Das deutsche Judentum

Eine moderne Tragödie

Von Jakob HessingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Hessing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leo Baeck Institut, nach dem letzten großen Rabbiner des deutschen Judentums in den Jahren seiner Vernichtung genannt, wurde bald nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. An drei Zweigstellen - in New York, London und Jerusalem - erforscht es die Diaspora, die von der Französischen Revolution bis ins frühe 20. Jahrhundert den hoffnungsvollen Beginn einer modernen jüdischen Existenz zu bezeichnen schien. Im Auftrag des Instituts legt ein internationales Autorenteam jetzt vier umfangreiche Bände vor, in denen Juden und Nichtjuden aus Israel und der Bundesrepublik, aus Amerika und England der deutsch-jüdischen Begegnung in ihrer Komplexität und Dialektik, ihrer Zweideutigkeit und Tragik gerecht zu werden versuchen.

Mit Katastrophen ist das jüdische Kollektivgedächtnis nicht unvertraut. Schon bald nach der Landnahme wurden zehn der zwölf Stämme Israels von den Assyrern deportiert und blieben verschollen; wenig später verlor der Restbestand des Volkes seine nationale Unabhängigkeit, als er in die Babylonische Gefangenschaft geriet; und die Römer eroberten Jerusalem zu Beginn der christlichen Zeitrechnung, trieben die Juden ins Exil. Begleitet indessen wurde dieser tausendjährige Niedergang, der von der Höhe des salomonischen Zeitalters zur Tempelzerstörung führte, von einer einzigartigen Chronik: Die Bibel erzählte den Leidensweg des Gottesvolkes als Heilsgeschichte und gab den Juden damit eine seelische Heimat, in der sie sich geistig immer wieder regenerierten und die dunkelsten Tage der Verfolgung überlebten.

Auch das deutsche Judentum, das sich seit dem Austritt aus dem Ghetto unaufhaltsam säkularisierte und von seinen religiösen Wurzeln entfernte, hat die heilsgeschichtliche Komponente seines Selbstverständnisses nie ganz aufgegeben. Heinrich Graetz, der große Historiker im 19. Jahrhundert, hat seiner Geschichte des jüdischen Volkes die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Theokratie eingeschrieben; der Philosoph Franz Rosenzweig, ein Schüler Friedrich Meineckes, hat sich am Vorabend des Dritten Reiches um die Rekonstruktion eines metaphysischen Judentums bemüht; und Gershom Scholem, der die Illusionen der deutschen Juden vehement ablehnte, hat das verdrängte Geisteserbe seines Volkes nicht zufällig in der mystischen Theodizee der Kabbala entdeckt. Aber mit dem unvorhersehbaren Ende, das die Welt des deutschen Judentums in Auschwitz fand, haben alle denkbaren Ansätze einer rückwirkenden Sinnstiftung ihren Boden verloren. Das ist die Voraussetzung, mit der sich die Autoren an das vorliegende Werk gemacht haben: Sie zeigen die Geschichte dieses Judentums als das Scheitern eines großen Versuches, als das Paradigma einer Tragödie, die in der Moderne immer mit angelegt war.

Die Dichotomie, der die Heilsgeschichte schließlich zum Opfer fallen wird, ist schon im ersten Band sichtbar. Zwei Autoren, beide aus Jerusalem, schreiben über die Zeit zwischen 1600 und 1780 und tragen ihren jeweils verschiedenen Standpunkt an diese Periode heran, in der sich das mitteleuropäische Judentum auf einen neuen Weg begibt.

Mordechai Breuer, aus orthodoxem Hause und Verfasser einer Geschichte der deutsch-jüdischen Orthodoxie, weiß um den Preis, den die Moderne der Tradition abgefordert hat. Seinen ausführlichen Prolog über das jüdische Mittelalter beendet er mit einem Blick auf Polen, wo die Westjuden Jahrhunderte später nach ihren verlorenen Wurzeln suchen werden. »Im Osten« - so schreibt er, bevor er sich der frühen Neuzeit und ihren für die Orthodoxie problematischen Entwicklungen zuwendet - »erstarkte das polnische Judentum mit seiner Vierländervertretung, seinen Lehrhäusern und seinem sich kräftig heranbildenden minhag (Brauchtum).«

Den Weg, den das Judentum jenseits der polnischen Westgrenze geht, verfolgt Breuer mit Ambivalenz. Schon die Ost-West-Spaltung selbst entspringt einer Entwurzelung: Sie ist im Trauma der Pogrome begründet, in denen der Kosakenführer Bogdan Chmielnicki 1648 einen großen Teil der ukrainisch-polnischen Judengemeinden vernichtet und damit eine beispiellose Fluchtbewegung auslöst. Nun müssen die Juden sich in der Welt der Territorialstaaten zurechtfinden, die aus dem Dreißigjährigen Krieg hervorgegangen ist, einem zentralistischen, dem Absolutismus zustrebenden System, das alles dem Gesetz des Landesherrn unterwirft und so die jüdische Gemeindeautonomie unterhöhlt. Aus orthodoxer Sicht liegt hier die Wurzel allen Übels, denn das halachische Judentum ist eine Gesetzesreligion, und die Unterwerfung unter ein fremdes Gesetz muß früher oder später zu seiner Auflösung führen.

An diesem Punkt - an der Grenze zur Moderne, die mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ihren Anfang nimmt - beendet Breuer seine Einführung in die Neuzeit. Die Welt, in der die jüdische Tradition schließlich ihren Primat verlieren wird, beschreibt der Historiker Michael Graetz. Den Bewußtseinswandel, der nun stattfindet, stellt er positiv dar, aber Ambivalenz auch hier. Sie liegt in der Person des Mannes, den man als den geistigen Vater des deutschen Judentums bezeichnen darf. Wie viele klassische Gestalten steht auch Moses Mendelssohn (1729-1786) janusköpfig an einer Zeitenwende und hält in sich noch einmal die auseinanderstrebenden Kräfte zusammen, die schon in der nächsten Generation zum Bruch führen müssen. Kurz vor der Französischen Revolution, ehe die Dialektik der Aufklärung zum erstenmal ihr drohendes Gesicht zeigen wird, ist er bereit, das Naturrecht anzuerkennen, das aus dieser Aufklärung erwächst, und er gibt damit die Autonomie der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde preis; zugleich aber hält er als gläubiger Jude an den Handlungen eines überlieferten Rituals fest, in denen das Gottesvolk seine eigene Aufklärung erfahren hat. Für Mendelssohn sind es die unverzichtbaren Symbole der Heilsgeschichte, die er auch in eine säkularisierte Welt hinüberretten will.

Es ist eine Gratwanderung, die seine Nachfahren nicht durchhalten werden. Die nächsten anderthalb Jahrhunderte dienen dem Versuch, das Gegenläufige zusammenzuschweißen, und die folgenden Bände zeichnen die Wendepunkte und Bruchstellen dieses Versuches nach. Wie schon in ihrer Geburtsstunde, als die Aufklärer Lessing und Mendelssohn Freundschaft schlossen, ist die deutsch-jüdische Begegnung immer ein kulturelles Ereignis gewesen. Im zweiten Band, der die Zeit bis zu Bismarcks Reichsgründung umfaßt, wird daher nicht zufällig ein altes Schlagwort verabschiedet. »Der Begriff ›Assimilation‹, mit dem Historiker traditionell diese Periode kennzeichneten«, schreibt Michael Brenner, als jüngster der Autoren 1964 schon im Nachkriegsdeutschland geboren, »wird mit zunehmender Vorsicht gebraucht.« Ursprünglich stammt das Wort aus der Biologie, es deutet schon die neue Art des rassistischen Antisemitismus an, dem das deutsche Judentum schließlich erliegen wird. Brenner dagegen rückt nicht die Selbstaufgabe, sondern die Neudefinition dieses Judentums in den Mittelpunkt und zieht deshalb den Begriff der »Akkulturation« vor. Er impliziert für ihn nicht ein einseitiges Aufgehen innerhalb der deutschen Gesellschaft, sondern den Versuch, »sowohl an der jüdischen wie an der deutschen Kultur und Gesellschaft teilzuhaben«.

Auch der Leiter des Gesamtprojektes, Michael A. Meyer vom Hebrew Union College in Cincinnati, betont die traditionellen Bindungen, die das jüdische Leben in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert bestimmt haben - ein konservativer Zug, der durch das Scheitern der Revolution des Jahres 1848 noch verstärkt wird und bis in die Gründerzeit des Bismarckreiches sichtbar bleibt. »Juden, die aufgewachsen waren in der überlieferten jüdischen Umwelt«, schreibt er, »vor allem aber ihre religiösen Führer, innig vertraut wie sie waren mit der Welt der traditionellen jüdischen Gemeinschaft, gaben nicht willig die geheiligten Bräuche der Vorväter preis, mochten die Modernisten, die unter ihnen aufstanden, sie auch unvereinbar finden mit der veränderten Wirklichkeit einer fortgeschrittenen Emanzipation und Akkulturation.«

Ihre Probe hätte diese auch das Fremde integrierende Akkulturation bestehen müssen, als erstmals sinnvoll von einem »Deutschland« die Rede sein konnte, also nach 1871. Im dritten Band aber weist der Historiker Steven M. Lowenstein aus Los Angeles auf eine entscheidende Phasenverschiebung hin: Nach dem überragenden Beitrag Heinrich Heines zur deutschen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten namhafte jüdische Schriftsteller erst wieder seit den neunziger Jahren hervor. »Die jüdische Teilhabe an der deutschen Kultur«, schreibt er, »wurde genau zu dem Zeitpunkt am bedeutendsten, als - in den Jahren nach 1890 - die antisemitische Ablehnung von Juden in der Kultur stärker wurde; demgegenüber war sie in der früheren, liberaleren Epoche viel bescheidener gewesen.«

Lowensteins Marginalitätsthese hat manches für sich. Zu ergänzen wäre, daß die im zweiten Band vertretene Akkulturation ihre Voraussetzung in eben dieser frühen liberalen Weltanschauung hatte und daß der Niedergang des Liberalismus nicht nur die Juden traf. Die gescheiterte Revolution des Jahres 1848 machte mit dem jüdischen auch das deutsche Bildungsbürgertum mundtot; nicht nur die jüdischen, sondern auch die deutschen Intellektuellen - allen voran Friedrich Nietzsche - argumentierten seither aus einer Randstellung; und die gesamte von Deutschen und Juden geschriebene Literatur, die schließlich im Expressionismus gipfelte, war eine kulturelle Protestbewegung marginalisierter Autoren.

Eine Folgeerscheinung des gescheiterten Liberalismus war die Rückbesinnung vieler deutscher Juden auf ihre Wurzeln. Seine politische Seite hatte das in der 1897 gegründeten zionistischen Bewegung; kulturell kam es seit der Jahrhundertwende in der von Martin Buber initiierten Jüdischen Renaissance zum Ausdruck. An einem kontroversen Text macht der Jerusalemer Buberforscher Paul Mendes-Flohr sichtbar, wie sehr die versuchte Annäherung inzwischen schon zur kulturellen Konfrontation geworden ist. Im Jahre 1912 veröffentlicht der jüdische Publizist Moritz Goldstein im "Kunstwart" - nicht zufällig eine konservative Zeitschrift, die bereit ist, die unterschwellige Ablehnung der Juden zur Sprache zu bringen - seinen Artikel "Deutsch-jüdischer Parnaß" und benennt das Dilemma, in dem sich die akkulturierten Juden befinden: »Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht. Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz undeutsch.«

Der Erste Weltkrieg verschärft die hier aufbrechenden Identitätsfragen noch, und in den zwanziger Jahren stehen sie dann im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Im vierten Band zeichnet Mendes-Flohr das Bild der deutsch-jüdischen Intellektuellen auf dem Hintergrund einer polarisierten Gesellschaft. Die Weimarer Republik gibt ihren Außenseitern eine seltene Gelegenheit, das kulturelle Profil der Zeit mitzugestalten, und der Autor arbeitet die Wiederkehr des Verdrängten heraus, die heilsgeschichtliche Komponente im Denken deutscher Juden, die die Neue Linke in der Bundesrepublik später nie im jüdischen Kontext rezipiert hat. »Walter Benjamin und Ernst Bloch waren bestrebt«, so schreibt er, »an die Stelle von Sozialkritik und marxistischem Diskurs religiöse Konzepte zu setzen, besonders eschatologische Hoffnung und Erlösung, denen ihrer ganzen Natur nach eine einzigartige dialektische und daher politisch schöpferische Macht innewohne, die den von ihren Kollegen bevorzugten rationalen, analytischen Kategorien unerreichbar sei.«

Daß die jüdischen Intellektuellen der Weimarer Republik ihr politisches Wunschdenken nur noch heilsgeschichtlich formulieren konnten, lag nicht allein an den schrillen Tönen, mit denen sich der Nationalsozialismus in den zwanziger Jahren ankündigte. Der Blick auf das Gesamtwerk dieser vierbändigen Darstellung macht deutlich, daß Deutschlands Juden in jeder Phase ihrer Geschichte zur kollektiven Ohnmacht verurteilt waren, und schon der zweite Band läßt daran keinen Zweifel.

Dort handelt die Berliner Historikerin Stefi Jersch-Wenzel von der Rechtslage der Juden zwischen 1780 und 1847 und macht sie als Spielball übergeordneter Bürokratien sichtbar. Die Juden besaßen keine politische Handlungsfreiheit, und Jersch-Wenzel schreibt daher auch keine jüdische Geschichte im eigentlichen Sinne, sondern nur eine Geschichte der jüdischen Frage, wie sie sich aus den historischen Akten einer feudalen Verwaltung ausnimmt. Dieser Aktenbestand aber diente einer völlig anderen Perspektive. Er wurde nicht angelegt, um ein jüdisches, sondern um ein deutsches Selbstverständnis zu belegen; und dieses Selbstverständnis, das zeigt die Zukunft dann in aller Schärfe, hat dem Jüdischen niemals Raum gegeben.

Für die Periode zwischen 1848 und 1871 muß auch Michael Brenner, der seinen Beitrag bewußt unter den Begriff der Akkulturation stellt, eine nur unvollständige Integration der deutschen Juden konstatieren. Als Gruppe erfahren sie nun zwar einen rapiden wirtschaftlichen Aufstieg, und einige von ihnen finden auch als Abgeordnete, zumeist aus dem nationalliberalen Lager, den Weg in die Parlamente. Aber das Gründungsjahr des Bismarckreiches bezeichnet nur die Ruhe vor dem Sturm. »Auf jüdischer Seite herrschte am Ende der Epoche im allgemeinen eine optimistische Stimmung«, faßt Brenner seine historische Momentaufnahme zusammen. »Noch hatte man keine antisemitischen Parteien gegründet.«

Diesen Antisemitismus, wie er sich nach 1880 als politisches Programm entfaltet, stellt Peter Pulzer aus Oxford dar. Auch er blickt dabei noch einmal auf die Wendepunkte 1848 und 1871 zurück und schält eine latente Dialektik heraus, die die Zeit bestimmt: »So wie die Revolutionen von 1848 die jüdische Emanzipation in Mitteleuropa auf die Tagesordnung brachten, bestimmten sie auch das Repertoire des Antisemitismus. Und so wie die formelle Emanzipation weitere zwanzig Jahre lang auf sich warten ließ, schlummerte auch der Antisemitismus als lebensfähige politische Kraft noch fast eine Generation lang. Und doch war alles, was in den antisemitischen Kampagnen nach 1880 und 1890 gängige Münze war, bereits 1848/49 gesagt worden.«

Ironie der Geschichte: Im Zeitalter des Liberalismus hatten sich die Juden auf der Seite einer Gesellschaft gewähnt, die für ihre politische Emanzipation kämpfte; als es dann aber soweit war, als Deutschland entstand und auch die Juden Deutsche werden wollten, wendeten ihre ehemaligen Streitgenossen, nun zu Staatsbürgern mutiert, das Blatt gegen sie. Man erfand das Wort »Antisemitismus« - der radikale Journalist Wilhelm Marr hat es geprägt - und schmiedete den alten Judenhaß zur politischen Waffe um.

Die Juden haben versucht, dem entgegenzuwirken. Aber es standen ihnen nur die beschränkten Mittel einer sozialen Minderheit zur Verfügung. 1893 gründeten sie den CV, den »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, eine Organisation öffentlicher Selbstwehr, deren Name eine weitere Dialektik andeutet: Im Zeitalter politischer Ausgrenzungen mußte gegen Juden, die sich in erster Linie als »deutsche Staatsbürger« definierten, eine interne Opposition erwachsen, und vornehmlich im zionistischen Lager ist dies dann auch geschehen.

Das keineswegs monolithische Gesellschaftsgefüge der Juden im wilhelminischen Deutschland wird von der Hamburger Historikerin Monika Richarz analysiert. Sie macht auf die ausgeprägte Klassenstruktur der in West- und Ostjuden gespaltenen Gemeinden aufmerksam und stellt mit der jüdischen Frauenbewegung auch eine ihrer weniger bekannten Facetten dar.

Es ist sicher kein Zufall, daß die letzten Kapitel dieser deutsch-jüdischen Geschichte von einem israelischen Autor verfaßt sind. Vor der nationalsozialistischen Bedrohung, die gegen Ende der Weimarer Republik immer spürbarer wurde, suchte der CV den Schutz der Regierung, und der Wirtschaftshistoriker Avraham Barkai vom Jerusalemer Leo Baeck Institut schildert zunächst das Dilemma der Zionisten, die sich nicht mehr als Deutsche empfanden und der Politik des Landes als unbeteiligte Fremde gegenüberstehen wollten. »Die Verschärfung der gegenseitigen Angriffe gerade zu dieser Zeit«, schreibt er über das gespannte Verhältnis zwischen CV und Zionisten, zwischen »deutschen« und »jüdischen« Juden, »mag teilweise auf die aktuellen, besonders scharfen Wahlkämpfe in der Berliner Gemeinde zurückzuführen sein. Aber entscheidender war wahrscheinlich, daß die Krise der jüdischen Existenz in Deutschland die ideologischen Differenzen in der deutschen Judenheit auf die Spitze trieb, bevor sie sie zu gegenseitigem Entgegenkommen und zur Zusammenarbeit zwang.«

Mehr als manches andere ist es vielleicht diese Rede von der Zusammenarbeit, die die Tragik der nun folgenden Katastrophe unterstreicht. Die Todfeinde der Juden, die Nationalsozialisten, zwingen ihnen das längst verlorene Kollektiv auf. 1933 nehmen sie eine makabre Gleichschaltung vor, schaffen die »Reichsvertretung« der Juden, nennen sie 1939 in »Reichsvereinigung« um - ein zentrales Organ, in dem sie erstmals zu politisch Handelnden werden, die aber nicht ihre Zukunft, sondern ihr Ende besorgen: Handlanger der Mörder, die ihre Opfer administrativ erfaßt haben und sie nun zu den Vollstreckern des eigenen Todesurteils machen.

»Als die systematischen Massendeportationen begannen«, schreibt Barkai, »waren die jüdischen Funktionäre so weit in den Prozeß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik eingebunden, daß sie über keine eigene Entscheidungsfähigkeit mehr verfügten. Sie konnten - zu Recht oder Unrecht, wer kann sie heute richten? - ihre Handlungen damit rechtfertigen, daß die noch verbliebenen jüdischen Menschen weiterhin betreut und versorgt werden müßten. Diese Aufgabe konnten sie, wie bisher, nur durch ihre weitere Tätigkeit in den bestehenden, von der Gestapo geduldeten und kontrollierten Institutionen erfüllen. Auch nach dem Beginn der massenweisen Deportationen im Herbst 1941 erfüllten sie sie noch fast zwei Jahre hindurch.«

Der Blick, den Barkai auf das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte wirft, ist zwiespältig. Er weiß keine Antwort auf die Fragen, die hier offenbleiben müssen, und vor dem Unsagbaren verstummt er. Obwohl ein Teil der Autoren im heutigen Deutschland lebt, endet diese Geschichte mit dem Jahr 1945. Ihr letztes Kapitel trägt den Titel »Die deutsch-jüdische Diaspora« und klingt im Schlußakkord der Vertreibung aus. Auf die Darstellung des deutschen Judentums in der Gegenwart wird verzichtet.

Titelbild

Michael A. Meyer (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. 4 Bände.
Verlag C.H.Beck, München 1996.
1640 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3406397050

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Titelbild

Michael Brenner / Steffi Jersch-Wenzel: Emanzipation und Akkulturation 1780-1871.
Verlag C.H.Beck, München 1996.
402 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397034

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Titelbild

Mordechai Breuer / Michel Graetz: Tradition und Aufklärung 1600-1780.
Verlag C.H.Beck, München 1996.
390 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397026

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Titelbild

Avraham Barkai / Paul Mendes-Flohr: Aufbruch und Zerstörung 1918-1945.
Verlag C.H.Beck, München 1997.
420 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397069

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Titelbild

Steven M. Lowenstein / Paul Mendes-Flohr: Umstrittene Integration 1871-1918.
Verlag C.H.Beck, München 1997.
428 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3406397042

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