Die schockierende Menschlichkeit des Krieges

Swetlana Alexijewitschs dokumentarliterarisches Buch „Die letzten Zeugen“ über Kindheitserinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg

Von Ksenia GorbunovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Gorbunova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nadja, 7 Jahre: Ich habe so viele Bücher gelesen… Aber über den Krieg weiß ich heute nicht viel mehr als damals, als ich noch ein Kind war.

Zahllose Sachbücher sind über den Krieg geschrieben worden, zahllose Romane darüber erdacht und minder und mehr faktuale Biographien von Kriegszeugen veröffentlicht. Man kennt die wichtigsten Daten vielleicht noch aus der Schulzeit, man hat dem „Aufstieg des Bösen“ im Fernsehen zugeschaut, und dann sieht man noch in den Abendnachrichten, wie Politiker Stellung zum Kriegsgeschehen in irgendeinem fernen Land nehmen. Doch wie es in Swetlana Alexijewitschs dokumentarliterarischem Buch „Die letzten Zeugen“ heißt: „Die Welt ohne Krieg… Menschen, die nie gesehen haben, wie ein Mensch einen anderen tötet, das sind ganz andere Menschen…“. So bleibt für den gegenwärtigen deutschen Bürger nichts anderes, als entweder die Kriegszeitstrahlen anzusehen, aus denen der Faktualität wegen alles Menschliche destilliert ist, oder die Darstellung möglichst drastischer Verhaltensweisen zu lesen, denen das Menschliche aufgrund des Grauens abhandenkam. Dann kann man sentimental abwinken, zusammenfassend alles als „schrecklich“ beurteilen und meinen, damit sei alles gesagt. Auf die Frage, wie es sich im Krieg lebt, findet man nirgends so recht eine Antwort. Dass man im Krieg auch leben und nicht nur überleben kann, davon zeugen einige der Abschnitte aus Die letzten Zeugen. Ob Swetlana Alexijewitsch es jedoch gelungen ist, von dem Wie dieses Lebens zu berichten, könnte man gleichzeitig verneinen und bejahen.

Leonid, 6 Jahre: Nun habe ich es Ihnen erzählt… Und das ist alles? Alles, was von diesem Grauen geblieben ist? Ein paar Dutzend Worte….

Das Buch führt die Kriegs-Dokumentarreihe Die Stimmen der Utopie von Alexijewitsch fort. In den zwei zuvor erschienen Bänden wird das Leben der Frauen an der Front des Zweiten Weltkrieges thematisiert und von den Zinkjungen im Afghanistankrieg berichtet. In diesem Band kommen dank Alexijewitsch diejenigen zu Wort, die den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion im Kindesalter erlebt haben. Aus den Interviews, die die Autorin im Zeitraum von 1978 bis 2004 geführt hatte, sind Hundert und ein Mitschriftfragment in die aktualisierte Buchfassung eingegangen, diese ist im russischen Original 2008 erschienen und liegt seit 2014 im Hanser Berlin Verlag auch in deutscher Übersetzung vor. Vor jedem Abschnitt prangen in Kursivschrift Vor- und Nachnamen des Interviewpartners, das Alter, in dem er oder sie im ersten Kriegsjahr war, sowie der Beruf, den er oder sie derzeitig ausübt. Die Berufe sind breit gefächert, alle Sprossen auf der Karriereleiter sind vertreten, wirtschaftlich scheinen diese Menschen einwandfrei in die Gesellschaft eingegliedert.

Doch fängt man an, ihre Erinnerungen zu lesen – diese reichen mal als Bruchstücke über wenige Zeilen und mal über zehn Seiten in detaillierten Beschreibungen – beginnt man, zu zweifeln, ob ein Mensch, der als Kind mit solchen Erlebnissen konfrontiert worden ist, sich psychologisch ‚normal‘ weiterentwickeln kann. Dass es sich hierbei um Erinnerungen aus der lange zurückliegenden Kinderzeit handelt, die die menschliche Psyche zum Selbstschutz verdrängt, ist ein Aspekt, bei dem das Buch um Authentizität ringen muss. Immer wieder reflektieren Alexijewitschs Interviewpartner darauf, dass sie ihre Erinnerung verteidigen müssen, denn man wirft ihnen zum Einen vor, dass man als Kind ja noch nichts wirklich versteht, und zum Anderen, dass man sich unmöglich an alles aus den Kindertagen erinnern kann. Am stärksten empfinden diese Vorwürfe diejenigen, die im ersten Kriegsjahr nicht älter als vier Jahre alt waren. Alexijewitsch setzt jedoch bewusst zum Schluss mehrere Mitschriften aus Gesprächen mit denen, die während des Krieges oder sogar ein bis zwei Jahre nach ihm geboren sind, denn auch ihr Bewusstsein wurde vom Kriegsgeschehen geprägt.

Maria, 7 Jahre: …Ganz allein im Dorf. Überall lagen und hingen Tote. Wir hatten keine Angst vor den Toten, wir kannten sie ja alle.

Den Kindererinnerungen nach scheint der Krieg eine Universalsprache zu sprechen, die jedes Tier und jeder Säugling versteht: Wenn die Bombenflieger nahen, muss man sich verstecken, wenn fremde Soldaten ins Haus kommen, muss man still sein, wenn geschossen wird, sterben Leute. Das Gefühl von Angst und Gefahr ist ebenfalls für alle verständlich und graviert den Angstgegenstand tief ins Gedächtnis ein. Die subjektive Färbung, die jeder Interviewabschnitt trägt, wird ausgeglichen durch die Einheitlichkeit der Kinderschicksale zu Zeiten des Krieges: Evakuation, Leben im Kinderheim, Arbeit bei den Partisanen oder im Arbeitslager, Verlust der Eltern – im besten Fall irgendwo, wo die Kinder den gewaltsamen Tod nicht mitbekommen, meistens allerdings als Zeugen von Exekutionsprozessen, deren Einzelheiten man sich bei gesundem Menschenverstand nicht ausdenken kann –, Hunger, Tod, Barmherzigkeit. Ja, das Schockierendste, das Rührendste an Alexijewitschs Buch ist nicht die Grausamkeit. Von ihr liest man in jedem Kriegsbericht. Von der tiefen Menschlichkeit hingegen, die dann erwacht, wenn man gemeinsam an die Lebensgrenze getrieben wird, davon wird kaum gesprochen. Alexijewitschs Gesprächspartner erinnern sich: Fremde Menschen nehmen fremde Kinder bei sich auf, wenn sie sehen, dass die Kinder mit ihren Müttern in die KZs geführt werden, obwohl sie für die eigenen Kinder nicht genug zu essen haben. Verhungernde Kinder im Kinderheim geben deutschen Kriegsgefangenen ihre Brote ab, weil sie den Hunger in den Augen der Gefangenen verstehen. Frauen, deren Männer an der Front gefallen sind, pflegen deutsche Kriegsgefangene, auch wenn sie wissen, dass es ‚der Feind‘ ist. In der größten Not besinnt man sich vor allem auf das, was alle verbindet: das Menschsein. Freund, Feind, einerlei. Und es schockiert, dass zum Freilegen dieser Menschlichkeit offensichtlich der Krieg notwendig ist.

Valja, 12 Jahre: Unsere Berichte werden die letzten sein.

Das scheint Alexijewitschs Anliegen: der Appell an die Menschlichkeit. Sie versucht nicht den Kinderalltag im Krieg zu rekonstruieren. Das Buch dient nicht der informativen Wissensvermittlung, und auch wenn die sich Erinnernden wiederholt von den „bösen Deutschen in schwarzen Mänteln“ sprechen, geht es nicht darum, jemanden konkret zu verurteilen, sondern darum, zu hinterfragen, was für eine seltsame Welt die Menschen sich errichtet haben, in der solche Kindererinnerungen überhaupt möglich sind. „Statt eines Kommentars, für den der Autorin die Worte fehlen,“ verweist Alexijewitsch auf Dostojewskis Frage, ob es etwas in der Welt gäbe, Glück, Harmonie, etwas, im Namen dessen „nur eine einzige Träne eines unschuldigen Kindes“ rechtfertigt wäre. Dostojewski soll dies kategorisch verneint haben. Kein Krieg, keine Revolution soll schwerer wiegen als diese „eine einzige Träne.“ Alexijewitsch bietet ihren Lesern die Möglichkeit Dostojewskis Frage und Antwort anhand der zusammengetragenen Erinnerungen nachzuempfinden, und sie hinterlässt einen emotional aufgeladenen, ambivalenten Eindruck. Dieser ist wichtig, weil die noch lebenden Menschen, die im Zweiten Weltkrieg geborenen „letzten Zeugen,“ nun im hohen Rentenalter bald das Zeitliche segnen wird, und der Zweite Weltkrieg sich in die Ereignisse der Historie einreiht, über die man nur aus Büchern erfahren kann und nur das, was in diesen Büchern festgehalten ist. Ebenso bedeutsam ist dieses Buch, weil die darin beschriebenen Episoden exemplarisch für die Kindererlebnisse in jedem Krieg stehen können. Selbst wenn „die letzten Zeugen“ des Zweiten Weltkrieges verstummen, so gibt es leider Kinder, die von gegenwärtigen Kriegen berichten können. Das ist der Grund, weshalb es notwendig ist, dass dieses Buch international rezipiert und jedem zugängig sein sollte.

Ein Text verliert zwangsweise etwas durch die Übersetzung in eine andere Sprache. Die Vielfalt der unzähligen Verniedlichungssuffixe im Russischen, die vor allem beim Beschreiben von Kindererinnerungen zum Einsatz kommen, gehen im Deutschen verloren; mit den Ortsangaben wird die deutsche Leserschaft wenig anfangen können; und die Verweise auf Märchen und Volkslieder, die zum verbindenden Element zwischen den sowjetischen Kindern im Zweiten Weltkrieg und den russischsprachig aufwachsenden Kindern der Gegenwart werden, sind in Deutschland nicht bekannt. Auch wird es wohl „den letzten Zeugen“ von der deutschen Seite schmerzvoll sein, dass beim Erinnern andauernd von „den bösen Deutschen“ gesprochen wird. Alexijewitsch bestärkt allerdings eine nationsübergreifende Lesart des Buches, indem sie Menschen von unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturkreisen in der Sowjetunion aufgesucht hat. Besonders bemerkenswert ist hierbei die Erinnerung einer Roma. Sie erzählt davon, dass unter den Frauen, die ihre Männer von der Front erwarteten, das Wahrsagen ihrer Mutter sehr gefragt war und ihre Mutter die Sehertraditionen missachtete, da sie es nicht ertrug, den hoffenden Frauen Leidvolles zu prophezeien.

Wenn man also bereit ist von Nationen zu abstrahieren, was in Hinsicht des Zweiten Weltkrieges für die jetzige Generation längst an der Zeit ist, wird man dieses Buch zu schätzen wissen, als ein Buch darüber, was keinem Kind auf dieser Welt je widerfahren darf.

Marina, 4 Jahre: Die Nachbarstochter, drei Jahre und zwei Monate alt… Ich erinnere mich, wie ihre Mutter am Sarg immerzu sagte: „Drei Jahre und zwei Monate…“ Sie hatte eine „Zitrone“ gefunden, eine Granate. Und wiegte sie wie eine Puppe. Wickelte sie in Lumpen ein und wiegte sie. Die Granate war so klein wie ein Spielzeug, nur schwer. Die Mutter rannte los, schaffte es aber nicht mehr…

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 13.10.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Swetlana Alexijewitsch: Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag, Berlin 2014.
304 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246478

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