Die Praxis der Endlichkeit

Hermann Kinders berührend-ehrliche Erzählung „Der Weg allen Fleisches“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sterben mag ich nicht. Das ist das Letzte, was ich tun werde.“ Dieses Bonmot des italienischen Schauspielers Roberto Benigni beschließt als Zitat Hermann Kinders jüngste Erzählung „Der Weg allen Fleisches“. An deren Beginn setzt der 70-jährige Autor, der bis vor ein paar Jahren an der Universität Konstanz Literaturwissenschaft gelehrt hat, als Motto eine Erkenntnis von Martin Walser: „Es gibt keinen schrecklicheren Unterschied als den zwischen einem Kranken und einem Gesunden“.

Wer nun glaubt, dass zwischen diesen beiden lakonischen Pointen eine unaufhaltsame Verfallsgeschichte erzählt wird, greift zu kurz. Denn Kinders dreiteilige Erzählung beschreibt zwar ebenso eindrücklich-direkt wie beklemmend-ehrlich eine zunehmende Krankheitsgeschichte, die vom „Du stirbst in Stücken“, wie der erste Teil überschrieben ist, in zunehmendem Tempo zu jener Erkenntnis führt, dass „die Endlichkeit“ langsam „aus dem Bereich des Gedankens in die Praxis“ tritt. Sie zeigt aber auch Momente des Innehaltens, des kurzen Glücks: „Er kann wieder duschen, erst auf dem Badestuhl, dann stehend, ein kleines Glück, mit einem fett gepolsterten Badeschuh, die Ellenbogen ausgestellt zur Sicherheit, falls er fiele. Dann sitzt er wieder auf dem Badestuhl und muss lachen, weil er wieder vergessen hat, dass er nur an einem Fuß die Fußnägel zu schneiden braucht.“

Dabei fängt es eher harmlos an: Eben noch rennradgestählt, „das Gemächt eingekugelt“, auf Touren in die Schweiz, im Hügelland rund um den See und zugleich Mitleid empfindend mit einem älteren Mann, einer „Erinnerungsmumie“, die von früheren Radtouren lebt, wird plötzlich der Atem kürzer: „Er hechelte heiß. Es gelang ihm nicht mehr, die Pedale nach unten zu drücken.“

Es folgt alsbald die Diagnose „Lungenemphysem“. Der einst sportliche Rennradler „war nicht einmal mehr für die rüstigen Rudelsenioren auf dem Bodenseeradrundweg ein Konkurrent.“ Doch dabei bleibt es nicht. Es folgt ein Herzinfarkt, Bypass-OPs und weitere Schmerzen, ein „unklares Blutbild“, bis feststeht: „Er litt an Morbus Wegener, einer Autoimmunkrankheit, die zuerst die kleinen Blutgefäße zerstört und dann vielleicht Organ nach Organ, den ganzen Menschen. Vielleicht waren seine sich rapide beschleunigenden Krankheiten, auch die, die er jetzt aber noch nicht ahnte, eine Folge des Morbus.“

Nach zahlreichen Klinikaufenthalten und einer teilweisen Amputation eines Fußes sind für ihn „die Erzählungen der Zimmerkameraden“, sein Leben, indem er so „Reisen um die Welt und in fremde Biographien“ macht. Im Mittelteil der kurzen Erzählung, unter dem Wolfgang Schäuble-Satz „Im Traum bin ich Fußgänger“, wechselt Kinder die Perspektive. Es ist das Traumprotokoll eines „Ich“, das zwischen Afrika, Konstanz, Basel und Italien, zwischen dem Schwarzwald und dem Ruhrgebiet Angstvolles und Unerklärliches notiert. Kinder zeigt ein Ich, das Verstörendes oder Peinvolles zwischen Lurchi-Heften, Seminaren und Enzensberger-Begegnungen erleidet.

Im dritten Teil, unter der Überschrift „Als ob ich noch wandern könnte“, muss – wiederum – „er“ sich mühsam seinen Platz im Alltag Stück für Stück zurückerkämpfen und notiert sarkastisch: „Er sagt zum Augenblick: Verweile doch bevor alles viel schlimmer wird.“ Doch bleibt er „immer in Erwartung des Unabsehbaren“, wie der letzte Satz der Erzählung lautet.

Die zwölf farbigen Cartoons aus der Hand Kinders verstärken den Eindruck des Schonungslosen, des Mitleidslosen dieses präzisen Textes. So ist Hermann Kinder, der mit Romanen wie „Der Schleiftrog“ (1977), „Vom Schweinemut der Zeit“ (1980), „Der helle Wahn“ (1981), „Mein Melaten“ (2006) und Texten wie „Du musst nur die Laufrichtung ändern“ (1978), „Kina, Kina“ (1988), „Die Böhmischen Schwestern“ (1990), „Um Leben und Tod“ (1997) oder „Himmelhohes Krähengeschrei“ (2000) und Anthologien wie „Die klassische Sau. Handbuch der literarischen Hocherotik“ (1986) oder zuletzt mit der wunderbaren Berthold Auerbach-Dialogcollage „Fast eine Weltberühmtheit“ seine Tonlagen zwischen kunstvoller Poesie, hintergründigem Humor, aber auch traurig-melancholisch und sarkastisch-bitter changieren kann, mit „Der Weg allen Fleisches“ ein gleichermaßen ehrliches wie ergreifendes Stück Literatur gelungen. Frei von aller Larmoyanz, frei von allem Pathos geht Kinders Krankheits-Erzählung unter die Haut. Sie macht nachdenklich und zugleich dankbar, dass sich dieser „Ernüchterungsdichter“, wie Karl-Heinz Ott in der von Christof Hamann und Siegmund Kopitzki 2008 bei Isele herausgegeben Kinder-Festschrift sagt, seine Erzählung vermutlich im wahrsten Sinne abgerungen hat. Chapeau für einen, der, wie Aleida Assmann in der Festschrift zu Recht festhält, beeindruckt mit der „Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Prägnanz und Präzision seiner Sätze“.

Titelbild

Hermann Kinder: Der Weg allen Fleisches. Erzählung.
Weissbooks, Frankfurt, M. 2014.
139 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783863370770

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