Die raunende Sprache des Genie-Kultes

Ein Sammelband behandelt „Norbert Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der nur 83 Seiten umfassenden, 1911 erschienenen Dissertation des 23-jährigen Norbert von Hellingrath zu Hölderlins Pindarübertragungen sehen einige Forscher gleichsam ein Manifest, das die Ästhetik der europäischen Moderne ebenso beeinflusst hat wie die Philologie. Oder war es umgekehrt? Dieser Frage ist eine Gruppe von Germanisten auf einer Tagung in Marbach (23.-24. September 2011) nachgegangen, deren Ergebnisse nun in einem Sammelband vorliegen.

Bei seinen Archivrecherchen in der Königlichen Landesbibliothek Stuttgart im Jahre 1909, zu denen ihn wohl Karl Wolfskehl angeregt hatte, entdeckte der Student Hellingrath die bislang unbeachteten Pindarübertragungen Hölderlins, die dieser auch keineswegs zur Veröffentlichung vorgesehen hatte, sondern als „schriftliche Fixierung einer ganz hingegebenen und anstrengenden privaten Erforschung des Kunstcharakters, wie er sich zumal in der eigentümlichen Wortfolge und im Rhythmus der Vorstellungen ausprägt“ (Friedrich Beißner) und die recht eigentlich wohl als antiklassizistische Übung gedacht war. Seine Funde veröffentlichte Hellingrath 1910 in Stefan Georges „Blätter für die Kunst“. Bis dahin waren Hölderlins späte Schriften weitgehend als Ausdruck einer wahnhaften Gemütserkrankung abgetan worden. In seiner Dissertation versucht nun Hellingrath nachzuweisen, dass der sperrige Hölderlin’sche Spätstil auf ein bewusstes Nachempfinden des griechischen Originals zurückzuführen ist und keineswegs auf ein krankhaftes Unvermögen. In seinem Text, der auch selbst wegen der an George geschulten Kleinschreibung und der apodiktischen Tonlage nicht ganz leicht zu lesen ist (vgl. „digitalisat“ unter wikipedia:  Norbert von Hellingrath), postuliert Hellingrath nun einen Gegensatz zwischen zwei ästhetischen Positionen in der Dichtung, die er „harte und glatte fügung“ nennt und die „bekanntlich auf den Rhetoriker Dionysios von Halikarnassos“ zurückgehen. Während die Vertreter der glatten Fügung im Wort lediglich den Sinnträger sehen, und damit für Hellingrath auch keine wahren Dichter sind, sprechen die Vertreter der harten Fügung dem Wort eine eigene ästhetische Qualität zu, die den Sinn auch völlig unberücksichtigt lassen kann, negativ betrachtet das Gedicht zum reinen Wortgeklingel werden lassen. Damit eröffnete Hellingrath den wissenschaftlichen Zugang zum späten Hölderlin und kam gleichzeitig dem Formbewusstsein der zeitgenössischen Kunst entgegen.

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, Hellingraths Bemühungen um eine Eigengesetzlichkeit der Dichtersprache, sein „Konzept der Wortkunst“, das oben nur sehr vereinfacht umschrieben werden konnte, in den „literatur-, kunst- und ästhetikgeschichtlichen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts“ zu stellen. So werden in einer ersten Abteilung („Ästhetik, Kunsttheorie, Poetologie“) direkte oder auch indirekte Verbindungen zur russischen und zur europäischen Avantgarde bis hin zum Dadaismus sowie zum Kunstverständnis von Walter Benjamin und Stefan George hergestellt. Denn, so Aage A. Hansen-Löve in seinem Beitrag „Ein Russland der Dichter“: „Auch Georges Frühwerk operiert mit Verfahren der Verknappung, der Disjunktion von Satzgliedern und deren Inversion, die allesamt einer glatten Fließbewegung ebenso zuwiderlaufen wie einer problemlosen Eingängigkeit der Aussage.“

In einer weiteren Abteilung („Dichterische Konstellationen“) werden dichterische und biographische Konstellationen untersucht, etwa die Beziehungen Hellingraths zum George-Kreis, zu Rilke oder zu Hofmannsthal, allesamt Autoren, die Wesentliches zur sogenannten Sprachkrise um 1900 beitrugen, zu der Joachim Jacob in seinem Aufsatz feststellt: „Norbert von Hellingraths Dissertation […] gehört in diesen höchst lebendigen Diskussionszusammenhang über Wesen und Leistungsfähigkeit der Sprache und vor allem der poetischen Sprache.“  In einer dritten Abteilung („Philosophie und Wissenschaft“) werden Hellingraths Stellung und Leistung als Herausgeber der historisch-kritischen Hölderlin-Ausgabe beleuchtet. Den Schluss bildet eine Sammlung bisher unveröffentlichter Hellingrath-Dokumente, so etwa den Text seines Referates „Über Verlaineübertragungen von Stefan George“, das er 1907 im Seminar des Altgermanisten Friedrich von der Leyen hielt.

Norbert von Hellingrath wurde 1888 als Sohn eines Offiziers und der Angehörigen eines alten Fürstengeschlechts in München geboren. 1905 machte er dort sein Abitur am königlichen Theresiengymnasium. In seinem Abiturzeugnis erhielt er die Note „sehr gut“ in der deutschen Sprache, „gut“ im Griechischen und „genügend“ im Lateinischen und studierte Philologie und Philosophie. Seit je ist die Sinnübertragung ein Problem der Altphilologie und gehörte somit zum Metier des Studenten. Seinem Forschungsgegenstand Hölderlin konnte er indes in seiner Dissertation nur sehr mangelhafte Griechischkenntnisse konstatieren. Trotzdem stellt noch der spätere Hölderlin-Herausgeber Friedrich Beißner fest: „Pindars Kunstcharakter, den hohen Stil seiner Hymnen, hat Hölderlin trotz all der vielen philologischen Versehen und Unzulänglichkeiten im einzelnen, doch in einem höheren Verstande richtig erspürt.“

In diesen Worten ist noch deutlich die raunende Sprache des Genie-Kultes zu vernehmen, zu dem auch Hellingrath beigetragen hat und mit dem dann die sogenannten Hölderlin-Deutschen („Und zähle nicht die Toten“) in den Ersten Weltkrieg zogen. Hellingrath konnte sich begeistern für das Gerede vom „geheimen Deutschland“, wie es im George-Kreis gepflegt wurde. Er stand auch einer gewissen Volkstumsideologie nahe, wie er sie in seinem Vortrag „Hölderlin und die Deutschen“ vertrat, in dem er Hölderlin zum „deutschesten Dichter“ kürt. Kaum ein Beiträger des Bandes verschweigt Hellingraths Nähe zum Kreis um den faschistischen Münchner Verleger Bruckmann, dessen Ehefrau Elsa die Schwester von Hellingraths Mutter war und der Hitler den Zugang zur höheren Gesellschaft ermöglichte. Wie viele seiner Altersgenossen litt auch Hellingrath an einer Erfahrung der Moderne: der dissoziativen Gewalt, die von der Industriegesellschaft ausgeht und die einen irgendwie als höher eingestuften Gesamtzusammenhang zerriss. Rettung versprach lediglich die Kunst. Für den Kriegsfreiwilligen Hellingrath jedoch gab es keine Rettung vor der tödlichen Maschinerie. Am 14.12.1916 verlor er vor Verdun sein Leben.

Titelbild

Jürgen Brokoff / Joachim Jacob / Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
408 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313101

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