Ein Bruderzwist im Hause Ullstein

Stefan Großmanns „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“ ist mehr als ein Schlüsselroman

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der wie die Erfolgsautorin Vicky Baum aus Wien stammende Stefan Großmann gehört heute mit seinen Werken nicht mehr in die Riege der kanonisierten Autoren der Weimarer Republik. Selbst in namhaften Autoren-Lexika fehlt ein Eintrag zu Großmann. Dabei war der stets in politischen Zusammenhängen denkende und schreibende Großmann einer der wichtigsten, die sozialen und politischen Entwicklungen der sogenannten Stabilisierungsphase der Weimarer Republik  (1924–1929) kritisch begleitendenden Stimmen seiner Zeit. Zusammen mit Leopold Schwarzkopf gab er in den 1920er-Jahren die Wochenschrift „Das Tage-Buch“ heraus, die neben der „Weltbühne“ zu den wichtigsten linksrepublikanischen Zeitschriften gezählt wird.

Das Manuskript seines letzten Romans „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“ konnte Großmann – aus Deutschland vertrieben und nach Wien zurückgekehrt – noch vor seinem Tod am 3. Januar 1935 abschließen. Zu einer Publikation des Textes ist es aber bis zu der nun vorliegenden Ausgabe nicht gekommen. Das ist insofern verwunderlich, als der Text nicht nur als Schlüsselroman über die Vorgänge und Streitigkeiten im Ullstein-Verlag seit 1928 zu lesen ist und damit einen für die Presse- und Verlagsgeschichte in Deutschland seit Adolf Hitlers Wahl zum Reichskanzler symptomatischen Vorgang zum Thema hat. Großmanns letztes Werk ist auch ein hellsichtiger Gesellschafts- und Zeitroman über die Jahre der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik.

Dass ein Scheitern der jungen und ersten deutschen Republik von kritischen Köpfen wie Großmann zumindest als nicht unwahrscheinlich eingeschätzt werden musste, spiegelt sich in den Figuren und Figurenkonstellationen des Romans wider. Die Handlungsmotivationen und -maximen sowie die ideologischen Gesinnungen und Weltdeutungen vor allem auch der Nebenfiguren wie Jost Winkelhagen zeigen die Brüchigkeit eines politischen Systems vor allem auch aufgrund der Anfälligkeit seiner Bildungsschicht für rechtsnationales Gedankengut und entlarven das oberflächliche und wenig differenzierte Klischee von den Goldenen Zwanzigern. Schon Kurt Sontheimer hat 1974 in diesem Zusammenhang von einem „Produkt der selektiven Kulturgeschichte“ gesprochen. Im Spannungsfeld von künstlerisch-intellektueller Innovationskraft auf der einen Seite und den zahlreichen politischen und sozialen Verwerfungen auf der anderen zeichnet Großmann in seinem Roman ein realistisches, gleichwohl weitsichtiges Porträt der späten 1920er-Jahre. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen einer industriellen Massenkultur, sozialem Wohnungsbau und einem rapiden Anstieg der Arbeitslosenzahlen von etwa einer Million im September 1929 auf über vier Millionen nur zwei Jahre später werden im Text zwar nicht explizit erwähnt, lassen sich vom Leser aber erschließen und kommen in den einzelnen Perspektiven der Figuren zum Ausdruck.

Stilistisch und erzähltechnisch der Neuen Sachlichkeit verpflichtet, ohne tröge oder reine Dokumentation zu sein, korreliert Großmann die private Geschichte eines Bruder-Zwistes mit ihrer öffentlichen Dimension. Den fünf historischen Ullstein-Brüdern Rudolf, Franz, Hans, Louis Ferdinand und Hermann wird zwar ein fiktiver sechster Bruder hinzugefügt, die historischen Personen mit ihren jeweiligen Funktionen im Verlag bleiben aber auch in der fiktionalen Verfremdung als Kronstein-Brüder gut erkennbar. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Verlagspolitik und persönlicher Lebensführung bilden den Grundkonflikt zunächst zwischen Friedrich Kronstein (Franz Ullstein) und dem ältesten Bruder Philipp Kronstein (Rudolf Ullstein). Die Liebesgeschichte zwischen dem historischen Franz Ullstein und der aus einer reichen Frankfurter Bankiersfamilie stammenden Rosie Gräfenberg nimmt im Roman allerdings nur geringen Raum ein, wenngleich sich die Krise im Verlag zwischen den Brüdern von da an zuspitzte. Neben der hilfreichen Entschlüsselung und Deutung der einzelnen Figuren weist Erhard Schütz in seinem Vorwort bereits auf das Hauptthema des Romans hin und betont zurecht, dass „die bürgerlich-demokratischen Zeitungen eine unnötige Appeasement-Politik betrieben“  und „mit rechtslastigen Redakteuren“ kooperiert hätten.

Einige Romane des weitaus prominenteren Zeitgenossen von Stefan Großmann, Hans Fallada,  erlebten in den letzten Jahren eine Neuauflage und wurden von Kritik und Publikum als ebenso unterhaltsame wie lehrreiche und ästhetisch anspruchsvolle literarische Dokumente ihrer Zeit gefeiert. Es wäre auch Großmanns Roman zu wünschen, dass nach dieser erstmaligen Ausgabe seines letzten Werkes noch weitere Neuauflagen folgen. Der Ullstein-Roman verbindet große Unterhaltungskunst mit einem historischen Panorama ohne jemals plakativ oder tendenziös zu sein. Als Leser begleitet man die Figuren mit ihren Alltagssorgen, Ängsten und Hoffnungen, die unaufdringlich in ihrer psychologischen Schlüssigkeit erzählt werden. Das ist insofern bemerkenswert, als der Erzähler fast ausschließlich aus der Außenperspektive erzählt und nur selten das narratologische Mittel der internen Fokalisierung benutzt. Dennoch erhalten die Figuren eine Tiefenstruktur, was nicht zuletzt mit den klug strukturierten Handlungsverläufen zusammenhängt. Was dem Leser als historisches Wissen über die politisch unruhigen Jahre von 1930 bis 1933 bekannt ist, gewinnt in Großmanns Roman ein anschauliches Profil im Rahmen einer dokumentarisch-fiktiv angelegten Geschichte.

Titelbild

Stefan Großmann: Wir können warten oder Der Roman Ullstein.
Herausgegeben von Erhard Schütz.
vbb Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2014.
384 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783945256022

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