„Was machst du da eigentlich?“

Überlegungen zu Sinn und Form von Literatur-Videoblogs am Beispiel von „Herbert liest!“

Von Herbert GrieshopRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Grieshop

Der Titel des  Kolloquiums „Das Ende der Literaturkritik?“ bedient einerseits, wie wir heute gelernt haben, einen uralten Topos, reagiert andererseits aber auch auf eine Mischung aus Sorgen und Ängsten, deren Aktualität nicht von der Hand zu weisen ist. Im Angesicht dieser endzeitstimmungsgefärbten Überschrift drängen sich mir als Blogger einige Fragen in Hinblick auf mein Metier auf:

Ist das überhaupt noch Literaturkritik, was da auf diesen vielen Hunderten von Blogs und interaktiven Netz-Plattformen passiert? Kümmern sich all diese Hobby-Literaturkritiker überhaupt noch um ästhetisch-kritische und theoretische Fragestellungen?

Und wie steht’s mit Sach- und Fachkenntnis? Geht es Bloggern um den Kontext eines Romans und seine Einordnung in das Gesamtwerk des Autors oder sorgen sie sich vor allem um ihr Selbstbild und die Reaktionen anderer Blogger?

Hämisch formuliert könnte die Frage auch lauten: Sind das alles verhinderte Literaturkritiker, die es nur nicht bis zur Zeitung geschafft haben?

Und vielleicht verbirgt sich auch eine ängstliche Frage hinter dem Titel: Sind Blogger die Zukunft und ist die traditionelle Literaturkritik von gestern?

Bevor ich versuche, solche und ähnliche Fragen zu beantworten, muss ich etwas Erwartungsmanagement betreiben, was meine Rolle auf dem Kolloquium angeht. Ich videoblogge zwar munter vor mich hin, bin aber nur mäßig technikaffin, habe keinen Twitter-Account und als ausgebildeter Literaturwissenschaftler, der der traditionellen Literaturkritik in der Tageszeitung sehr zugeneigt ist, bin ich einer der größten Zeitungs- und Feuilletonjunkies, den sie hier im Raum finden. Kurz, Sie sollten nicht glauben, dass ich der Sascha Lobo der Literaturkritik im Netz sei oder wüsste, was die vielen Blogger im Netz bewegt; ich schreibe viel mehr aus einer sehr subjektiven Perspektive heraus.

Vorab möchte ich Ihnen ganz kurz die Entstehung unseres Video-Blogs vorstellen: Die erste Folge von „Herbert liest. Dein literarischer Eskortservice“ erschien vor ziemlich genau drei Jahren. Und ich sage „unser“ Blog, weil wir eigentlich zwei sind. Ich erhielt eines Abends aus heiterem Himmel einen Anruf von einer guten Freundin. Sonja Praxl, eine ausgebildete Fernsehjournalistin, die lange erfolgreich als Redakteurin für Talkshows gearbeitet hat und gerade dabei war, sich erfolgreich als Produzentin von Buchtrailern neu zu erfinden, sagte etwa Folgendes: „Weißt du, ich recherchiere gerade so rum und ich finde im Netz keine Plattform bzw. keine Person, die mir gute Bücher persönlich empfiehlt und der ich auch vertraue. Und im Fernsehen läuft der Denis Scheck viel zu spät und überhaupt schaue ich auch immer weniger fern. Hast du nicht Lust, so etwas zu machen?“

Und dann habe ich einfach ja gesagt, bin eine Woche später mit 4 Büchern nach Hamburg gefahren und hab mich in Sonjas Küche gesetzt und in die Kamera geplaudert. Die Resonanz auf die erste Folge war sehr positiv. Allerdings haben sich erstaunlich viele Leute besonders für den alten 70er Jahre-Toaster interessiert, der im Hintergrund in der Küche zu sehen war. Wir haben aber auch positive Reaktionen auf den Inhalt des Blogs bekommen und dann peu a peu das Konzept weiterentwickelt. Inzwischen haben wir für unseren Videoblog – rechnet man Facebook, Youtube und Blog zusammen – insgesamt 1700 Follower, was ja eher überschaubar ist, aber dazu führt, dass die Folgen im Lauf der Zeit von ca. ebenso vielen Personen geschaut werden.

Die folgenden Beobachtungen speisen sich vor allem aus der Erfahrung mit unserem Blog. Aber ich denke, dass sich daraus auch verallgemeinerbare Erkenntnisse ableiten lassen. Ich habe sie in 10 thesenartige Beobachtungen gegliedert.

1. So viele Möglichkeiten, so wenig Orientierung!

Stefan Mesch, einer der renommiertesten Blogger im Kulturbereich, hat vor drei Jahren einen anregenden und klugen Essay geschrieben mit dem Titel „Futter für die Bestie. 528 Wege zum nächsten guten Buch“.

Darin geht er systematisch der Frage nach, wie man für sich und seine Freunde das richtige Buch findet. Und er hat dabei – nicht ganz überraschend – festgestellt, dass es den einen einfachen Algorithmus nicht gibt. Sein Traum wäre es, in eine Datenbank einzufüttern, was man bislang gut gefunden hat, um dann die entsprechenden Empfehlungen für die nächste Lektüre zu bekommen. Amazon versucht das zwar mit seinem Empfehlungsmodus schon, aber dieses Verfahren führt häufig zu phantastisch unpassenden Ergebnissen.

Für die Vorbereitung meines Vortrags heute habe ich die Frage von Mesch auch auf meinem Blog gestellt und meine Freunde bei Abendessen und Partys mit der Frage gequält: „Wie kommt ihr eigentlich zu den Romanen, die ihr so lest?“ Die Antworten waren so vielfältig wie die Leser. Aber was alle Antworten gemein hatten, war die Tatsache, dass mindestens drei oder vier, im Einzelfall auch 10 verschiedene Informationskanäle genannt wurden.

Wenn die vielleicht 30 oder 40 von mir gesammelten Äußerungen in irgendeiner Form repräsentativ sind, dann sind a) Empfehlungen und Geschenke von Freunden, b) Stöbern und Beratung in Buchhandlungen sowie c) auch Blogs besonders wichtig. Die häufige Erwähnung von Blogs ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass auf einem Blog gefragt wurde und blogaffine Menschen geantwortet haben. Klassische Literaturrezensionen in der Zeitung wurden von einigen natürlich auch genannt, aber sie scheinen eindeutig nicht mehr der eine Königsweg zu sein, sondern eine Quelle unter vielen.

Was die Antworten meines Erachtens vor allem zeigen, sind zwei Dinge: Zum einen haben die Vertriebschefs und Marketing-Abteilungen von Random House, Hanser, Kiwi & Co. keine leichte Aufgabe; sie müssen ziemlich viele Kanäle bedienen und die Versendung von Rezensionsexemplaren an „usual suspects“ reicht schon lange nicht mehr. Zum anderen, und das ist für den Zusammenhang unserer Diskussion wichtiger: Trotz oder gerade wegen der übergroßen Anzahl verfügbarer Informationskanäle zum Thema Literatur scheint es einen großen Bedarf an Orientierung unter den Normallesern zu geben.

2. Empfiehl mir was!

Von Anfang an war daher klar für uns: Wir wollen ein Empfehlungsblog sein. Am reinsten kennt man dieses Konzept aus Elke Heidenreichs längst eingestellter Sendung „Lesen!“ Auch ich will den Zuschauern Bücher empfehlen, die mich persönlich gerade inspirieren. Aus grundsätzlichen Erwägungen könnte man hiergegen natürlich Einwände erheben: Kann das Literaturkritik sein, wenn einer hauptsächlich jubelt? Darauf würde ich antworten, ja das geht. Bücher, die mich langweilen oder die ich peinlich oder schlecht geschrieben oder trivial finde oder die ich erst gar nicht zu Ende gelesen habe, die erwähne ich eben nicht. Für die sind mir unsere 3-4 Minuten pro Buch zu schade. Es wäre interessant zu untersuchen, wie das eigentlich in den traditionellen Medien aussieht. Vielleicht verhält es sich hier gar nicht so anders: Nach meiner eigenen subjektiven Leseerfahrung würde ich sagen, dass auch hier die Anzahl der negativen Kritiken deutlich niedriger ist als die der positiven.

Tatsächlich kommt man aber mit diesem Konzept auch an seine Grenzen. Denn zum einen kann gerade so ein richtig böser Verriss besonders unterhaltsam sein und zum anderen ist es gar nicht so einfach, alle sechs Wochen für den Blog drei wirklich tolle Bücher zu finden, die einen wirklich so begeistert haben, dass man sie unbedingt vorstellen will.

3. Radikale Subjektivität

Unser Blog hat nicht den Aktualitätsanspruch oder gar den Überblicksanspruch der Literaturkritik in einem führenden Feuilleton. Unser Ziel ist es nicht, die am meisten diskutierten Bücher des Jahres vorzustellen. Wenn alle über den neuen Buchpreisträger reden, müssen wir das vielleicht gerade nicht machen. Das subjektive Moment, insbesondere was die Auswahl angeht, ist bei uns wichtiger als der Anspruch auf Vollständigkeit.

Unser Ziel ist es ganz schlicht, Zuschauer für Literatur zu begeistern und die Zahl der Stunden mit mäßig interessantem oder grässlich geschriebenem Junk Food zu minimieren. Wir versuchen zwar, auch Neuerscheinungen einzubeziehen, aber nur dann, wenn sie mich eben gerade interessieren. Aber von Anfang an wollten wir auch Lieblingsbücher vorstellen, und das können auch Romane des 19. Jahrhunderts sein. Interessanterweise bekommen wir gerade auf die Besprechung älterer Literatur größere Resonanz, weil die Zuschauer diese Werke anders als Neuerscheinungen kennen und daher ihren Geschmack oder ihr Urteil mit meinem vergleichen können.

4. Qualität

Wenn es um Literatur-Blogs geht, wird gern das Thema Qualität diskutiert, und zwar meist mit dem Zusatz Verflachung, reines Service-Geschreibe, Amazonisierung der Literatur etc. Das stimmt sicherlich in mancherlei Hinsicht, entscheidend ist aber, was der Anspruch des jeweiligen Blogs ist. Und da haben, nach meinem Dafürhalten, die wenigsten Blogs den Anspruch, die zeitgenössische Literatur, die sie vorstellen, in den Kontext der letzten 100 Jahre europäischer Literaturgeschichte zu stellen. Oder in einen medienkritischen oder sonst wie theoretischen Rahmen einzuordnen. Aber vielleicht kann man zu dem Urteil kommen, dass auch Literaturkritik diesem Anspruch nur noch begrenzt  gerecht wird.

Was unseren Blog angeht, haben wir aber dennoch einen Qualitätsanspruch: sowohl, was die Auswahl der vorgestellten Bücher angeht, als auch, was die nachvollziehbare Vorbringung von Argumenten betrifft. Allerdings ist die Situation in Videoblogs eine besondere: Die Komplexität des Arguments kann in 3-4 Minuten freier Rede gelegentlich leiden und wenn ich vor der Kamera dann nicht in der vorgegebenen Zeit spreche, fällt der eine oder andere Gedanke, der sich vielleicht auf die Raffinesse des Schreibstils eines Autors bezog, dem brutalen Schnitt meiner Kollegin zum Opfer.

Was die Maßstäbe selbst angeht, nach denen ich bewerte, bin ich als Blogger in keiner anderen Situation als der typische Literaturkritiker. Jeder Kritiker hat ja zumeist seine eigene, meist explizit nicht genannte Theorie, sein bevorzugtes Genre, seine Lieblingsepoche oder zumindest eine Liste von Lieblingsbüchern im Kopf. Und wenn ich in meinem Blog realistische Romane wie Fontanes „Stechlin“ oder Jane Austens „Pride and Prejudice“ als Lieblingsliteratur angebe und nicht den „Ulysses“ oder Friederike Mayröcker empfehle, dann weiß der vorgebildete Zuschauer, dass dieser Blogger im Zweifelsfall immer eher traditionell-realistische gebaute Literatur als experimentelle Avantgarde empfehlen wird. Und so gibt es auch auf den vielen Blogs, etwa zu Fantasy-Literatur, eine inhärente Qualitätslogik, mit der innerhalb des Genres Bücher von Fans bewertet werden.

5. Let me entertain you!

Belehrung oder Erziehung sind nicht das Ziel unseres Blogs, wir wollen unterhalten. Das gilt natürlich auch für traditionelle Literaturkritiken, kein Kritiker will bewusst seine Leser langweilen. Aber der Unterhaltungswille ist bei uns schon prominenter. Was überhaupt als Unterhaltung angesehen wird, hängt natürlich von den Zielgruppen ab. Ich selbst gehöre zu den Leuten, die eine gut geschriebene, intellektuell anspruchsvolle Langrezension – beispielsweise von Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung – für ausgezeichnete Unterhaltung halten. Aber ich weiß genau, dass das ein Minderheitengeschmack ist. Wenn ich also sage, wir wollen mit unserem Blog unterhalten, meine ich in Wirklichkeit, dass wir Leute erreichen wollen, die zwar gern Literatur lesen, aber vielleicht weniger gern Literaturkritiken und intellektuelle Essays. Bei der Literaturkritik im emphatischen Sinn ließen sich dagegen vermutlich viele Beispiele finden, bei denen sich die Kritik in erster Linie an andere Kritiker richtet.

Um den Unterhaltungscharakter zu steigern, haben wir unseren Blog – wie viele andere Blogger – mit zusätzlichen Aktivitäten „aufgetuned“. Irgendwann haben wir so aus einer Laune heraus den Persönlichkeitstest per Bücherschrankanalyse erfunden. Nach dem Motto: Zeige mir dein Bücherregal und ich sage dir, wer du bist! Da geht es nicht nur darum, was eine Leserin im Regal stehen hat, sondern wie sie es sortiert; oder wie ein Paar gemeinsam sortiert. Ich könnte mir vorstellen, dass wir den Blog noch weiter in diese Richtung entwickeln. Das Thema wäre dann nicht mehr nur Literaturkritik im engeren Sinne, sondern das wäre ein Blog über das Lesen mit Unterthemen wie Bücher sammeln, Bücher verschenken, Bücher sortieren, Leseverhalten etc.

6. Talking heads als visuelle Herausforderung

Wenn man schon in einem Video über Literatur spricht, sollte man die Vorteile dieses Mediums auch nutzen. Man muss nicht unbedingt gleich ein Sofa um die Welt schleppen, wie Herr Herles das in „Aspekte“ macht, oder sich im immer gleichen Jackett vor die immer gleiche Bücherwand setzen wie es Frau Radisch – deren Urteil ich ansonsten sehr schätze – in ZEIT-Videos tut. Das finde ich als Zuschauer auch zu langweilig. Eine Idee, die wir daher schon ab Folge 3 umgesetzt haben, war daher der Wohnungswechsel. Wir drehen in immer neuen Wohnungen, und zwar von Freunden oder Freunden von Freunden. Dadurch hoffen wir, den Blog nicht nur visuell interessanter zu machen, sondern auch den Charakter des Empfehlens unter Freunden zu verdeutlichen.

Denn eines darf man nicht vergessen: Wir stellen die Videos auf YouTube ein. Das ist visuell schon eine extrem anspruchsvolle Umgebung, in der man leicht abgelenkt wird. Daher müssen wir uns darum bemühen, dass das Video auch einen guten Look hat. Das gilt im Übrigen natürlich auch für viele Schreibblogs, die oft grafisch ausgesprochen aufwändig gemacht sind. Dass genau dieses Insistieren auf einer schicken Aufmachung schnell in den Verdacht mangelnder Ernsthaftigkeit gerät, muss ich sicher nicht extra erwähnen. Eigentlich gehört traditionell zur anspruchsvollen Literaturkritik die illustrationsfreie Bleiwüste als Form dazu. Das beste Extrembeispiel ist dafür sicherlich die „London Review of Books“.

Die starke Betonung des visuellen Aspekts schließt sich nahtlos an die folgende These an:

7. Meinungen brauchen ein Gesicht!

Wenn man mit gebildeten und literarisch interessierten Mitmenschen spricht, dann hört man häufiger Sätze wie „Ja, das neue Buch von Jonathan Franzen muss wirklich gut sein, das hat die Süddeutsche auch gesagt.“ Oder es wird die FAZ, die ZEIT und vielleicht auch noch der Deutschlandfunk als Qualitätssiegel herangezogen. Für akademisch vorbelastete Leser scheinen die traditionellen Brands noch zu funktionieren. In den allermeisten Fällen würden deren Leser aber nicht sagen können, wer den Artikel geschrieben hat. Leitmedien-Leser identifizieren sich mit einer institutionellen Marke, sie identifizieren sich seltener mit einem bestimmten Kritiker.

Das scheint mir einer der zentralen Unterschiede der Literaturkritik im Print verglichen mit Fernsehjournalismus, aber auch Videoblogs zu sein. Niemand würde sagen: „Das neue Buch von Hornby wurde in der ARD verrissen!“ Sondern man würde immer sagen: „Denis Scheck fand Hornby furchtbar trivial.“ Diese Aufwertung der Person des Kritikers scheint mir relativ neu zu sein. Im Fernsehen gab es das zum ersten Mal in der Form mit dem Literarischen Quartett und in den Video-Blogs wird dies konsequent weiter gedacht. Die Glaubhaftigkeit der Literaturkritik beruht in diesem Fall nicht auf der Verlässlichkeit des Mediums oder der vorgetragenen Argumente, sondern auf dem Vertrauen zu der Person. Der Leserin kann sich sozusagen eine virtuelle beste Freundin suchen, die ihre Führerin durch die unüberschaubare Bücherwelt wird. Wir haben unseren Blog daher am Anfang ironisch „Dein literarischer Eskortservice“ genannt.

8. Hoch lebe der Diskurs!

Lesen ist ja, wenn man nicht gerade beruflich Teil der Literaturszene ist, sei es als Buchhändler, Lektor oder Kritiker, ein einsames Geschäft. Wieviele hundert Bücher habe ich in meinem Leben schon still vergnügt gelesen, ohne mich mit irgendeinem Menschen anschließend darüber unterhalten zu haben? Die vielleicht größte positive Erfahrung der letzten drei Jahre – und eine, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte – ist die Tatsache, dass ich durch das Bloggen Teil einer Community von Lesern geworden bin. Seitdem ich den Blog mache, werde ich nicht nur über Facebook oder auf dem Blog, sondern auf jeder Party und selbst in Besprechungsterminen der Universität auf Literatur angesprochen.

Mein Eindruck ist der, dass diese Hunderte, zum Teil ziemlich obskuren Vorlieben gewidmeten Literaturblogs Plattformen sind, auf denen Leser sich tatsächlich gegenseitig finden, miteinander reden und austauschen. Für mich ist diese Freude am Diskurs über Literatur die aufregendste Erfahrung der letzten Jahre; da gibt es einen in jeder Hinsicht wunderbaren Aufschwung des Über-Literatur-Redens.

Jeder kann mit seinem literarischen „special interest“ Gleichgesinnte finden, und zwar egal, ob er in einem kleinen Dorf oder in einer Großstadt lebt. Durch Blogs und kommerzielle Plattformen werden so Fan-Communities für diverse Genres und literarische Parallelwelten geschaffen. Aus einer Einbahnstraße der Kommunikation ist ein multidirektionales Netzwerk geworden und zwar mit Akteuren, die früher – außer im engsten persönlichen Umfeld – nie die Möglichkeit gehabt hätten, miteinander über Literatur zu diskutieren, geschweige darüber zu schreiben.

An dieser Stelle muss ich mich outen: In grauer Vorzeit, bevor ich endgültig ins Wissenschaftsmanagement gewechselt bin, habe ich selbst nebenberuflich zwei Jahre lang Rezensionen für die Literarische Welt geschrieben. Das war ein vergleichsweise solipsistisches Geschäft, Feedback gab‘s nur vom Redakteur. Diese Form von Rückkoppelung, die ich jetzt erfahre, habe ich damals nie erlebt.

9. Kann man denn davon leben?

In der ZEIT vom 15.1.2015 gab es einen interessanten Artikel über Modeblogger mit dem Titel: „Kann man denn davon leben?“

Die Antwort auf diese Frage war überraschend: Von den geschätzt 5000 Modebloggern in Deutschland können angeblich inzwischen an die 200 von ihren Einnahmen leben. Im Modebereich haben also die Blogs sich nicht nur einen Teil der Autorität der Modemagazine, sondern auch einen kleinen Teil vom kommerziellen Kuchen einverleibt. Für die Literaturbranche gilt das so sicher nicht, denn der kommerzielle Kuchen ist dort ja auch unendlich kleiner als in der Modebranche.

Ob in der Literaturbranche überhaupt irgendjemand allein vom Bloggen leben kann, kann ich nicht beurteilen. Die erfolgreichste Bloggerin, die mir bekannt ist, heißt Andrea Kossmann und betreibt „Kossi’s Welt“.

Das ist eine Kombination aus traditionellem Blog und Videoblog. Kossi hat bei Youtube mehrere Hundert Videorezensionen eingestellt, über 13.000 Follower gesammelt und mehrere Millionen Klicks in insgesamt 9 Jahren erhalten. Rund um ihr Kernprodukt Buchrezensionen hat sie eine Wohlfühlwelt aufgebaut, in der auch noch Tee, Schmuck, Sport, Katzen und von ihr selbstironisch so genannter „Tussikram“ eine große Rolle spielen. Ich vermute, dass sie den sehr professionell gemachten Blog Vollzeit betreibt und über die auf der Seite untergebrachten Shops, in denen man Dinge bestellen kann, auch davon leben kann.

Was unseren eigenen Blog angeht, haben wir noch kein Geschäftsmodell. Noch ist das ein Hobby, bei dem nur der immaterielle Gewinn hoch ist. Ich vermute, dass das für die meisten Literatur-Blogs gilt. Man könnte den Blog sicher als Werbeplattform attraktiver machen, wenn man sehr viel Zeit in Vernetzungsoptimierung steckt und die Frequenz der Beiträge deutlich steigert. Dennoch würde ich bezweifeln, dass man mit Literaturbesprechungen auch nur in die Nähe von YouTube-Stars kommen kann, die mit Schminktipps große Fan-Gemeinden gewinnen und hohe Klickzahlen erreichen.

Meine Mistreiterin Sonja und ich hätten überhaupt nichts dagegen, uns von unserem Hobby finanzieren und uns von einer Medienplattform unter Vertrag nehmen zu lassen. Insofern sind wir für alle Vorschläge aus Ihrer Runde mehr als dankbar. Aber zentral wäre dabei natürlich, dass die Integrität des Blogs gewährleistet bleibt. Das ist ja etwas, was zum Beispiel anscheinend für die eher kommerziellen Modeblogs so nicht gilt.

10. Was bringt die Zukunft?

Wird in Zukunft die Literaturkritik im Sinne einer intellektuell ambitionierten Kultur- und Ideologiekritik einen großen Einfluss darauf haben, was die Mehrheit der Leser liest? Ich würde sagen, nein, bestimmt nicht. Auch in der Vergangenheit haben ja „Die Wanderhuren“, „Fifty Shades of Grey“ oder die unzähligen „Vampirromane“ locker ihr Publikum gefunden, selbst wenn die Kritik nachweisen konnte, wie unsäglich schlecht geschrieben oder trivial oder klischeehaft diese Bücher sind.

Wird in Zukunft diese akademisch geschulte Literaturkritik überleben als ein Ort, an dem die Frage nach Sinn, Zweck und Form der Literatur grundsätzlich gestellt wird und Zuordnungen von literarischem Wert vorgenommen werden? Diese Frage würde ich genau so emphatisch bejahen.

Literaturkritik in ihrer ausgeprägt elitären Form wird in Zukunft noch stärker als bisher ein literarisches Nischenprodukt sein, das Spezialinteresse einer kleinen Minderheit, für das es Connaisseurs gibt wie für „Gothic Fantasy“ oder „Regionalkrimis“. Diese kleine Expertengruppe freut sich darauf, angesichts der neuesten kritischen Gesamtausgabe von Benjamins Werken lange Essays über die Frage nach der Authentizität des Kunstwerks zu lesen. Sie wird sich weiter über drei, vier Leitmedien Feuilletons und hochspezialisierte intellektuelle Journale ähnlich der bereits genannten „London Review of Books“ verständigen und sicherlich auch Plattformen im Netz entwickeln. Vermutlich behält diese Gruppe auch ihre Deutungshoheit über den Kanon, insbesondere in Form der Verteilung von Literaturpreisen. Dadurch bleibt sie zumindest teilweise in ihrer wichtigen Position als Korrektiv zum Markt.

Aber welche Bücher tatsächlich Leser finden werden, wird in einem Diskurs entschieden, in dem die Netzwerke von emanzipierten Lesern – auf Blogs, in Lesegruppen und in den vielfältigen Formen der „social media“ – eine immer wichtigere Rolle spielen. Und beides – die eher elitäre Kritik wie die zahlreichen Genre- und Fandiskurse von Lesern – haben gleichermaßen ihre Berechtigung. Mit dem Blog „Herbert liest“ fühle ich mich in mancherlei Hinsicht durchaus den Idealen der traditionellen Literaturkritik verwandt, versuche aber, diese in ein neues Medienzeitalter zu tragen und dadurch zum neuen Diskurs der Enthusiasten beizutragen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser im Rahmen des XX. Mainzer Kolloquiums des Instituts für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität am 30.1. 2015 zum Thema „Das Ende der Literaturkritik?“ gehalten hat.