Postkoloniale Blütenlese eines Reisetagebuchs aus der Zeit des Herero-Aufstands

Martin Siefkes Auseinandersetzung mit den Aufzeichnungen des Urgroßvaters

Von Angela Lorenz-RidderbecksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Angela Lorenz-Ridderbecks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Siefkes „Sprache, Glaube und Macht“ von 2013 ist eine literaturwissenschaftlich angelegte Aufarbeitung der Tagebuchaufzeichnungen des Johannes Spiecker und gleichzeitig eine Form der Auseinandersetzung mit der eigenen familiären Vergangenheit. Sie behandelt Spiecker’s zweite Deutsch-Südwestafrika-Inspektionsreise im Auftrag der Rheinischen Missionsgesellschaft, die in den Jahren 1905-1907, also während des Herero-Nama-Aufstands, stattfindet.

Johannes Spiecker, seit 1908 Direktor der Rheinischen Mission, ist der Urgroßvater des Autors. Dessen Tochter, Elisabeth Spiecker, ist die Großmutter Siefkes und hilft ihm bei der Sichtung und Übersetzung des Manuskriptes, das sie bereits 1970 auf 700 Seiten abgetippt hatte und das Grundlage der vorliegenden Arbeit ist. Siefkes erläutert zu Beginn die familiären Zusammenhänge und beschreibt dann seine Motivation, die Tagebuchaufzeichnungen Spieckers vorrangig unter literaturwissenschaftlichen und nicht historischen Aspekten betrachten zu wollen: „Diese historische Perspektive wäre zweifellos interessant; sie würde hier jedoch dazu führen, dass nicht mehr das Tagebuch im Vordergrund steht, sondern eben die historische Situation“.

Es handelt sich demnach bei dieser Erarbeitung um eine Form der literarischen Familien-Denkmalspflege. Doch dieser Aspekt ist nicht ausreichend für die Betrachtung des Inhaltes. Siefkes Arbeit ermöglicht einerseits einen Blick auf einen bedeutenden Vertreter der Familie des Autors während des Herero-Nama-Aufstands, andererseits handelt es sich hier um eine literaturwissenschaftliche Aspekt-Analyse, die behauptet, nicht historische Narration sein zu wollen. Siefkes geht interdisziplinär an die Aufzeichnungen Spieckers heran, obwohl das wohl nicht in seiner Absicht liegt. Aber genau das macht den großen Reiz dieser Arbeit aus.

So weist Siefkes zunächst nach, dass es sich bei den vorliegenden Reiseberichten nicht um die literarisch reine Form von Reiseberichten, sondern um Tagebuchaufzeichnungen handelt, die als Reisetagebuch klassifiziert werden können. Des Weiteren bezieht er sich auf die textübergreifende Theorie des Postkolonialismus, mit deren Hilfe er Spieckers Aufzeichnungen in Abhängigkeit von dessen Missionsauftrag und der kolonial-hierarchischen Denkweise des eigenen sozialen und politischen Hintergrundes einordnet.

Im Folgenden behandelt Siefkes nun vorrangig die in den Aufzeichnungen enthaltenen historisch relevanten Aspekte wie etwa die Betrachtung der Kultur, Wirtschaft, Natur, des Alltagslebens in der Mission und die der politisch relevanten Funktion der Rheinischen Mission beziehungsweise der Kirchen als machtvollen Institutionen im Rahmen der deutschen Kolonialregierung. Hier ist dann nicht mehr unterscheidbar, ob es dem Autor um die sprachliche oder die historische Darstellung geht. Dabei fokussiert er auf die aggressive Siedlungs- beziehungsweise Ausbeutungspolitik und die im Tagebuch wahrnehmbaren rassistisch unterlegten, religiösen Konflikte mit den Herero, Nama, Juden und Muslimen. Darüber hinaus arbeitet er Spieckers feindliche Gesinnung gegenüber Nicht-Protestanten (etwa gegenüber Katholiken) heraus.

Siefkes untersucht zum Beispiel die protestantische Missionstätigkeit Spieckers unter dem Aspekt des ideologiekritischen Postkolonialismus und stellt fest, dass dessen Sichtweise des Christentums, dem kolonialen europäischen Überlegenheitswahn entsprechend, die moralische Minderwertigkeit von „Heiden“ begründet. Zwischenzeitlich hebt Siefkes an wenigen Stellen auch auf Aspekte des postkolonialen Diskurses (Verlangen, Begehren) ab.

Dennoch bleibt er auch in der weiteren Auseinandersetzung mit den Tagebuchaufzeichnungen auf vorwiegend historischem Terrain, nicht nur deshalb, weil er ständig den historischen Kontext beisteuern muss, damit der Leser versteht, worum es hier eigentlich geht. Dafür greift Siefkes weit in das 19. Jahrhundert aus, geht dabei auch auf die neutrale Haltung der Mission gegenüber den Buren ein, die den Einwohnern des Gebietes, dem Stamm der Nama, das Land wegnehmen. Dann erklärt er die Aufgabe der Rheinischen Mission unter Inspektor Spiecker gegenüber den Stämmen der Ovambo beziehungsweise Herero, die der Kolonialregierung mit der „Einbringung“ der Eingeborenen in „Sammelstellen“ (hier die ersten bekannten Konzentrationslager) zuarbeitet und diese „pazifiziert“. Damit entgehen diese so „konzentrierten“ Eingeborenen zunächst dem Plan der „gänzlichen Vernichtung“ durch die deutschen Militärs unter von Trotha, aber Spiecker äußert Bedenken. Er beschreibt, wie die Menschen in Gefangenschaft leben müssen, und dass sie schlecht versorgt sind. Er ahnt, dass „viele sterben werden“.

Die zwiespältige Position Inspektor Spieckers zum Kolonialsystem, zwischen Rechtfertigung und konkreter Beeinflussung, sichert diesem einerseits eine Machtposition im Rahmen der Kolonialregierung, lässt ihn aber auch die afrikanischen Gemeindemitglieder durch Eingaben in Schutz nehmen. Siefkes betont schließlich Spieckers zunehmend kritische Haltung gegenüber den Militärs. Spiecker verteidigt die Interessen der afrikanischen Einwohner, die zum großen Teil mit den Interessen der Mission übereinstimmen. Er spricht die mangelhafte Ernährung in den Konzentrationslagern in seinen Berichten aber zunächst nicht gezielt an und beschränkt sich häufig auf allgemeine Beschreibungen. Als das große Sterben aufgrund der unmenschlichen Politik gegenüber Nama und Herero Überhand nimmt, werden Spieckers Visitationsberichte deutlicher und er bittet für die Gefangenen um bessere Unterkünfte und Versorgung. Dennoch widersetzt er sich offensichtlich nicht konsequent, weil er darin nicht seine Aufgabe als Inspektor der Rheinischen Mission sieht. Diese widersprüchliche Haltung weist Siefkes nach, und versucht sie insbesondere zum Abschluss zu erklären.

Im Fazit verlässt Siefkes seine literaturwissenschaftliche Position fast völlig zugunsten der des Familien-Historikers und hebt auf Spieckers Charakterisierung als politische Vermittlungsperson im Hereroaufstand ab, die aufgrund ihrer christlich-missionierenden und gleichzeitig kolonialen Sichtweise aber blind bleibe für zentrale Widersprüche. Siefkes behauptet, dass dafür „die Macht der Ideologeme“ verantwortlich zeichne. Damit entschuldigt er letztlich die Haltung seines Urgroßvaters Johannes Spiecker gegenüber den für ihn offensichtlich bewusst völkermordenden Militärs. Wie ist das zu verstehen?

Siefkes versucht den Spagat zwischen Familiengeschichtsschreibung und wissenschaftlicher Studie. Das ist für den Leser nicht immer ganz einfach zu trennen, denn Siefkes geht ansatzweise wertend an die Aufzeichnungen des Urgroßvaters heran. Dies ist etwa im Zusammenhang der Betrachtung der typischen Missionstätigkeiten und bezogen auf geäußerte Glaubensfragen Spieckers der Fall. Während er sich an einigen Stellen betont von Aussagen Spieckers absetzt, wechselt er stellenweise in eine wie Verteidigung wirkende Erklärung der Spiecker’schen Haltung. Die Schlussbehauptung der Blindheit Spieckers zeugt möglicherweise ebenfalls von Betroffenheitssymptomatik gegenüber der eigenen Familiengeschichte. Man hat den Eindruck, dass hier ein Denkmal für Spiecker gesetzt werden soll.

Die Aufarbeitung der Aufzeichnungen ist insgesamt in einem gut lesbaren Stil geschrieben, logisch aufgebaut und nachvollziehbar, wenn man die eben genannten Einschränkungen berücksichtigt. Die thematische, nicht zeitlich-chronologische Strukturierung ist begründet durch den literaturwissenschaftlichen Ansatz und ermöglicht es, einfach mal zwischendurch weiter zu blättern und irgendwo wieder „einzusteigen“. Das kann aber auch verwirrend sein, wenn wesentliche informative Passagen ausgelassen werden, die einen Gesamtüberblick bieten. In gewisser Weise handelt es sich bei Siefkes Werk um eine Anthologie, eine Blütenlese zentraler Aussagen der Spiecker’schen Aufzeichnungen unter spezifischen, postkolonialen Aspekten. Darin liegt ihr ganz eigener Wert. Daneben könnte eine rein historische Untersuchung der Reisetagebücher ebenfalls sehr gewinnbringend sein und als Äquivalent dienen.

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Martin Siefkes: Sprache, Glaube und Macht. Die Aufzeichnungen des Johannes Spiecker in Deutsch-Südwestafrika zur Zeit des Herero-Nama-Aufstands.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2013.
202 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826051975

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