„In göttlicher lautmalerei“ – „ohne zwang allein mit der überzeugungskraft von worten“

Schrotts Musen-Genesis in seiner Übersetzung von Hesiods „Theogonie“

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So übersetzt Schrott „mit unsterblicher Stimme“ (Vers 43 aus Hesiods Theogonie in der Voß-Übersetzung) und „sonder Bemühn, zuredend mit sanft einnehmenden Worten“. So wie Hesiod in der Theogonie darlegt, wie die Götter entstanden seien, erläutert Schrott die Herkunft der Musen, die Hesiod erst – nach eigener Auskunft – das Wissen über die Götter eingaben. Schrott geht damit ganz an den Anfang zurück, in die Sphäre der absoluten Genesis, an die Quelle des Schöpferischen und Dichterischen per se. Während Hesiods Antwort bezüglich der Entstehung der Götter für uns Moderne eher nebensächlich bzw. akademisch erscheint, ist Schrotts Frage unmittelbar spannend. Seine als Antwort herangezogenen Quellen locken durch Exotik und Interkulturalität.

Darf man sich an Raoul Schrotts Antiken-Übersetzung und Interpretation nur aus altphilologischer Perspektive heranwagen? Ist der historisch-kritische Blick der einzig mögliche? Die Antike als Traditionsgut nur ein Weiheort? Oder ist Begeisterung für die orientalischen, anti-klassizistischen Perspektiven in der Tradition Friedrich Hölderlins, Friedrich Nietzsches, Martin Heideggers, Hannah Arendts, Peter Szondis, Michael Köhlmeiers erlaubt? Kam nicht auch Europa als schöne Königstochter aus einer phönizischen Hochkultur des Alphabets – und damit der Literalität, der Neugier und der Sehnsucht nach etwas Anderem mächtig? Müssen sich zwei Blickrichtungen ausschließen, ist das Phänomen des Griechischen nicht so vielgestaltig, dass es Verschiedenes bedeuten kann, beleuchten muss?

Ugarit-Forschung: Welche Sensation war es, als ca. 1980 am weltweit größten und wahrscheinlich liberalsten Fachbereich für Katholische Theologie, nämlich dem an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, am Lehrstuhl Professor Dr. Erich Zengers (1939-2010), Altes Testament, mit dem Fachbereich Altorientalistik (heute Institut für Altorientalische Philologie und Vorderasiatische Altertumskunde) mit Frau Professor Dr. Ruth Mayer-Opificius ein Blockseminar zum Thema „Genesis-Deutung durch Rollsiegel: Vom Schöpfungsauftrag des Beherrschens zu dem des Behütens“ angeboten wurde, um zu zeigen, in welchem Kontext das erste Buch des Erste[n] Testament[es] (E. Zenger, 1991) oder der Hebräischen Bibel steht. Die ethische Kernbotschaft der jüdisch-christlichen Religion, das Gebot der Liebe, wurde plötzlich aus der Hirtenkultur des Alten Orients entwickelt: Der Gestus, einen Fuß auf ein Schaf oder einen Sklaven zu stellen, heißt nicht Unterdrückung, sondern Schutz durch leibliches Abgrenzen gegenüber einem bedrohlichen Außen, ‚Unter Schutz‘-Gestelltsein im wörtlichen Sinne. Erich Zenger zeigte in seinem Werk Der Gott der Bibel (1979) wie schon Othmar Keel (Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, 1972), dass „die Vorstellungswelt eines biblischen Buches systematisch mit derjenigen der altorientalischen Ikonographie zu vergleichen“ ist, einen „Sitz im Leben“ hat, dass der altorientalische Kontext der alttestamentlichen Texte sie hermeneutisch veranschaulicht.

Die Gottesbilder des Ersten Testamentes sind in Abgrenzung von der altorientalischen Umwelt herausgebildet, nehmen aber Strukturen der Gegentexte auf: Der Gott der Bibel spricht im Plural, regiert auf Bergen als Versammlungsorten, hat weibliche Züge, schwankt zwischen Arroganz und Demut. Wie die beiden Paradiesbäume des Buches Genesis kaum ineinander- und auseinanderzudenken sind in ihrer Komplexität, verwiesen sie doch auf die Doppelung von Perspektiven in einer Gegend, der Wiege der Menschheit. Dort gab es stets Paare und Dualismus, zwischen Männlichem und Weiblichem wie zwischen Unsterblichen und Sterblichen. Auf den Anfang kommt es an und dieser ist offensichtlich nicht aus einer Quelle zu erklären, sondern immer mindestens aus zweien.

Münster kann seit 45 Jahren als besonders befruchtender Ort für das Anliegen Schrotts gelten. Mit Ruth Mayer-Opificius (1928-2006) lehrte seit 1970 eine Altorientalistin auf einem gerade geschaffenen Lehrstuhl, 1969 begründete Oswald Loretz (1928-2014) zusammen mit Manfried Dietrich und Kurt Bergerhoff die Reihe „Alter Orient und Altes Testament“ (AOAT) als international renommiertes Publikationsorgan im Schnittfeld zwischen Altorientalistik und alttestamentlicher Wissenschaft, im gleichen Jahr auch die „Ugarit-Forschungen“ (UF); Loretz entwickelte ein neues Zitationssystem für die keilschriftlichen Texte aus Ugarit (KTU).

Heute ist schon im Religionsunterricht der Sekundarstufe I Standard, dass die babylonischen Schöpfungsgeschichten, Gilgamesch-Epos und Enuma Elisch, als Bezugstexte der biblischen Genesis-Mythen gelesen werden. Sollte nicht auch die Altphilologie bereit sein, den Hinweis im Kleinen Pauly (1975) zu Hesiods Theogonie aufzunehmen: „Diese Mythen haben eine Reihe völkerkundlicher Parallelen […] und zeigt Berührungen mit Mythen altoriental. Völker […], die als bloße Spontanparallelen nicht zu erklären sind“?

Der von Schrott aufgezeigte „Kulturtransfer“ aus dem Orient („Transmission“, „Translatio“ von Ost nach West) bedeutet konkret: assyrische (die babylonischen Weltschöpfungs-Epen Gilgamesch, Enuma Elisch, Nord-Mesopotamien, heute Nord-Irak), hethitische und späthethitisch=kilikisch-luwische (die heutigen türkischen Provinzen Adana und Mersin, Anatolien) sowie ugaritische Texte (Baal-Zyklus, heute Nordsyrien), wobei die beiden letzteren als syro-anatolisch zusammengefasst werden. Ziel ist Böotien, die in der Antike nach den dortigen Rinderweiden benannte Landschaft im südöstlichen Mittel-Griechenland, mit den drei Bergen Parnassos mit dem Orakel von Delphi, Helikon mit dem Musental bei Askra, Hesiods Geburtsort, und Kithairon als Nymphenort bei Eleutherai, vorgelagert die Insel Euboia mit dem Olympos und der Hafenstadt Chalkis als Aufführungsort der Theogonie um 700 v. Chr. Die griechische Kultur wird damit, durch die „Ethnogenese“ aus der Fremde hergeleitet, oft eher als historische Tiefe denn als geographische Ferne verschleiert. Hesiods Theogonie ist „die Aufnahme fremder Götter in Griechenland“ – was zeigt sich an Xenophobie, wenn dies als Skandal empfunden wird?

Ein Interesse an Archäologie und an den sinnlichen Erfahrungen von Ursprungsorten, Ausgangspunkten und fruchtbaren Gegenden macht Schrotts Gesamtwerk aus. Seine Übersetzung des Euripides-Dramas Bakchen. Nach Euripides (1999) verpflichtet ihn auf die Bereitschaft zum ‚Liebenden Streit‘ (Hölderlin), zur Rezeptions-Freiheit und Phantasie des Modernen, ohne vordergründige Aktualisierungsabsicht; er ist seither einer, der Feuer legt, ein Feuerkopf, bereit für die Auseinandersetzung. Die schon für diese Übersetzungsleistung gewählten Attribute „nah und fern zugleich“ weisen auf Hölderlins Antiken-Vorstellung und -Übersetzungs-Gestaltung und bedingen erweiternde Eigenschaftsbeschreibungen wie ‚genial’, ‚unbefangen’, ‚zeitgemäß’, aber vor allem ‚getragen durch poetische Inspiration’ und dadurch in der Rezeption poetisch inspirierend bzw. inspirierend poetisch.

Genauso wie Hölderlin 1804 seinen Sophokles-Übersetzungen „Anmerkungen“ beigibt, umfasst Schrotts Veröffentlichung 40 Seiten Übersetzung im Verhältnis zu 62 Seiten Erläuterungen plus den wichtigen Materialien: 4 Seiten Karten sowie das Buch-Cover mit dem Götterpaar.

Schrott nennt sein Verfahren „das etymologisch-poetische Prinzip“ und die Etymologie eine „rhetorische Strategie“. Er ist von Haus aus Lyriker, geht aus von der Sprache, sowohl als Sprachmaterial in Schriftzeichen als auch als Stimme, Lautlichkeit, Materialität des Musikalischen, Rhythmischen, Auditiven („in göttlicher Lautmalerei“). Die Angleichungen zwischen verschiedenen Sprachsystemen erklärt er mit dem linguistischen Fachbegriff der „Calque“. Daneben wählt Schrott die Methode des „versteckten Transkripts“, wenn er hinter den Namen, die als sprechende Namen bedeutungstragend sind, Mythen entdeckt, die eben eher geographisch als historisch fassbar sind. Die Bedeutung lokal gebundener, fester Traditionen ist allerdings als Verlust von Ortskenntnissen ein Kulturverlust.

Ob aber alle Becher-Mythen auf den Gralsmythos um Baal zurückzuführen sind, ist die Frage. Bei Schrott wird nicht gefragt, ob zwischen strukturalistischen Mythentypisierungen nach archaischen Topoi in interkulturellen Archetypen, altorientalischen Parallelismen und Mythensynkretismen bestimmter Spätzeiten mit Amalgamieren und Assimilationsdynamiken unterschieden werden könnte. In jedem Fall ist die Arbeit am Mythos spannend, vor allem unter der These, die aus der Vergangenheit in die Zukunft weisen dürfte: Poesie ist hier politische Praxis in Pluralität, eine Erzählgemeinschaft, die mit Hannah Arendt als narrativistische Wendung politischer Theorie benannt werden kann.

Neben dem Ausgangspunkt der Sprache liest Schrott die Texte als lebensweltlich integriert in gemeinschafts- und verständigungsorientierte Rituale und Kulte, also als Lebenskunst, und nicht abseitig-abgehoben, gleichsam im Bereich einer esoterischen Kunstreligion, sondern in einem weltlichen Handlungszusammenhang. Der Dichtername Hesiod, der bisher als „Gesang-von sich-Geber“ gedeutet wurde, heißt, nach dem Hethitisch-Akkadischen, Gelehrter und Weiser (Calque aus Hasi(s)-atu). So muss auch der Eröffnungsvers „Mit den helikonischen Musen lasst uns beginnen zu singen (griech. aeido)“ neu übersetzt werden, Singen heißt eine Schöpfungsgeschichte erzählen, Fremde(s) in einem Ritus integrieren, Feiern mit Libationen und anderen Liturgien und Zeremonien: „Lasst uns die Feier der helikonischen Musen anstimmen“. Die Nähe zu Hölderlins Friedensfeier ist indirekt präsent; wenn vom Göttlichen gesprochen wird, so ist dies jetzt das Menschliche mit Gemeingeist. Auch der Dichterberuf ändert sich, er singt nicht mehr vom Fremden, sondern vom Eigenen, von sich im Kreis seines Publikums.

Die Musen oder die Muse repräsentieren diesen Wandel. Die Zwiegöttin bzw. Dyade Hepat-Musuni bildet mit ihrem Kreis (kaluti, konkret repräsentiert in Berg-Statuen) den Ursprung, wird aber in der Gräzisierung zu Hekate (bzw. Mnemosyne, Harmonia oder Themis) und den Musen auseinanderdividiert bzw. nach Schrotts eingängiger Formulierung: „die Muse wird sich verflachen und vervielfachen, um zuletzt nur mehr über einzelne Künste zu wachen“. Sie residiert ursprünglich auf einem Bergmassiv namens Jebel al Aqra mit einem gegenüberliegenden Bergplateau namens Jebel Musa nördlich von Ugarit, zwei Spitzen mit den Namen Saphon und Nani, hethitisch als Berggötter Hazzi und Namni; daraus wurde der Musenberg Helikon wie der Parnass und der Olymp, alle ohne geographischen Anhalt als zweigipflig beschrieben. Der Berg ist weniger Bergname als Konzept – und dann später verblasst zum Topos – eines Göttersitzes, einer Götterversammlung, Versammlungsort im Sinne einer Selbstverwaltung auf Emporien, gemeinsam beratend und verwaltend nach Prinzipien, die auf demokratische Formen der griechischen Polis vorverweisen oder sie eben auch inspiriert haben könnten, gekennzeichnet als sitzende Anwesenheit im Kreis, eine Fundierung der Ästhetik der Musen in einer kommunikativen Ethik.

Durch Schrotts Zugang gewinnt das Phänomen des Weiblichen eine erstaunliche Neupositionierung aus ältesten Quellen. Die Musen sind keine manieriert-ästhetizistisch zarten Luftgestalten (einerseits keine „Engel“, aber auch keine lunar-magischen Dämonen) mit ephemeren, peripheren, marginalen, luftigen Botschaften (wie in einem esoterischen „Traum“), sondern handfeste Hüterinnen des Rechts, des Logos. Die Muse ist per se das heißt per altorientalischer Herkunft, „die Ordnende, Fügende, Befehlende, Richtende, Gerechte“, repräsentiert das Wahre und die Treue. Dadurch wird das ‚gängige, anachronistische Musenbild‘ demontiert und gleichzeitig ein würdigeres Frauenbild begründet. Das Götterpaar des Männlichen und des Weiblichen weist in seiner Komplementarität auf das Menschenpaar Adam und Eva als poetische und politische Aufgabe bis heute.

Die Fehler allerdings sind und bleiben ärgerlich, Fehlschreibungen, Fehlverweise, fehlende Verweise, nicht systematische Zitierweisen. Jedem Leser/jeder Leserin steht es frei, Schrotts schon 1997 veröffentlichte und 2000 neu durchgesehene Ausgabe Die Musen hinzuzuziehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Raoul Schrott: Hesiod. Theogonie.
Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott.
Raoul Schrott.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
224 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783446246157

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