Lesenswertes aus dem Senegal

Abasse Ndiones Roman „Die Piroge“ handelt von der Bootsflucht nach Europa

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit über 25 Jahren schreibt Abasse Ndione nachts seine Romane, auf dem Ehebett sitzend, das Heft auf dem Schoß, ohne Schreibtisch und ohne Computer. Nur BIC-Kugelschreiber begleiten den literarischen Autodidakten, wie er in einem Interview verriet: Schwarz für die Niederschrift, Rot für die Korrekturen und Blau für die Endfassung. Der 1946 in einem Fischerdorf nahe Dakar geborene Senegalese, der als staatlich geprüfter Krankenpfleger im L’Hôpital Le Dantec von Dakar bis zu seiner Frühpensionierung arbeitete, widmet sich seit Anfang der achtziger Jahre ganz dem Schreiben.

Von Anfang an entpuppt sich Abasse Ndione als hervorragender Kenner der senegalesischen Gesellschaft, vor allem der Jugendkultur, und zugleich als begabter Erzähler mit besonderem Interesse für die Enttabuisierung brisanter Themen. Seine Prosa ist von einer doppelten kulturellen Verwurzelung geprägt, ein allgemeines Charakteristikum der senegalesischen Erzählliteratur. Seine Werke imaginiert er immer erst in Wolof, der Hauptlandessprache in Senegal, bevor er sie ins Französische überträgt. In seiner endgültigen Konfiguration ist folglich jeder Originaltext bereits eine (Selbst-)Übersetzung.

Es dauerte acht Jahre, bis sein erster Roman La vie en spirale (deutsch: „Das Leben in einer Spirale“) vom Verlag Nouvelles éditions africaines in Dakar zur Publikation angenommen wurde – zu explosiv war der ausgewählte Stoff. Die Veröffentlichung in Senegal erfolgte – auch dank eines Wechsels in der Führungsetage des Verlags – 1984 und 1988, in zwei Teilen. Zehn Jahre später kam die Aufnahme des Romans in die Série noire von Èditions Gallimard in Frankreich. Im Mittelpunkt seiner Debütprosa steht ein im damaligen Senegal weitgehend tabuisiertes Thema: der Konsum und der Handel von „yamba“ (Marihuana) durch arbeitslose Jugendliche, Polizeibeamten und Weißen. Das Buch, einer der größten Erfolge in der afrikanischen Literatur der letzten Jahrzehnte, wurde bald ein fester Bestandteil im Lehrprogramm der senegalesischen Gymnasien und Universitäten.

Sein zweiter Roman, Ramata (Gallimard 2000), ist ebenso eine literarische Verarbeitung der Realität im Senegal mit dem impliziten Ziel des Bewusstmachens und Bewussthaltens. Meisterhaft webt Ndione das Geflecht der Themen und Motive um die titelgebende Protagonistin herum zu einem realistischen Gesellschaftsbild; blindes Vertrauen in die spirituellen Führer, Kleinkriminalität, Korruption, Sexualität, Rache und Mord bilden zugleich die Zutaten für einen der gelungensten afrikanischen Kriminalromane.

Während die ersten zwei Bücher Ndiones bereits in italienischer und spanischer Übersetzung vorliegen, bringt der Transit-Verlag seinen dritten Roman, Mbëkë Mi. A l’assaut des vagues de l’Atlantique (Gallimard 2008), an das deutschsprachige Lesepublikum: Die Piroge (2014) ist ein bewegendes und zugleich mahnendes Prosastück mit höchstem Aktualitätsbezug, das die illegale Einwanderung nach Spanien zum ersten Mal aus afrikanischer Perspektive literarisch thematisiert.

Nicht mal acht Stunden war das Neue Jahr alt, als das erste Flüchtlingsboot aus Afrika am 1. Januar 2006 die spanische Insel Gran Canaria ansteuerte. In weniger als einem Monat folgten Dutzend weitere Boote mit jeweils 40 bis 80 Passagieren, und in den darauffolgenden Jahren wurden die Kanarischen Inseln vermehrt von afrikanischen Migranten und Flüchtlingen zum Ziel genommen. Die ‚Glücklicheren‘ von ihnen erreichten auf ihrer Flucht im Kampf mit den Wellen des Ozeans ihr Ziel. Dies war für viele Zurückgebliebenen ein klares Zeichen dafür, dass die Reise mit der Piroge, einem mitnichten hochseetauglichen Wasserfahrzeug, von den Küsten Senegals zu den Kanarischen Inseln als Zugang zu Spanien und somit zur Europäischen Union, „im Bereich des Möglichen“ lag. Was daraus folgte: „Der Weg zur beispiellosen Immigration von Tausenden jungen Afrikanern, die sogar in Friedenszeiten auf der Suche nach einer besseren Zukunft in Europa aus ihrem Land flüchten, war dadurch eröffnet“.

Das Motto, das Ndione seinem Buch voranstellt, stammt von der ehemaligen Kulturministerin Senegals, Penda Mbow, und zeugt zugleich von der kritischen Ausrichtung des Autors: „Die massive Auswanderung der Jugendlichen aus dem Senegal ist der Beweis für das Versagen der Politik. Es ist die größte Niederlage des Landes überhaupt.“

2006 war das vorerst letzte Fischereiabkommen der Europäischen Union mit dem Senegal ausgelaufen. Einheimische Kleinfischer und Zivilgesellschaft setzten sich damals massiv gegen eine Fortsetzung des Abkommens ein, denn erstens ging die Überfischung zu Lasten der einheimischen Bevölkerung, die den Fisch zum Überleben braucht, zweitens: Senegal verkaufte seine knappen Ressourcen billig, und drittens: die Ausgleichzahlungen flossen in Senegals Staatskasse und von dort weiter in private Taschen. Auch „Die Zeit“ berichtete 2012 von bestechlichen Ministern aus Senegal, die Fischereirechte an russische und chinesische Megatrawler auf Beutezug vor Afrika verkauften, um ihre Wahlkampagne zu finanzieren.

Ndiones Roman beginnt mit der realitätsnahen Darstellung einer Krisensituation: Die Erdnussmissernte und der durch die industrielle Fischerei verursachte Rückgang der Fischbestände führen dazu, dass die Bauern aus vier Dörfern im Landesinneren Senegals, die schon davor in größter Armut gelebt haben, vom Elend bedroht sind. Über vierzig Afrikaner, – darunter Männer, Jugendliche und eine Frau –, die teilweise noch nie das Meer und eine Piroge gesehen haben, wollen aus dem afrikanischen Elend fliehen.

Das Buch basiert, wie der Autor in einem Interview mit der senegalesischen Tageszeitung Le Soleil verriet, auf Zeugnisse dreier real existierender junger Männer. Es erzählt in einer schlichten und zugleich eindringlichen Sprache die Vorbereitungen, den Aufbruch und die hochriskante Überfahrt „ins lang ersehnte und schon immer erhoffte Eldorado“ Europas.

Im kinematografischen Stil werden die Protagonisten Kapitel um Kapitel eingeführt, und mit ihnen auch ihre kleinen und großen Träume. Umgerechnet etwa 600 Euro kostet es jeden der Passagiere, um mit der Piroge nach Europa zu fahren. Nach einer einwöchigen Bedenkzeit wird das benötigte Geld von Verwandten aus Europa überwiesen. Vor der mitternächtlichen Abfahrt werden Gebete verrichtet, den Anweisungen der Marabouts folgend werden Talismane umgehängt und angeblich Unglück bringende Schwimmwesten abgesetzt, Reisepässe werden verbrannt. Während der langen Überfahrt, auf der sich die Passagiere langsam kennenlernen, begeben sie sich in eine regelrechte Euphorie des Neuanfangs: „Sie waren im Geist in Europa angekommen“. Doch in der achten Nacht, kurz vor dem Ziel, bemächtigt sich der stürmende Ozean ihres kleinen Bootes. Glauben und Selbstbeherrschung, sonst dominierende Werte in der senegalesischen Dorfgemeinde, werden in diesen Extremzuständen über Bord geworfen; stattdessen ziehen Angst, Hunger, Durst, Kälte und Krankheit ein.

Auf kleinstem Raum entfaltet der Roman ein Drama im Kampf um Lebens- und Überlebenschancen junger Senegalesen. Hier spürt man ihre Ausweglosigkeit, die sie mit Menschen unterschiedlichster Herkunft auf dieser Erde teilen: von Vietnam über das Südchinesische Meer nach Malaysia, von Kuba und Haiti in die USA, von Afrika über den Atlantik und das Mittelmeer nach Europa, von Nordkorea über das Japanische Meer nach Südkorea, von Sri Lanka nach Australien – die Fluchtrouten der sogenannten „Boatpeople“ lassen sich weltweit kartieren.

Wenn nicht (nur) Beherrschen des poetischen Handwerks, sondern Relevanz ein Kriterium „großer“ Literatur ist, dann ist dieses schmale Bändchen ganz groß. Ndiones spannendes und lehrreiches Buch fordert den Leser heraus, es lässt ihn mitdenken und seine eigenen Schlüsse ziehen, und nimmt ihn zugleich buchstäblich mit ins Boot. Eindrucksvolle Bilder, die im Gedächtnis bleiben, gänzlich ohne Schnörkel und ohne falschen Pathos, kurzum: ein für uns Europäer unbedingt empfehlenswertes Buch.

Titelbild

Abasse Ndione: Die Piroge. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Margaret Millischer.
Transit Buchverlag, Berlin 2014.
98 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783887473068

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