, Gewinn und Verlust einkalkuliert.

Was sind das für Gedanken, die ihn am Einschlafen hindern? Bange Fragen, die Gesundheit, das Geschäft, die Politik, den Tod betreffend – „aber wenn ich tot bin, wern sie weinen“. Wirklich? Bei der Wochenschau mit den Nazi-Aufmärschen – „mit gedämpfter Stimme zu sprechen“ – äußert er seine ängstlich-beschwichtigende Bewunderung für die NS-Ordnung: „Also, Ordnung herrscht mal. Sowie Sie Staatsbürger sind und den gelben Schein haben, also Schutzbürger, passiert Ihnen nichts…darin sind sie konsequent“. Eine Konsequenz, die dann auch einen Herrn Wendriner zur Flucht aus Deutschland zwingen oder in ein KZ deportieren wird.

Sind die fiktionalen Wendriner-Monologe im Berliner Dialekt geschrieben? „Bevor ich berlinere, überlege ich es mir dreimal, und zweimal tue ichs nicht“, ließ Tucholsky wissen. Seine Wendriner-Texte sind weniger in einer Mundart als vielmehr in schwach dialektal gefärbter Umgangssprache verfasst.

Während Wendriner eine erfundene Figur, eine Warnfigur war (Tucholsky wollte als Illustration eine „große, böse Puppe“ haben), verbarg sich hinter Lottchen eine authentische Person, Tucholskys damalige Geliebte Lisa Matthias – sie war Journalistin und Modezeichnerin –, mit der er seine Frau Mary Gerold jahrelang betrog. Diese sinnenfrohe Frau übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den fünf Jahre Älteren aus, während er für sie der „Daddy“ war, und das weniger im erzieherischen Bereich, sondern in der Toleranz ihrer Geldnöte und Treuebrüche. Sie war nicht nur das Urbild seiner verspielten Lottchen-Geschichten, ihre kindhaft-atttraktive Weiblichkeit beherrschte auch ganz unverkennbar die Szenerie seines Romans „Schloß Gripsholm“ (1931), der auf die Reise mit Lisa Matthias nach Schweden zwei Jahre zuvor zurückgeht, auch wenn Tucholsky hier deren Spuren zu verwischen suchte. Sie war auch die einzige von Tucholskys Gefährtinnen, die über ihr Verhältnis mit ihm ein Buch veröffentlichte („Ich war Tucholskys Lottchen“, 1962).

In den Lottchen-Geschichten, die parallel zu den Wendriner-Monologen entstanden, ist weniger von einer „frech-frivolen Berliner Göre“ die Rede, wie im Vorwort geschrieben steht, sondern eher von einem verschwendungssüchtigen, oberflächlichen, aber durchaus praktisch veranlagten Lebedämchen, das ihrem „Daddy“ ziemlich die Hörner aufsetzt: Im Hotel, im Kino, bei der Beichte eines anderen Geliebten – „Daddy, ich habe ja für den Mann gar nichts empfunden – und er für mich auch nicht – das weißt du doch“ –, beim Bezahlen der weitreichenden Schulden durch den entsetzten Daddy, dem Lottchen entrüstet vorwirft: „Ich habe viel zu wenig Geld, und viel zu viel Herz. Und bei dir ist es eben umgekehrt. Ahoi –!“

Wohl mit Recht ist der Schöpfer der Wendriner- und Lottchen-Figuren als anregendster Soziologe der Weimarer Republik bezeichnet worden. An Gerechtigkeit und Ausgewogenheit des Urteils, an Sachverstand mögen ihn andere übertroffen haben. An Brillanz, Temperament und Treffsicherheit konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Er zog häufig genug psychologische Schlussfolgerungen, die ihre Aktualität hier und da bis heute bewahrt haben. Aber vor allem ist es der Stil Tucholskys, der sich durch seine Frische und Unverbrauchtheit auszeichnet.

Titelbild

Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen.
Herausgegeben von Carina Stewen und Peter Böthig.
vbb Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2014.
96 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783945256015

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